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Ansgar Sadeghi
Der griesgrämige Herr Butzemann
ОглавлениеDies sind die ersten Seiten des Tagebuchs von Bartholomäus Butzemann. Der ausrangierte Nachtmahr und zum Clown gewordene Kinderschreck ist neuer Bewohner der Residenz. Falls Sie einige Zeilen in seinem Tagebuch als Worte eines frustrierten Griesgrams empfinden: Sie haben wahrscheinlich recht.
Die Ankunft
Das ist also mein Ende, die letzte Lebensetappe: eine Residenz im Nichts. Das Nichts liegt im äußersten Nordwesten Schottlands am kleinen und einsamen Ort Shegra. Ich bin jetzt ein Bewohner der Residenz. »Das sei besser so«, meinte mein Manager nach meinem Nervenzusammenbruch. Ich hätte genug gearbeitet. Es sei Zeit für die Rente. Er habe nur Gutes im Sinn. Klar. Mein Geld zum Beispiel.
Die Residenz kommt mir vor wie ein überdimensionierter Schuhkarton, eine Aufbewahrungsbox für hässliche Nutzlosigkeiten, ein Restedepot für abgehalfterte Monster. Das Gebäude ist angemessen reich verziert. Schließlich ist diese Altersresidenz weltweit bekannt und beliebt. Für mich bleibt sie ein Schuhkarton. Vielleicht ist sie etwas besser als die Schulen und Kindergärten, in denen ich im Kreis herumgetanzt bin, weil ein Butzemann nun einmal im Kreis herumtanzt. EIN BUTZEMANN IST EIN KINDERSCHRECK! Keine Witzfigur. Kein Wunder, dass man irgendwann zusammenbricht.
Mein feiner Herr Bruder arbeitet erfolgreich als Horrordarsteller in den USA: der »Bogeyman«. Mein bescheuerter Bruder, der sich mit sechs Jahren noch eingenässt hat, der, blöde Grimassen schneidend, gegen den Laternenpfahl gelaufen ist und der sich vor Zwergkaninchen fürchtet. Mein toller Bruder. Ich mag ihn NICHT. Ich mag ihn wirklich nicht.
Doktor Lazarus habe ich bei meiner Ankunft in der Residenz nicht gesehen. Ist wohl zu beschäftigt, die berühmte Koryphäe. Polt Menschen und Monster um, verwandelt Bischöfe in Satanisten und Kannibalen in Veganer. Toll! Toll! Toll! Ausgerechnet er leitet die Residenz. Der soll versuchen, mich umzupolen, der Gute. Dann gibt es was auf die Mütze! Das schwöre ich. Persönlich begrüßt hat mich der Manager der Residenz, was mich gefreut hat (nicht!). Er war so freundlich wie ein Metzger, der ein Schwein willkommen heißt. Komm rein. Fühl dich wie zu Hause. Du siehst lecker aus, du Kotelett. Er hat gemerkt, dass ich mich unwohl fühle. »Sie gewöhnen sich schnell ein«, meinte er jovial. »In einigen Tagen werden Sie die Residenz lieben.« Klar. Ich liebe ja auch Jauchegruben. Und Fußpilz. Und Mundgeruch.
Es ist nicht schlimm in der Residenz. Es ist schlimmer.
Mittlerweile sind einige Tage vergangen. UND? ICH WILL RAUS! Alle sind schrecklich vornehm. Dieser Graf aus Rumänien beispielsweise, der wohltemperierte blutige Steaks liebt, diese Wind-, Wald- und Feuergeister, überzeugt von eigener Großartigkeit, dieser Basilisk, der sich für den König aller Schlangen hält. Gott! Das ist nicht meine Welt: zu viel Noblesse. Zu wenig Dreck. Matsch. Moder. Morast.
Alles hier ist kompliziert. Gestern hätte ich draußen fast eine Fee erschlagen, weil ich sie für eine Motte gehalten habe. »Das ist Pit«, sagte mir später ein alter Mann. PIT! Kann ich etwas dafür, dass diese Fee derart klein ist und wie eine Motte aussieht? Gegen sie bin selbst ich ein Riese. Und dann diese Tomaten. In einer Ecke des Geländes wachsen Tomaten in einem kleinen Gewächshaus und ich hätte fast … fast hätte ich eine gepflückt. Aber bevor ich zugreifen konnte, schrie sie mich an: Ich solle es nicht wagen. Ansonsten mache sie Ketchup aus mir. Sie sei eine berühmte Schauspielerin und verdiene Respekt. Klar! Ich habe nachgeschaut: C-Movie mit D-Promis. Killertomaten. Furchtbar. Alles sehr furchtbar. Und es regnet hier unaufhörlich, als wollte Gott den Ort ersäufen. Ich verstehe das, Gott. Aber bitte: Es nervt. Hör auf!
Bisher habe ich nur wenige Residenzbewohner kennengelernt. Da ist diese kleine Frau. Sie ist kleiner als ich. Nicht so klein wie die Elfenmotte. Aber sehr klein. Sie kam auf mich zu und erzählte mir ungefragt, als ob es mich interessieren würde, dass sie ein Holzfräulein sei. Oh, wie schön. Ein Holzfräulein. Was für ein bescheuerter Name. Dann fragte sie mich, ob ich sie sehe. Natürlich habe ich »Nein« gesagt. Da zuckte sie zusammen, schnitt ein Gesicht, als würde sie losheulen, und zog von dannen. Holzfräulein. Ernsthaft? Jemand erzählte mir, sie entstamme der fränkischen Sagenwelt und sei bisweilen traurig, weil niemand mehr an sie glaube. Ich solle einfach sagen, dass ich sie sehe. »Sie freut sich darüber.« Einen Teufel werde ich tun.
Franky ist interessant. Wie dieses Holzfräulein ist er verrückt. Merke: Monster im fortgeschrittenen Alter neigen dazu, absonderlich zu werden (Butzemänner ausgenommen!). Franky wohnt seit vielen Jahren in der Residenz und ist ein Frankenstein-Monster. Ich dachte, dass es nur eins gibt. Aber es wurden mehrere produziert. Franky gehört zur Serie 4.2.1. »Wir besitzen eine verbesserte Laufleistung und rudimentäre Schweißdrüsen«, sagte er mir. Ernsthaft. Wer braucht das? Welcher bescheuerte Produktdesigner verpasst einem Monster Schweißdrüsen?
Aber das Beste kommt noch: FRANKY GLAUBT, ER SEI EINE ELFE! Kann man sich das vorstellen? Zwei Meter zwanzig groß, ein wandelnder Schrank mit Kantenschädel. Aber er ist davon überzeugt, eine zarte, zierliche Elfe zu sein. Er hasst Spiegel. Verwundert das? Mich nicht. Er erschrickt jedes Mal, wenn er in einen Spiegel schaut. Was er sieht, passt nicht zu dem, was er sehen möchte. Verwundert das irgendwen? Na ja, er ist O. K. Und ein wandelnder Blog, der viel über die Bewohner der Residenz weiß: fast alle Wahrheiten, Halbwahrheiten, angeblichen Wahrheiten, Verschwörungstheorien, fast allen Klatsch und Tratsch und Trallala. Fast ALLES.
Dann ist da noch diese Todesfee, diese dünne, fast dürre Frau namens Elodie mit roten Haaren und blauen Strähnchen, ebenfalls eine langjährige Bewohnerin der Residenz. Hübsch. Intelligent, wie mir scheint. Sie wäre eine würdige Freundin eines Butzemanns. Aber sie ist fast einen Kopf größer als ich. Also … zwei Köpfe. Mindestens. Franky hat mir erzählt, dass sie es spürt, wenn irgendwer in ihrer Nähe bald stirbt, auch wenn sie selten genau weiß, wer es ist. Ihre Vorahnungen bereiten ihr großen physischen Schmerz. »Irgendwann schreit sie«, hat Franky gesagt, »so laut, dass etwas im Hirn derer zersplittert, die es hören.« Was soll ich nur davon halten? Ich glaube, ich hätte jetzt gern einen guten schottischen Whisky. Oder zwei. Es soll einen Pub in der Nähe geben.
Ein Spaziergang mit der Todesfee
Heute klarte der Himmel auf und ich ging spazieren. Bei besserem Wetter wirkt zumindest die Landschaft attraktiver. Sie besteht aus Hügeln, Weiden, einzelnen Bäumen. Ich wanderte bis zum See, der mir wie ein Relikt aus vormenschlicher Zeit vorkam. Auf dem Rückweg begegnete ich dieser Todesfee. Sehr seltsame Person. Wirklich.
»Du bist ein Butzemann?«, fragte sie mich.
»Bin ich«, antwortete ich stolz.
»Wie süß«, fuhr sie fort. »Aber dann bist du kein Monster, oder? Du bist ein Clown!«
Ha. Ha. Ha. Sie zwinkerte mir zu und genoss es, dass ich mich ärgerte. ICH HASSTE SIE. Ein bisschen.
»Immerhin bin ich kein Strich in der Landschaft, der Residenzen zusammenschreit«, antwortete ich mit herausragend gespielter Höflichkeit. Nun ärgerte sie sich. Ein wenig. Hat wohl nicht gedacht, dass ich weiß, was ich weiß. Es ist schön, die Schwächen Anderer zu kennen.
Verbal teilten wir aus und steckten ein, aber keiner von uns war lange beleidigt. Unsere Worte stachen wie Nadeln in Fleisch, aber stets so, dass der Schmerz etwas Süße behielt, eine fast masochistische Lust bediente, ohne nachhaltig zu verletzen. Diese Kunst beherrschten wir beide. Auf sonderbare Weise hatten wir unseren Spaß: bis zum Ende des Gesprächs. Da wurde Elodie ernst. Wir sprachen über Angst und Schmerz, der keine Lust bedient.
»Was weißt du von Schmerz?«, fragte sie. »Nichts weißt du! Der Schmerz Sterbender und Trauernder. DAS IST SCHMERZ.«
Was für eine Arroganz. Als ob ein Nachtmahr nichts von Schmerzen wüsste. Trotzdem hat mir ihre Nähe gutgetan: zumindest eine Weile lang. Wie wir uns ähneln: Auch sie genießt Gesellschaft nur in kleinen Dosen. Irgendwann hatten wir einander fürs Erste genug erzählt. Also ging sie hierhin und ich ging dorthin.
Kurz vor meiner Rückkehr in die Residenz begann es, zu nieseln. Ich sah das Holzfräulein auf einer Wiese. Sie tanzte zu einer Musik, die nur sie alleine hörte. Sie winkte mir zu. »Siehst du mich?«, fragte sie laut. Ich verneinte erneut. Aber dieses Mal schien es, als glaubte sie mir nicht. Sie lächelte. Wie zufrieden sie wirkte, wie glücklich, zumindest für den Augenblick. Regen. Unhörbare Musik. Ein Tanz. DAS ist Glück. In einer von Tausenden Varianten. Nur Narren sind dafür blind.
Ein Hoch auf Schottlands Whisky
Gestern Abend bin ich mit Franky in den Pub gegangen: Drunken Mermaid. Der Wirt heißt Conner Mackay und ist ein Bruder von Angus Mackay, des verehrten Managers der Residenz. Zufall? Niemals. Wahrscheinlich besetzen die Mackays zahlreiche Positionen in der Residenz und im Dorf. Jämmerliche Provinzfürsten. Hamish Mackay, ein Sohn des Managers, arbeitet bei uns als Pfleger. Der Lebensmittelshop im Ort gehört wahrscheinlich Roana Mackay und Colin Mackay schneidet den Dorfbewohnern die Haare. Davina Mackay leitet die Mehrheitspartei und Bonnie Mackay ist Bürgermeisterin, die von Ian Mackay bestochen wird, während Lennox Mackay die Opposition in den Abgrund führt. So ist das. Bestimmt!
Franky ist ziemlich abgedreht. Gestern hat er mir seine Schweißdrüsen gezeigt: mit fünfstufigem Geschwindigkeitsregler und Turboschalter. Das Beste: Der Schweiß duftet nach Rosenblatt und Minze. Er meinte, bei Frauen käme das sehr gut an. Das glaube ich sofort (nicht). Franky hat mich mit Gerüchten und Klatsch versorgt, während wir uns volllaufen ließen. In der Residenz soll ein Trakt für besonders schreckliche Monster existieren, den wir normalen (normalen!!!) Monster nicht betreten dürfen. Einige behaupten sogar, dass der Sensenmann dort lebt. Fakt ist: In der Residenz gibt es diverse verschlossene Türen, hinter denen sich – so glaube ich – mehr als einzelne Räume verbergen.
Was gab es noch? Man erzählt sich, dass der Doktor eine Affäre mit Lady Banshee hat, die hier angeblich viel Einfluss besitzt. Die Killertomaten sind angeblich mutierte Karotten, ein missglücktes Experiment des Doktors, über das er nicht gerne spricht. Der rumänische Graf ist (ebenfalls angeblich) laktoseintolerant. Und die schwarz gekleidete Violinistin namens Jill, die im Westtrakt der Residenz wohnt? Ihre Musik sei in der Lage, Löcher in die Wirklichkeit zu reißen. Löcher. Klar. Und der Butzetanz öffnet das Tor zur Hölle. Schwachsinn. Auf dem Rückweg vom Pub schaute ich fasziniert in den Himmel. Er war schön: so viele Sterne. Ich sah mehr Sterne als je zuvor, sank auf die Knie … und kotzte. Der gute Whisky. Alles raus. Merke: Butzemänner können sehr verschwenderisch sein. Und sehr romantisch!
Chaos im Gemeinschaftsraum
»Jemand wird sterben, hat Franky heute gesagt. »Bald schon. Elodie spürt es. Ihr Kopf zerplatzt. Ihre Muskeln bersten. Ihr Herz schlägt aus dem Takt.«
Was soll ich davon halten? Frankys Satz war am Abend der Abschluss einer hässlichen Szene im Aufenthaltsraum. Ich war noch draußen, als ich das Geschrei hörte. Franky und Elodie. Franky klang verzweifelt, Elodie wie ein kreischender Dämon. »Schau! Schau hinein«, schrie sie. Als ich den Raum betrat, sah ich folgende Szenerie. Franky saß auf einem Stuhl an einem Tisch und bedeckte seine Augen mit beiden Händen. Elodie stand vor ihm und hielt ihm einen Handspiegel vors Gesicht. »Du belügst dich. DU BELÜGST DICH!«, schrie sie ihn an. »DU BIST EIN IDIOT.«
Alle anderen im Raum schwiegen, während die Schwestern Lavinia und Moira versuchten, Elodie von Franky wegzuzerren. Aber Elodie entwand sich ihrem Griff, warf den Handspiegel auf den Tisch, drehte sich um hundertachtzig Grad und stapfte wutschnaubend aus dem Raum. Ich eilte zu Franky, dessen massiger Körper heftig zitterte. Nie habe ich ein derart verzweifeltes Wesen gesehen. Ich fand es abscheulich, was Elodie ihm angetan hat. Aber er nahm sie in Schutz. »Sie meint es nicht so«, sagte er. »Und eigentlich hat sie recht. Ich bin keine Elfe. Ich war nie eine, werde nie eine sein.«
Vielleicht war dem so. Vielleicht ist die Sache mit der Elfe wie eine Krücke, auf der Franky durch sein Leben stapft. Aber darf man jemandem eine Krücke entreißen, wenn man ihn nicht zugleich lehrt, ohne sie zu laufen? Und überhaupt: Ist nicht vielleicht doch jeder eine Elfe, der Elfe sein möchte? Ich war wütend auf Elodie. Aber ich mochte sie auch. Immer noch. Ganz am Ende sagte Franky diesen Satz, dass bald jemand sterben wird. Soll ich das ernst nehmen? Das ist doch Unfug. Oder?
Heute sah ich das Fräulein
Heute Morgen traf ich Franky wieder. Franky, die Elfe. Elodie hat sein Selbstverständnis nicht nachhaltig beschädigt. Ist das gut? Ich weiß es nicht. Mir geht Frankys Satz, dass bald jemand sterben wird, nicht mehr aus dem Schädel. Etwas hat sich verändert in der Residenz. Viele Bewohner fürchten sich, weil sie an Elodies Vorahnung glauben. Wer wird sterben? Niemand weiß es. Niemand mutmaßt. Auch ich bin nervös.
Am frühen Mittag begegnete ich im Flur erneut dem Holzfräulein. Ehe sie ihre Frage stellen konnte, rief ich: »Ja. Ich sehe dich!« Die Wirkung war bemerkenswert. »Oh«, sagte sie überrascht und errötete, »Wirklich?«
»Rede ich Chinesisch, oder was? ICH SEHE DICH!«, erwiderte ich.
»Oh«, wiederholte das Holzfräulein, lächelte verträumt und zog zufrieden von dannen. Erstaunlich, was Worte manchmal bewirken.
»Das hat ihr gut getan«, sagte der Hausmeister, der die Szene beobachtet hatte. »Du bist ein feiner Kerl. Manchmal. Vielleicht nicht sehr charmant. Aber trotzdem …«
Ein feiner Kerl. Nicht sehr charmant. Als ob ein Butzemann charmant sein müsste.
Der schrecklichste Tag meines Lebens
Man hätte meinen können, Elodies Schreie seien mir nach der Szene im Aufenthaltsraum vertraut gewesen. Aber dem war nicht so, nicht einmal annähernd. Der Schrei einer Todesfee ist schrecklich. Brutal. Vernichtend. Er übertrifft alles, was ich zuvor gehört habe. Der Kopf vibriert. Tausende Nadeln stechen ins Hirn. Man möchte sterben.
Es war später Morgen. Ich stand in der Empfangshalle, bereit für meine tägliche Wanderung. Da begann ihr Schreien. Ich sah, wie Elodie die Treppe hinunterhetzte, Stufen übersprang und fast stürzte. Sie erreichte den Fuß der Treppe, verfolgt von zwei Schwestern, von Pfleger Mackay und vom Hausmeister. Elodie hastete zum Ausgang, stieß dabei mit mir zusammen und fiel – ohne jede Eleganz – auf den Boden, wo der Hausmeister und eine Schwester sie festhielten.
Elodie wehrte sich heftig. Ihr Schreien verwandelte sich in Lachen, gemischt mit Kreischen und undefinierbaren Lauten. »Ein Vollpfosten! Ausgerechnet ein Vollpfosten hält einen auf«, schrie sie, lachte und lachte, schaute mich an und lachte immer weiter, bis sie in Ohnmacht fiel. »Vollpfosten.« Ich hätte beleidigt sein müssen, aber ich war es nicht. »Was weißt du schon von Schmerz?« Gerade jetzt erinnerte ich mich an unser Gespräch. Wahrscheinlich wusste ich nichts. Gar nichts. Elodie tat mir leid, als sie am Boden lag. Zugleich hatte ich Angst. Der Einzige war ich nicht. Das unerträgliche Schreien der Todesfee. Irgendwer wird sterben. Jetzt glaubte auch ich es.
Jemand starb
Das Holzfräulein ist tot. Ausgerechnet sie. Schwester Moira fand sie mittags in ihrem Zimmer. Das kleine Herz schlug nicht mehr. Vielleicht überforderte das Leben irgendwann so ein kleines Herz. »Sie lag auf ihrem Bett und lächelte«, erzählte man mir. Glücklich habe sie ausgesehen. Ich denke gerade an jenen Tag, an dem ich sie tanzen sah. Sie war ein liebes Geschöpf, manchmal anstrengend, bisweilen unglücklich, aber oft zufrieden, sichtbar auf dieser Welt zu sein, als Geschöpf unter Geschöpfen. Ich bin froh, ihr noch rechtzeitig gesagt zu haben, dass ich sie sehe.
Ich glaube, man kann einiges lernen von einem Holzfräulein, selbst ich alter Butzemann. Auch ein Monsterleben, das das der Menschen überdauert, ist schnell vorbei. Man sollte es mit schönen Momenten sprenkeln, den bestmöglichen ihrer Art. Man sollte versuchen, das Leben zu durchtanzen, selbst bei Regen, wir alle hier, selbst der alte Butzemann, der das hier gerade schreibt.
Am Ende wartet immer der Tod
Ein wolkenloser blauer Himmel. Der Himmel weint nicht, wenn jemand stirbt. Vielleicht weinen Hinterbliebene. Den Himmel interessieren die Toten nicht. Er kleidet sich in graue Wolken oder in Blau. Er spendet Wärme, Regen, Schnee oder Eis. Wie jeden Tag. Ein einzelner Tod ist belanglos für die Welt. Das Meer nagt weiter am Felsen, als sei nichts geschehen. Der Mond zieht seine Bahnen. Zurück bleibt Erinnerung und auch sie wird mit jenen vergehen, die später sterben.
Fast alle Einwohner der Residenz kamen, um das Holzfräulein zu beerdigen. Die Gemeinschaft der Unterschiedlichen nahm Abschied. Auch ich gehöre jetzt zu ihr. Elodie fehlte am Grab. Sie war zu schwach. Ich werde sie nachher besuchen. Ich mag sie und ich glaube, sie mag mich ebenso: den kleinen Herrn Butzemann, der einst Kinderschreck war. Und Clown. Was die Zukunft ergibt: Wer weiß das schon?
Die Residenz ist für mich heute viel mehr als der Schuhkarton, den ich anfangs gesehen habe. Wir alle sind die Residenz: Franky (die Elfe), Elodie mit den roten Haaren und den blauen Strähnchen, Doktor Lazarus und der Manager, die Lady und selbst der alte Graf, der blutige Steaks liebt und nie mein bester Freund sein wird. Wir alle leben hier das Leben, das uns bleibt. Wir alle leben es gemeinsam. Und es ist gut so, wie es ist.