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Vincent Voss
Halber Mensch
ОглавлениеSeine Königin in Gelb stand allein auf dem weit ins Land reichenden, englischen Rasen vor den blühenden Rhododendren, als es zu regnen begann. Sie klappte einen Schirm auf, der eigentlich als Schutz vor den Strahlen der heißen Junisonne dienen sollte, um jetzt ihr zitronengelbes Kleid und den gleichfarbigen Hut zu schützen, verweilte so einen Augenblick unter dem Schirm und verzog das Gesicht, was ihrem Antlitz in seinen Augen eher ein niedliches Schmollen, denn ein zorniges Grimmen verlieh, klappte den Schirm wieder zusammen und begann, im Regen zu tanzen. Sie breitete die Arme aus und hieß die dicken Tropfen auf ihrem Kleid und ihrem Körper willkommen.
Er war dreiundachtzig Jahre und lag auf der Mauer auf der Lauer, wie man es so schön sagte, und beobachtete die Bewohner der Residenz, die in einiger Entfernung seines Dorfes hier oben an der Steilküste des Loch na Lerig stand. In seine Königin in Gelb verliebte er sich spätestens an diesem Tag hoffnungslos und für immer. Sie war der Sinn seines Lebens. So viel stand fest.
Der Pub Drunken Mermaid zog an ihm vorbei, während die Kutsche sich die Anhöhe hinaufarbeitete. Das Holz ächzte, das Geschirr der Pferde klirrte, denn es war keine gewöhnliche Kutsche, sondern eine, die es ihren Gästen auf der womöglich letzten Fahrt so angenehm wie eben möglich machte. Die Wände strahlten in rotem Samt mit goldenen Mustern, es gab ein Fach, in dem der Champagner gekühlt wurde und ein weiteres, das edle Gaumenfreuden enthielt. Es gab federleichte Daunendecken, die für Wärme sorgten, denn die alten Herrschaften froren schnell. Die Residenz verließen die meisten Bewohner im Sarg, daher sollte ihnen die Anreise wenigstens Freude bereiten. Und er freute sich wirklich, ganz besonders auf seine Königin in Gelb, die er in all der Zeit, bis die Aufnahme endlich geregelt gewesen war, weiter beobachtet hatte. Und er glaubte, sie hatte seine Anwesenheit gespürt. Manches Mal hatte sie ihren Hals gereckt und in den Himmel geschaut, sich umgesehen und er hatte sich unter ihren Blicken in seinem Versteck noch kleiner zusammengerollt, als er es eh schon war, bis sie wieder ihrer Tätigkeit nachging. Meistens jedoch irgendwie trauriger und bedrückter als zuvor, wie es ihm schien. Das ließ sein altes, verliebtes Herz nur noch doller für seine Liebe pochen. Die Kutsche hielt, die Tür wurde geöffnet und er durfte aussteigen. Doktor Renato Lazarus, der Chefarzt der Residenz, erwartete ihn schon unter einem Regenschirm stehend draußen vor dem Tor des Gebäudes, eine Eigenart, die er bei jedem Neuankömmling pflegte, wie er später noch oft beobachten konnte.
»Herzlich willkommen in der Residenz, mein lieber Argyle Findlay. Haben Sie viel Gepäck mitgebracht?« Der Alte antwortete nicht, wandte sich aber auch nicht ab, sondern sah dem Chefarzt mit offenem Blick entgegen und trat selbstbewusst unter den Schirm des Arztes, um nicht nass zu werden. Er zückte stattdessen ein kleines in Leder gebundenes Büchlein hervor und notierte sich etwas mit einem Bleistift.
»Der redet nicht, der schreibt nur!«, schallte es vom Kutschbock herab, der Kutscher stieg ab, umrundete die Kutsche und stellte das Gepäck heraus. Doktor Lazarus nickte nur.
»Danke«, wandte er sich an den Kutscher und dann wieder an den alten Mann. »Dort steht Schwester Brianna, sie wird Sie in Ihr Zimmer bringen, und das ist Hausmeister Morgan, er wird so freundlich sein und Ihr Gepäck tragen.« Der Greis nickte beiden zu und lächelt. Brianna erwidert es, Morgan tippte sich mit dem Zeigefinger an den Schirm einer Mütze, die er nicht auf dem Kopf trug. Diese Geste in diesem Umfeld machte ihn für den Senior sofort sympathisch. Der Kutscher bemühte sich, wieder auf den Kutschbock zu steigen, um abzufahren, die Entourage war im Begriff, das altehrwürdige Gebäude zu betreten, als Argyle, wie er jetzt noch genannt wurde, seiner Königin gewahr wurde. Sie stand an einem Fenster im zweiten Geschoss hinter einer weißen, halb durchsichtigen Gardine und kaum, dass er den Blick hob, verschwand sie auch wieder aus seiner Sicht. Er hatte winken wollen, unterdrückte diesen Impuls aber sofort. Und er spürte selbst hier unten ihre Melancholie, die wie ein feines Gespinst auf ihn einwirkte.
»Das ist Kassandra«, sagte Doktor Lazarus, der diesen ersten Blickkontakt bemerkt hatte. »Sie hat allen Grund, traurig zu sein. Es ist besser, Sie halten sich von ihr fern.« Er sagte nichts und nickte dieses Mal auch nicht. Auf Geheiß des Chefarztes betraten sie die Residenz. So begann also sein erster Tag als Bewohner der Residenz.
»Sie möchten also Ihren Namen ändern, richtig?«, fragte Doktor Lazarus angesichts des schriftlich formulierten Wunschs des Alten, der vor ihm in seinem Büro saß. Draußen, so konnte man von hier aus zwei großen Fenstern mit Blick auf den See beobachten, rangen Regen und Sonnenschein um die Vorherrschaft des Tages und es sah wieder einmal so aus, als würde der Regen obsiegen. Der Greis legte sein Notizbuch auf dem Schreibtisch ab und nickte. Doktor Lazarus Blick haftete auf dem Buch. Ihm fiel auf, dass der Ledereinband eine Nuance heller war, als er ihn in Erinnerung hatte.
»Sie schreiben viel, oder?«
Nicken.
»Ist das schon Ihr zweites Buch?«
Nicken.
»Sie können sprechen, oder?«
Nicken.
»Aber Sie wollen nicht?«
Kopfschütteln.
Nicken.
Schwierig formuliert, dachte sich Doktor Lazarus.
»Ich rede nicht gerne, sondern beobachte lieber«, antwortete der Senior und überraschte damit Doktor Lazarus, der schon von einem traumatischen Erlebnis in der Vergangenheit des Mannes ausgegangen war, das diesem die Stimme geraubt hatte und seine Lust daran, sich der Welt mitzuteilen.
»Mhm«, antwortete Doktor Lazarus und schien enttäuscht von seinem neuen Patienten. Er war so … unspektakulär bisher. Seine ersten Elektroversuche und Hypnosen an und mit ihm zeigten nicht die Anzeichen einer ernsthaften Persönlichkeitsstörung. Zwar gab sich der Alte oft so, als wäre er desorientiert, verwirrt, autoaggressiv, aber die tiefer gehenden Untersuchungen zeigten ihm jedes Mal eine ausgesprochene Reife und Klarheit bei diesem Bewohner. Doktor Lazarus griff nach einer Haselnuss in der marmornen Schüssel vor sich und öffnete sie mit dem Nussknacker, ohne dabei den Mann aus den Augen zu lassen. Dieser reagierte nicht auf sein Starren, saß ruhig und gelassen vor ihm. Er erinnerte Doktor Lazarus irgendwie an eine faule Nuss mit brüchiger Schale … »Nun gut, Sie können also reden, ziehen es aber vor, es nicht zu tun. Das ist nichts Ungewöhnliches. Ebenso wenig ungewöhnlich wie die ersten Testreihen, die wir hinter uns haben.« Er zog zwei Patientenbücher zu sich heran, schlug sie auf und überflog zur Sicherheit noch einige Ergebnisse, sah dann wieder zu dem Greis und faltete den Brief auseinander, den er von ihm bekommen hatte.
»Gesuch«, las er vor. »Hiermit bitte ich darum, wie viele der Insassen hier meinen Namen zu ändern. Zukünftig möchte ich nicht mehr mit Argyle, sondern mit dem Namen Aristophanes angesprochen werden. Aristophanes, ja?«
Nicken.
»Wie der griechische Diplomat?«
Kopfschütteln.
Doktor Lazarus hob eine Augenbraue. »Nicht?«
Erneutes Kopfschütteln. Der Alten nahm sein Buch zur Hand, schlug es auf und blätterte.
»Im Symposium von Platon lässt der Philosoph den fiktiven Komödiendichter über Eros und die Kugelmenschen reden. Ich bin der fleischgewordene Aristophanes, der von seiner Liebe getrennt wurde, nur eine Hälfte von etwas, und die andere ist unerreichbar.«
Nicken. Doktor Lazarus schrieb etwas auf.
»Ich werde Ihren Gesundheits- und Geisteszustand weiter beobachten und nur einschreiten, sollten sich Veränderungen ergeben. Ist das in Ordnung für Sie?«
Nicken.
»Gut. Dann verabschiede ich mich für heute, Sie können gehen.«
Der alte Mann ging und Doktor Lazarus nahm sich eine weitere Nuss. Mit dieser hatte er erhebliche Mühe, sie zu knacken.
In den kommenden Monaten lebte sich Aristophanes in das Residenzleben ein. Auf seine eigene Art, denn er verschmolz mit der Residenz, wurde zu einem Inventar oder Möbel, das niemand mehr bewusst wahrnahm. Obwohl er zu den gewöhnlichen Essenszeiten mit den anderen speiste, an Exkursionen ins Umland teilnahm und sich oft und viel außerhalb seines Zimmers bewegte. Es war auch nicht so, dass er Kontakte mied. Oder Gespräche. Aber er war derjenige, der zuhörte und notierte. Und nach dem Gespräch wieder in Vergessenheit geriet. Seine Unscheinbarkeit erlaubte ihm auch nachts unauffällig durch die Residenz zu streifen, was eigentlich verboten war, denn ab zweiundzwanzig Uhr galt die Bettruhe. Aber nur die wenigsten hielten sich daran, wie Aristophanes schnell feststellen konnte. Ebenso wie er entdeckte, dass die Nacht und vor allem der Mond auf viele der Bewohner einen besonderen Reiz ausübte, vor allem der Vollmond. Nachdem er aber ausfindig gemacht hatte, dass seine gelbe Königin einfach keine festen Gewohnheiten pflegte und nicht einzuordnen war, stellte er seine nächtlichen Streifzüge bis auf Weiteres ein. Sie waren ihm zu unheimlich und gefährlich. Es gab zum Beispiel den Butzemann, der ihm nicht geheuer war, oder die Lady Banshee de Lily, die angeblich vorwiegend nur wie ein Schatten durch die Residenz geisterte und sich von den geheimen Ängsten der Insassen ernähren sollte. Wie Mücken Blut tranken, so labte sie sich an den Albträumen und Ängsten der Mitbewohner. Aristophanes glaubte sie mehrmals gespürt zu haben, wie einen eiskalten Hauch, der einem in den Rücken wehte oder ein Huschen, das flugs im Zwielicht verschwand. Jetzt kannte er also die dunkelsten Winkel der Residenz und ihrer Bewohner und sei es nur vom Hörensagen, sodass er wusste, wer sich zum Beispiel Tag für Tag überwinden musste, in den Speisesaal zu kommen oder wer in der Nacht geschrien oder geweint hatte, ebenso wie er alle kannte, die glaubten, längst Verstorbene gesehen zu haben, aber er wusste nichts über seine Liebe. Nur den einen Satz von Doktor Lazarus an dem Tag seiner Ankunft gesprochen hatte. Ihren Namen, Kassandra und, dass sie allen Grund hatte, zu leiden und er sich von ihr fernhalten sollte. Ansonsten traf er sie nur zufällig und unter Menschen, nie hat er sie seither so privat und vertraut gesehen, wie damals, als er sich verliebt hatte und er sie beim Tanzen beobachten konnte. Und er konnte nicht unauffällig bleiben und rund um die Uhr ihre Zimmertür bewachen, obwohl sie im etwas ruhigeren Westflügel am Ende eines Ganges ein Zimmer bewohnte und zwischen ihrem und dem nächsten Zimmer ein Schwesternzimmer untergebracht war. Er wartete also oft in der Umgebung ihres Zimmers, am liebsten lungerte er an jener Kreuzung, wo der Korridor in ihren Trakt auf den Hauptgang des Westflügels führte. Hier stand an einer Wand ein runder Tisch mit Glasaufsatz, auf diesem waren wiederum immer frische Schnittblumen und links und rechts zwei gemütliche Stühle. Wenn nicht Kapitän Ahab dort saß und verdrießlich dreinschaute, wurde dieser Platz zu seinem Lieblingsort, aber Kassandra hatte er dennoch bisher nicht abpassen können. Der Herbst ging in den Winter über, der Winter wurde zum Frühling und mit der einsetzenden Schneeschmelze traf er endlich, endlich wieder auf sie. Ihm war klar, dass sie wahrscheinlich nicht ständig in gelbe Kleidung gewandet war, aber auch an diesem Tag trug sie ein goldgelbes Kleid sowie einen schwarzen Hut mit einem Schleier, der ihr Gesicht verdeckte. Eine auffallende und ungewöhnliche Kombination, wie Aristophanes fand, ohne über Kenntnisse oder reichhaltige Erfahrungen über die Kleiderwahl der Frauen zu verfügen. Sie eilte an ihm vorbei in den Hauptgang, er erhob sich von seinem Sitz, hätte beinahe die Blumen umgestoßen (er fragte sich immer noch, wie es in der Residenz auch im Winter frische Schnittblumen geben konnte, aber das war nur eines von vielen Geheimnissen, die die Residenz betrafen und sich mittlerweile vor ihm auftürmten) und lief ihr nach. Dieses Mal blieb sie nicht stehen oder verharrte, weil sie ihn in irgendeiner Weise spürte. War sie etwa aufgeregt und dadurch abgelenkt? Wenn ja, warum? Er spürte den großen Drang in sich, sie zu beschützen und auch, wenn er den Drang aufgrund seines Alters irgendwie albern fand, er konnte ihn nicht unterdrücken. Seine Königin lief zum Haupteingang und anstatt durch das Tor zu gehen, verweilte sie kurz vor einem Fenster und spähte auf den Platz. Jetzt fiel ihm ein, dass sich dort heute in der Frühe alle Ausflügler treffen wollten, die eine Reise zur Küste unternehmen und über Nacht auch dort bleiben würden. Versprochen war, dass alle dort Muscheln sammeln, sie in einem Kübel voll Eis hierher bringen, damit es dann für alle in der Residenz Muschelsuppe geben konnte. So wie er das sah, war das zu einer gewachsenen Tradition geworden, da er den Namen Kassandra aber nicht auf der ausgehängten Liste gefunden hatte, schenkte er dem Ausflug selbst auch keine weitere Beachtung. Bis jetzt. Sie verharrte dort, ging einen Schritt zurück, einen wieder vor, als haderte sie mit einer Entscheidung. Dann fasst sie sich ein Herz und stürmte mit Elan aus der Tür hinaus auf den Vorplatz. Aristophanes lief zum Fenster und beobachtete. Er sah, wie Kassandra auf die Reisegesellschaft zuhielt, aber immer langsamer wurde und dann etwa fünf Meter vor dem Kern der Gruppe als Satellit stehen blieb. Nicht auffällig, denn auch die Kutscher und andere Insassen standen vereinzelt drum herum. Einige rauchten, alle genossen die Sonnenstrahlen, die hier so selten Wärme spendeten, wie Wasser in der Wüste auftauchte. Es sah aus, als würde Kassandra wie zwanghaft versuchen, niemanden von den Mitinsassen anzusehen, sie wandte den Blick zu Boden oder gen Himmel und beobachtete das Geschehen nur aus den Augenwinkeln. Er erschrak, als sie wie ein Rochen auf Beutejagd auf einen Mann zustürzte, der gerade aus der Gruppe hinaustrat, um sich eine Zigarette anzuzünden und gleichfalls erschrak, als Kassandra sein Gesicht in beide Hände nahm, ihn ansah und dann auf die Stirn küsste. Sie ließ ihn los, strich ihm mit der rechten Hand über seine linke Wange, eine Szene mit einer Zärtlichkeit, die sich für immer in Aristophanes Geist brennen und ihn fortan verfolgen würde. Sie wandte sich um und eilte genauso geschwind, wie sie gekommen war, wieder zurück. Er verbarg sich in der Ecke, kroch beinahe hinter die Gardine und warf einen Blick auf den Mann, dem diese außergewöhnliche Liebkosung zuteilgeworden war. Er hieß Paul, war alt, aber gut aussehend, mit noch relativ dunklen Haaren, die ihm stets etwas in die Stirn fielen und einer Jacke, deren Kragen er immer aufstellte. Paul malte. Oft verstörende Familienporträts mit Menschen ohne Gesichter und nachts hatte Aristophanes ihn auch schon einmal in seinem Zimmer schreien gehört. Paul sah Kassandra nach, andere Männer lachten, einer schlug ihm anerkennend auf die Schulter und Aristophanes konnte im Blick des Künstlers etwas Gefährliches lodern sehen. Auch dieser hatte sich in diesem Moment unsterblich in seine Königin in Gelb verliebt. Also musste Aristophanes Paul kennenlernen. Seinen Konkurrenten. Er musste mit auf den Ausflug.
Nachdem er notdürftig auf die Schnelle ein paar Sachen in seine Tasche gestopft hatte und Stiefel rausgesucht hatte, weil alle entweder Stiefel anhatten oder als zusätzliches Paar Schuhe in den Händen hielten, eilte er zurück und kam gerade rechtzeitig an, denn die Ausflügler bestiegen bereits die vier Kutschen, die sie ans Meer bringen sollten.
Aristophanes stellte sich an jene Kutsche an, in der Paul saß. Pfleger Duncan stand dort mit einem Klemmbrett, und als Aristophanes an der Reihe war, schüttelte er den Kopf.
»Der Herr Aristophanes steht nicht auf der Anmeldeliste, daher kann der Herr Aristophanes nicht mitkommen«, sagte Duncan, der mit allen in der dritten Person redete, selbst mit seinen Vorgesetzten.
»Ich … habe das vergessen. Aber ich muss unbedingt mit. Ich MUSS!«, flehte der Alte, wollte vorbei an dem Krankenpfleger, der reaktionsschnell einen Arm vorschob und ihm damit den Eintritt in die Fahrgastzelle der Kutsche verwehrte. Aristophanes wich einen Schritt zurück. Ungläubig sah er zu Duncan und wieder zur Kutsche. Er zählte sogar zwei freie Plätze. Einen für Duncan, einen für sich.
»Ich MUSS da mit!«, sagte er laut, ganz an der Grenze zum Brüllen. »Da ist doch noch ein Platz frei!«
»Das macht aber nichts. Man hätte sich vorher anmelden müssen. Nein, das geht nicht!«, sagte Duncan und wollte Aristophanes zurückschieben. Der Alte schlug zu. Der Alte trat um sich. Der Alte wollte in Duncans Arm beißen, nachdem dieser ihn gepackt hatte. Schließlich wurde er von den Pflegern Murdo und Lennox in sein Zimmer gebracht und Doktor Lazarus verabreichte ihm wortlos eine Spritze, die ihn erst einmal schlafen ließ.
Aristophanes wachte spät auf am nächsten Tag und das schottische Wetter trug, wie er aus dem Fenster sah, nicht dazu bei, sich tageszeitlich orientieren zu können. Es war alles, nur nicht nachts. Ein schlechtes Gewissen hatte ihn schon im Schlaf durch skurrile Träume gequält, mit den erwachenden Erinnerungen an sein Fehlverhalten wuchs es so stark an, dass er an den Fingernägeln zu kauen begann. Er stand auf und probierte, ob sich die Tür öffnen ließ. Sie ließ sich öffnen. Die Gefahr, die man in ihm gesehen hatte, schien gebannt. Er horchte in sich hinein und stellte fest, dass seine Aggressivität tatsächlich verschwunden war. Stattdessen spürte er … Eifersucht. Jetzt wusste er, was dieses Wort bedeutete und wie groß der Schmerz war, den dieses Gefühl verursachen konnte. Er warf sich bäuchlings auf sein Bett und begann zu weinen. Seine Liebe, sein Ein und Alles war verloren. Sie hatte Paul geküsst!
Zwei Tage später erreichte sie mit der Ankunft der Ausflügler auch die Schreckensnachricht. Es hatte einen Toten gegeben! Paul war an der Küste beim Muschelsammeln in einer Höhle ertrunken, weil er die einsetzende Flut nicht rechtzeitig bemerkt hatte. Seinen Leichnam hatten sie zur Residenz mitgebracht und er sollte auch hier auf dem Residenzfriedhof beigesetzt werden. Aristophanes fühlte sich zum Teil mitverantwortlich für den Tod des Künstlers, er konnte sich nicht freisprechen von zornigen Wünschen, die er gegen seinen Mitbewerber um die Gunst seiner Liebe gehegt hatte. Erst wartete er vergeblich auf Kassandra, wollte ihr sein Mitleid bekunden, aber sie verließ ihr Zimmer jetzt nicht einmal mehr zu den Mahlzeiten. Dann zog er sich weiter zurück und begann ebenfalls, die Welt um ihn herum zu meiden.
Zwei Wochen später hatte er einen Termin bei Doktor Lazarus. Selbst hier oben im Norden ließ sich der Einzug des Frühlings nicht mehr bestreiten. Es war grüner und stürmischer geworden. Auch heute jaulte der Wind um die Residenz wie ein Rudel Wölfe. Aristophanes begann das Gespräch nicht von sich aus und Doktor Lazarus warf wie üblich erst einmal sorgfältige Blicke in seine Aufzeichnungen.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte er und Aristophanes wurde mit dieser Frage überrascht. Er warf selbst einen Blick in seine Aufzeichnungen der letzten Tage, seine Zeichnungen mit Kohlestiften; düster; seine Gedichte; düster.
»Es geht so«, antwortete er wahrheitsgemäß.
»Der tragische Tod von Paul erschüttert uns alle natürlich sehr. Wie geht es Ihnen damit?«
»Warum …« Aristophanes schluckte trocken, fühlte sich bis auf sein Innerstes durch Doktor Lazarus durchschaut, spürte sein schlechtes Gewissen, spürte, wie ihm Blut ins Gesicht schoss und er begann zu schwitzen. Die Frage des Arztes waberte weiterhin unbeantwortet in dem Raum und Aristophanes bemühte sich, Kontrolle über sich zurückzuerlangen. »Es wird besser, aber es geht mir noch nicht gut«, antwortete er.
»Sie haben Duncan geschlagen, getreten und wollten ihm in den Arm beißen, erinnern Sie sich noch daran?«
Aristophanes begann zu zittern. Jetzt war es vorbei. Er würde die Residenz verlassen müssen und wäre für immer von der Liebe seines Lebens getrennt.
»Es tut mir so leid! Ich hatte mich nicht unter Kontrolle und wollte Pfleger Duncan nicht wehtun, aber …« Es fehlten ihm die Worte, um seinen Angriff auf den Pfleger zu erklären.
»Das ist sehr, sehr schade, Aristophanes.« Doktor Lazarus sah ihn ermahnend über den Rand seiner Brille an. »Ich habe mit Mister Mackay über Sie gesprochen.« Aristophanes glaubte, sein Herz würde zu schlagen aufhören, Angus Mackay war der Manager der Residenz, derjenige, der am Ende darüber entschied, ob jemand ging oder blieb. Aristophanes zitterte.
»Wir sind übereingekommen, Sie weiter in der Residenz zu belassen. Wir sollten allerdings an Ihrer Impulskontrolle arbeiten.« Doktor Lazaraus musterte Aristophanes, suchte nach sichtbaren Reaktionen, aber der Alte zeigte kaum etwas von seinem Inneren, außer, dass er sich sehr stark auf die Unterlippe biss.
»Gut«, sagte er nach einer Weile und Doktor Lazarus nickte. Da der Arzt schwieg, erhob sich Aristophanes seufzend.
»Eines noch«, sagte Doktor Lazarus und suchte Blickkontakt zu dem Mann. Erst als dieser hergestellt war, sprach er weiter. »Sie wissen, wer Kassandra ist?« Aristophanes schüttelte den Kopf und Doktor Lazarus schien leicht enttäuscht darüber zu sein. »Auch sie hat wie Sie einen Namen gewählt, der ihr … Leiden am besten beschreibt. Kassandra war eine griechische Seherin, die von dem Gott Apollon mit der Gabe der Prophezeiung in der Hoffnung beschenkt wurde, sie würde seinem Werben um sie nachgeben. Sie wies ihn ab, und der Gott bestrafte sie mit dem sagen wir Fluch dazu, dass ihr niemand Glauben schenken würde. Sie ist damals zu uns gekommen, weil sie sich von ihrer Krankheit, denn so nenne ich das als Arzt, erholen wollte. Sie meidet daher den Kontakt zu anderen, weil sie nicht um deren Schicksal wissen will.« Er nickte Aristophanes zu und glaubte, der Alte würde seinen Rat richtig einordnen können. Aristophanes ging ohne eine Antwort auf sein Zimmer.
Er begann ihr Briefe zu schreiben und legte sie vor ihrer Tür ab. Sie antwortete nicht. Über Jahre hinweg. Und dennoch blieb er, denn er war Aristophanes: ein von seiner anderen Hälfte getrennter Kugelmensch.
Er wurde zum Archivar der Residenz, grau, unauffällig, immer etwas melancholisch und vor allem … verliebt. Er stellte fest, dass in der Residenz die Uhren für manche von ihnen anders liefen. Er wurde älter, Kassandra hingegen sah aus wie an dem ersten Tag ihrer Begegnung. Und auch Doktor Lazarus schien gleichbleibend alt zu sein, nur das Pflegepersonal alterte mit ihm.
Es war im Herbst, als er die Tür öffnete und keine Luft mehr bekam, weil vor der Tür ein Briefumschlag lag. Ein cremiges Zitronengelb. Er sah auf den Korridor, begann nach geraumer Zeit wieder zu atmen, nahm den Brief an sich und drückte ihn an seine Brust. Drei Tage lang konnte er ihn nicht öffnen. Aus Angst vor einer Zurückweisung, aus Angst vor verletzenden Worten, die die Liebe mit sich bringen konnte, wenn sie nicht erwidert wurde.
Aber der Brief war für ihn eine Offenbarung, entsprach doch so, wie sie schrieb, allem, warum er sie liebte. Sie schrieb so, wie man im Regen tanzte, gänzlich unbefangen. Und obwohl sie in diesem Martyrium lebte, hatte sie sich eben diese bis in diesen einen Antwortbrief bewahrt. Sie scherzte mit ihm, schrieb ihm auf Augenhöhe. In dieser Nacht noch antwortete er ihr und so entstand eine Romanze auf Papier, die ihn vollständig erfüllte. Seine Zerrissenheit heilte, seine Laune besserte sich.
»Haben wir beschlossen, Mister Mackay und ich, dass Sie leider die Residenz verlassen müssen. Ihre Geldmittel sind aufgebraucht und wir haben eine Einladung ihrer Großnichte, die Sie gerne aufnehmen möchte. Wir werden Sie vermissen. Versuchen Sie den Sommer zu genießen!«
»Eines noch«, sagte der Arzt. »Anfälle, die jetzt aufgrund der Krise eines Abschieds entstehen, haben keinen Einfluss auf unsere Entscheidung.« Doktor Lazarus nickt ihm ernst zu und er verstand. Aristophanes ging ohne eine Antwort auf sein Zimmer.
Zwei Stunden, bevor er von einem Taxi abgeholt werden sollte, öffnete er die Tür und sah … Füße. Wieder setzte sein Herzschlag aus, er traute sich kaum, den Blick zu heben.
»Kassandra?«, flüsterte er, ohne sie gesehen zu haben. Ein rapsgelber Rock. Das musste sie sein. Sie hob sein Kinn an, sodass sich ihre Blicke trafen. Sie weinte still, ihre Lippen bebten. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn … auf seine Lippen. Küsste ihn.
»Kassandra! Ich kann bleiben! Ich kann dich mitnehmen! Wir können zusammen …« Sie schüttelte den Kopf und küsste ihn noch einmal. Lang. Wie ein Leben lang, wie die Entstehung von Ozeanen, wie eine Welterschaffung.
»Geh!«, flüsterte sie. »Bitte, geh!« Halbherzig sagte er zu. »Versprich es mir bei deiner Liebe, die du für mich empfindest. Ich sehe sie.« Er zögerte. Weitere Tränen. Er versprach es.
Er atmete tief durch und wählte dann die Nummer der Residenz.
»Lazarus hier, guten Tag«, meldete sich der Doktor.
»Doktor Lazarus. Ich bin es. Argyle, ich meine Aristophanes.«
»Ah, hallo, Aristophanes, wie geht es Ihnen?«
»Gut. Ich lebe noch. Und damit wollte ich Ihnen mitteilen, dass Kassandra sich … irrt. Ich wollte fragen, ob Sie es ihr mitteilen können? Sie hat mich nämlich … verabschiedet, wie sie Paul damals verabschiedet hat. Und Ian. Und Misses Summersby. Die alle danach ums Leben gekommen sind. Und mich hat sie auch … geküsst. Und jetzt telefonieren wir nach über einem halben Jahr. Es könnte vielleicht …«
»Ich kann es ihr nicht ausrichten, Aristophanes«, unterbrach ihn Doktor Lazarus und er wurde wütend auf den Arzt und seine ewigen Zurückweisungen.
»Sie können ihr doch …«
»Nein, kann ich nicht. Sie ist kurz nach Ihrer Abreise auf tragische Weise die Steilküste hinuntergestürzt. Conner Mackay, der Wirt der Drunken Mermaid fand sie bei einem Spaziergang. Sie muss im Dunkeln den Halt verloren haben«, sagte Doktor Lazarus. Er log. Und das nicht besonders gut. Aristophanes legte den Hörer zurück in die Gabel, ohne sich zu verabschieden. Er würde auf ewig ein halber Mensch bleiben und ewig in seine gelbe Königin verliebt sein. So viel stand fest.