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Flucht aus Ostpreußen

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Ich möchte Sie mitnehmen nach Wormditt, wo ich am zweiten Weihnachtstag des Jahres 1938 geboren wurde. Wormditt war ein Städtchen in Ostpreußen, genauer im katholischen Ermland, mit damals rund 8.000 Einwohnern. Dort gab es mehrere Kirchen, besonders die mächtige katholische Johannis-Kirche, ferner ein Krankenhaus, eine Oberschule, sogar ein Amtsgericht, und gut zwei Kilometer vom Marktplatz entfernt den Bahnhof. Übrigens wohnten wir, meine Eltern und vier Kinder, ganz in der Nähe des Marktplatzes in der Obertorstraße. Man lebte vom Handwerk und Handel, versorgte sich mit allem, was das Umland hergab. Die Sommer waren heiß, die Winter frostig kalt, doch die trockene Kälte konnte man auch bei 20 Grad minus gut aushalten. Mein Vater war Gendarm, ritt zu Pferde über Land, sorgte für Ordnung und hat da wohl nicht viel Aufregendes erlebt, wie meine Mutter erzählte. So sehe ich mich auf einem Foto: vier Jahre alt, stolz und glücklich auf einem Polizeipferd vor meinem Vater im Sattel sitzen. Man lebte damals recht sorgenfrei, heiter und friedlich miteinander, wahrscheinlich so wie es Siegfried Lenz in seinen Kurzgeschichten „So zärtlich war Suleyken“ mit ausgeprägtem ostpreußischen Humor beschrieben hat.

Die Familien väterlicher und mütterlicherseits waren kinderreich und lebten fast alle in Wormditt oder in den umliegenden Dörfern. Man besuchte sich, man feierte häufig und half sich gegenseitig, grad so wie man es konnte. Meiner Erinnerung nach erlebte ich unbeschwerte Kinderjahre. Krieg gab es weit im Osten. Die Sorgen der Mütter und Ehefrauen um ihre in den Krieg eingezogenen Söhne und Ehemänner hielt man von uns Kindern fern.

Doch das änderte sich 1944. Die Front näherte sich zusehends. Im August hatte die sowjetische Armee die baltischen Länder erobert und war im Nordosten bis an die Grenze Ostpreußens vorgedrungen. Jetzt gab es Flüchtlinge aus den baltischen Ländern, und noch glaubten wir nicht, dass wir bald selber Flüchtlinge sein würden. So wohnte einige Wochen lang ein Fräulein Schulz aus Lettland bei uns. Sie berichtete von Gräueltaten russischer Soldaten, wovon ich aber nicht viel mit bekam und noch weniger begriff. Immer öfter marschierten nun deutsche Soldaten durch die Stadt, und es war nicht klar, ob das militärische Stärke bedeutete oder eher die letzten Aufgebote der deutschen Wehrmacht darstellten. Für mich war das aufregend und ich sehe mich, wie ich mich bemühte, daneben auf dem Bürgersteig mit zu marschieren.

Aber nun gab es doch manchen Anlass zur Sorge. Immer öfter heulten die Luftschutzsirenen, und wir mussten dann für Stunden einen Keller aufsuchen. Bunker wie im Westen gab es nicht. Ich hatte dabei die Aufgabe, die Aktentasche mit wichtigen Dokumenten (wie Stammbuch, Urkunden, Pass und Fotos) zu tragen. Einmal nachts kam ein Polizist zu uns. Erst meinte ich, es sei mein Vater; doch es war nur ein Kollege von ihm, der lediglich die Verdunkelung unserer Fenster beanstandete und in Ordnung brachte. Manchmal knatterte es stoßweise und die Großen flüsterten: „Ja, das ist unsere Flak. Uns passiert schon nichts.“ Doch einmal passierte doch etwas. In ein Haus in der Nähe des Bahnhofs war eine Bombe niedergegangen, und ein Mann war getötet worden. Dort vor der Stadt waren inzwischen tiefe breite Gräben ausgehoben worden, angeblich unüberwindliche Panzersperren, was nicht recht zu der offiziellen Aussage passte, dass der Feind niemals deutschen Boden betreten werde. Dazu passte auch nicht, dass sich mittlerweile einige in den Westen machten, was dann heimlich geschah. Denn Flucht bedeutete fehlendes Vertrauen am Führer, galt deshalb als Landesverrat und wurde schwer geahndet.

Tatsächlich hatten russische Divisionen im Oktober 1944 den nordöstlichen Teil Ostpreußens besetzt. Doch blieb es für den übrigen Teil Ostpreußens zunächst noch ruhig. So erinnere ich mich an ein friedliches Weihnachtsfest. Wie immer gab es für jeden einen bunten Teller und für mich, dem Geburtstagskind, die traditionelle Geburtstagstorte. Nur unser Vater war wieder nicht dabei. Er war im Krieg, irgendwo in Kroatien. Von dort hatte er noch Ende November 1944 geschrieben. Wir sollten uns – so schrieb er mit Bleistift – um ihn keine Sorgen machen. Es war der letzte seiner mehreren Feldpostbriefe, das letzte Lebenszeichen von ihm.

Und dann war es so weit. Gegenüber dem übermächtigen Feind war der Widerstand der deutschen Truppen hoffnungslos. Mitte Januar 1945 hatten die Russen fast ganz Ostpreußen erobert. Frei war nur noch ein Gebiet südlich der Frischen Haffs und damit auch Wormditt. Von den Tragödien im übrigen Land bekamen wir nichts mit. Aber am 21. Januar 1945 abends und nachts hörten wir in der Ferne dumpfes Donnergrollen, und besorgt flüsterten die Großen: „Das ist der Russe.“ Und wer weiter dachte, wusste, dass auch dieses letzte fast völlig von den Russen eingeschlossene Gebiet alsbald erobert werden würde.

An diesem Tag, einem Sonntag, war Tante Lisa (43 J.) zu meiner Mutter (36 J.) gekommen. Sie hatte, weil ihr Mann (Onkel August) Reichsbahner war, erfahren, dass am nächsten Tag ein Zug nach Heiligenbeil, d. h. ans Frische Haff fahren würde. Meine Mutter sollte das Notwendigste packen und am nächsten Vormittag mit uns zum Bahnhof kommen. Tatsächlich war dies wohl eine der letzten Möglichkeiten, vor den Russen zu fliehen, und zwar über das zugefrorene Haff und weiter westwärts auf der Frischen Nehrung, um von dort irgendwie – im Treck, auf einem Schiff oder mit der Eisenbahn – in den Westen oder Norden zu gelangen. Ein festes Ziel vor Augen hatte man sicherlich nicht. Treibende Kraft für die Flucht Hals über Kopf war allein die Furcht vor den Russischen Soldaten, von deren Grausamkeiten man genug gehört hatte.

Mein Mutter erzählte uns Kindern nichts von alledem. Wir – das waren Helmut (9 J.), Irmgard (7 J.), ich (6 J.) und Gitti (4 J.). Wie gewohnt gingen wir mit Ausnahme von Gitti ganz normal zur Schule, wurden aber bald unter dem Vorwand, „zuhause wäre etwas Schlimmes passiert“, aus dem Unterricht nach Hause geholt. Auch jetzt noch sollte unsere Flucht geheim gehalten werden.

In der Nacht hatte meine Mutter das Notwendigste in einen großen Rucksack, für Helmut und Irmgard in kleinere Rucksäcke gepackt. Ich war – wie schon früher – für die Aktentasche mit den wichtigen Dokumenten verantwortlich. Die meiste Kleidung trugen wir am Körper, alles zwei- oder dreifach, besonders wegen der damals herrschenden Kälte. Alles lief in großer Ruhe ab – doch erinnere ich mich, dass ich wegen meines Wellensittichs „Hansi“ laut weinend protestierte, weil ich ihn nicht mitnehmen durfte. Und irgendwie bekam ich noch mit, dass irgendwer den Vogel gegen die Wand geschleudert hatte. Zu Fuß mit dem wenigen Gepäck auf unseren Rodelschlitten ging es dann noch am Vormittag zum zwei Kilometer entfernten Bahnhof, vorbei an den nutzlosen Panzersperren und dem vor Monaten zerbombten Haus.

Dort warteten schon die anderen aus unserer Familie. Insgesamt waren wir 13 Personen: Oma (70 J.). meine Mutter und zwei Tanten (36-43 J.) und neun Kinder (4-15 J.).1 Wir stiegen in den bereit gestellten Personenzug. Doch erst bei Anbruch der Dunkelheit, wohl wegen befürchteter Tieffliegerangriffe, fuhr der Zug ab. Zurück blieb unsere Heimatstadt mit all unserem Hab und Gut. Mitgenommen wurde nur das, was wir am Leib trugen und auf den Schlitten zogen, ferner unsere Erinnerungen und unsere Liebe zur Heimat.

Nachts, nach ca. 45 km langer Eisenbahnstrecke, kamen wir in Heiligenbeil an, wo wir in der Nähe des Frischen Haffs bei einer hilfsbereiten Bauernfamilie unterkamen. Nach einigen Tagen ging es weiter über das Haff zur Frischen Nehrung. Auf meterdickem Eis war die Entfernung von 8 km Luftlinie mit Pferd und Wagen normaler Weise schnell und gefahrlos zu überwinden. Doch nun war es gefährlich: Durch Bombeneinschläge war das Eis an vielen Stellen brüchig und damit unpassierbar geworden. Auch stand wegen einer kurzzeitigen Tauwetterlage einige Zentimeter hoch Wasser auf dem Eis. Schließlich konnte man wegen der Gefahr von Fliegerangriffen nur bei Dunkelheit rüber. Soldaten der Wehrmacht leisteten Großartiges. Sie sorgten dafür, dass kleine Kinder auf die Pferdefuhrwerke gesetzt wurden und manches schwere oder überflüssige Hab und Gut abgeladen wurde. Vor brüchigen Eisstellen wiesen sie – in eiskaltem Wasser stehend – den Wagenlenkern den sicheren Weg. Wer sich nicht daran hielt, ging mit Pferd und Wagen unter und fand zusammen mit seinen Leuten im Haff ein eisiges Grab. Gitte und ich wurden also hinten auf ein Fuhrwerk gehoben. Noch heute habe ich vor Augen, wie meine Mutter mit Helmut und Irmgard und die anderen Verwandten im eiskalten Wasser dem Wagen folgten. Tatsächlich aber war dieser Wagen so überladen, dass eine Achse brach, glücklicher Weise jedoch erst, als er das feste Ufer der Nehrung erreicht hatte. Gitti und ich wurden nun auf einen anderen Wagen gesetzt, was beinahe schrecklich geendet hätte. Bei der noch herrschenden Dunkelheit hatte meine Mutter nämlich diesen Wagen aus den Augen verloren; über Stunden suchte sie laut rufend nach uns. Und sie hatte Glück. Meine Schwester Gitte rief zurück: „Mutti, hier sind wir. Gerhard schläft.“ Tatsächlich saß oder vielmehr lag ich halb über dem rückwärtigen Wagenbrett hängend in einer Lage, aus der ich jederzeit vom Wagen hätte fallen können. Später hieß es, mein Schutzengel hätte mich festgehalten.

Auf der Nehrung gelangten wir zunächst nach Kahlberg, früher ein beliebtes Seebad, wo wir in den Vorjahren unsere Ferien verbracht hatten. Kahlberg kannte ich, der ich immer gern badete. Das war nicht die Drewenz zu Hause, in der ich beinahe ertrunken wäre, auch nicht die Wormditter Badeanstalt, das war vielmehr Kahlberg, mein Kindertraum: „Das große Wasser!“, wie ich es damals nannte. Dieses Wasser, die nach Nordwesten offene Ostsee, sollte nun, so hofften wir unsere Rettung sein. Ich sehe uns auf einer Düne sitzen und sehe ein großes Schiff weit weg vom Ufer vor Anker liegen. Kleine offene Boote fuhren mit vielen Flüchtlingen zu dem Schiff, wo diese einer nach dem anderen über eine außen hängenden Treppe an Deck kletterten. Ich meine, dass wir mehrere Tage dort auf Mitnahme hofften. Vergebens: Vielleicht auch nur deshalb, weil eine Tochter von Tante Lisa aus Angst vor dem Meer fürchterlich geschrieen hatte. Diese Angst war nicht unbegründet; denn zu jener Zeit erreichte längst nicht jedes Schiff das Ziel. So wurde zum Beispiel die Wilhelm Gustloff, die mit vielen Tausenden von Flüchtlingen am 28. Januar in Gotenhafen ablegt hatte, bald danach nicht weit vor Rügen von Torpedos eines russischen U-Boots getroffen und versenkt.

Weiter ging es nach einigen Tagen von Kahlberg aus westwärts, zunächst zu Fuß, dann auf einem Treckwagen über die ebenfalls zugefrorene Weichsel nach Danzig, wo wir in der Wohnung einer aus Wormditt stammenden, aber bereits geflüchteten Familie Unterschlupf fanden. Etwa eine Woche wohnten wir dort, immer nach einer Möglichkeit suchend, weiter in den Westen zu kommen. Und wieder war es Tante Lisa, die ihre Eisenbahner-Beziehungen ausspielte und für eine Weiterfahrt mit der Reichsbahn sorgte. Aber es sollten nur Familien von Reichsbahnern mitfahren dürfen, also nicht wir Nichteisenbahner. Doch schaffte es Tante Lisa, dass auch wir einsteigen durften. Viele Jahre später hat sie mir ihre „Lüge gebeichtet“: Dem Verantwortlichen habe sie gesagt, dass „ihre Schwester, meine Mutter also, ebenfalls mit einem Eisenbahner verheiratet sei. Die Papiere seien auf dem Haff oder der Nehrung verloren.“ Die von mir gehütete Dokumententasche blieb unerwähnt. So kamen wir fünf ebenfalls in den Zug. Zusammen waren wir jetzt noch elf Personen2.

Der Zug sollte durch Pommern, nördlich von Berlin durch Vorpommern, und Mecklenburg fahren und hatte als Ziel Hamburg-Altona. Es war nicht wie in Wormditt ein warmer bequemer Personenzug, sondern ein aus Viehwagen bestehender Güterzug. Auf dem Wagenboden war Stroh ausgebreitet und jeder Familie wurden einige Quadratmeter zugeteilt. Es war wohl eng, doch gefroren wurde nicht. Der Zug kam nur langsam voran. Meist fuhr er wegen möglicher Fliegerangriffe nachts und hielt auf freier Strecke – möglichst im Schutz von Wäldern oder auf kleineren Bahnhöfen. Die recht häufigen Halte waren nötig, weil es im Zug ja keine Toiletten gab und weil man auch Verpflegung beschaffen musste. Auf Bahnhöfen wurde schon mal warme Suppe ausgeteilt, sonst ging man in nahe Dörfer und besorgte Brot und Milch. Diese Ausflüge waren für mich schrecklich. Immer hatte ich Angst, meine Mutter würde nicht rechtzeitig zurückkommen und der Zug würde ohne sie weiterfahren. Später erzählte man mir, nur ich hätte soviel „Theater“ gemacht. Sonst gab es eigentlich nicht viel Aufregendes. Nur einmal: Der Zug stand in einem Bahnhof und in unserem Wagen herrschte eine richtig fröhliche Stimmung; denn schließlich waren wir ja den Russen entkommen. Meine Cousine Hedi spielte Mundharmonika: „Liebe kleine Schaffnerin, sag‘ wo fährt dein Wagen hin …“ Und plötzlich war da ein Heulen und Brummen und ein lautes Knattern von Maschinengewehren. Alle schrieen: „Tiefflieger!“ Und alle schmissen sich ins Stroh, ziemlich sinnlos, so Deckung zu finden und sich vor dem drohendem Kugelhagel aus den russischen Bordwaffen zu schützen. Doch recht schnell war der „Spuk“ vorüber. Es hieß: Die Flugzeuge seien wegen eines auf dem benachbarten Gleis stehenden Rote-Kreuz-Zuges abgedreht. Auch erfuhren wir, dass bei dem Fliegerangriff ein Heizer getötet worden sei.

Irgendwann – Ende Februar – kamen wir in Hamburg-Altona an. Dort wurden wir in einem großen Hochbunker untergebracht, bis es nach einigen Tagen mit einem Zug nach Norden in das vom Krieg wenig betroffene Schleswig-Holstein weiter ging. So kamen wir nach Rendsburg, eine Kreisstadt genau in der Mitte des Landes am Nord-Ostsee-Kanal gelegen, wo es eine Oberschule für Jungen (Herderschule) gab, die ich später bis zur Obersekunda besuchen sollte. Wieder schliefen wir in einem Bunker. Und ich erinnere ich mich an folgendes Bild: Ich bin in einem schwach beleuchteten Gang, habe eine dick mit Butter und Kunsthonig bestrichene Scheibe Weißbrot in der Hand und esse mit großem Appetit. Ich bin glücklich und fühle mich wie im Schlaraffenland. Alle sehen froh und ausgeglichen aus und haben keine Angst mehr: Wir sind gerettet. Und alles wird gut!

Wenige Tage später die letzte Fahrt: Sie war kurz und führte uns dorthin, wo ich nach den schönen Jahren in Wormditt weitere zehn schöne Jahre verbringen durfte. Die Rendsburger Kreisbahn hielt in Legan an, einem Nest mit wenigen Häusern. Hier wurden wir auf die umliegenden Dörfer verteilt, wobei es mehr Zufall war, in welchem Dorf und bei welchem Bauern man schließlich unterkam. Pferdefuhrwerke standen bereit. Wir stiegen auf den Wagen des Bauern Ohrt, zweitgrößter Bauer von Nienborstel, was sich als ein Glücksfall herausstellen sollte. Nienborstel war ein Bauerndorf im Süden des Kreises, gut 20 km von Rendsburg entfernt, mit rund 500 Einwohnern, ohne Kirche, mit einer dreiklassigen Volksschule, einem Bäcker, einem Lebensmittelladen, einer Meierei, einer Mühle und zwei Gastwirtschaften, eine davon mit einem großen Saal, in der alle möglichen Veranstaltungen stattfinden konnten, so vor allem Tanzfeste, sogar Theater und Kino, aber auch Versammlungen und auch für die Jugend Zusammenkünfte, Volkstanzproben und Tischtennisspiel.

Frau Ohrt war ausgesprochen freundlich. Wir aßen zusammen mit der Familie mit Magd und Knechten in der großen Küche. Zum Wohnen, eigentlich nur zum Schlafen bekamen wir das Elternschlafzimmer, weil ihr Ehemann noch nicht aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war. Statt zwei mussten nun fünf in dem Ehebett schlafen, vier nebeneinander, die kleine Gitti quer am Fußende. Gleichwohl: Es war schön dort. Die Ohrts hatten ebenfalls vier Kinder, die im Alter genau zu uns passten. Wir freundeten uns schnell an, und bei mir hat diese Freundschaft bis heute angehalten. Als Bauer Ohrt wieder da war, wurde unser Zimmer wieder von den Eheleuten benötigt. Wir mussten also noch einmal umziehen, was für uns, besonders für mich, keine Verschlechterung war. Wir wohnten nun – nicht weit von Ohrts entfernt – für die nächsten zehn Jahre in der Volksschule, genau im Zentrum des großflächigen Dorfes. Der Schulweg war nun noch kürzer: Nur die Treppe runter und man war in der Klasse. Das änderte sich allerdings später, als ich die Herderschule in Rendsburg besuchte. Dann waren es sechs Kilometer mit dem Fahrrad und von Legan 15 Kilometer mit der Kleinbahn und weitere 1½ Kilometer zu Fuß.

Das Wohnen in der Schule hatte Vorteile. Dort hatte ich ganz nah einen Lehrer, der irgendwie Ersatz für meinen vermissten Vater wurde und der mich ein wenig förderte. Im übrigen war dort auch außerhalb des eigentlichen Unterrichts immer was los. Kinder und Jugendliche trafen sich meistens auf dem Schulhof: So gab es zum Beispiel große Schnitzeljagden, so wurde Völkerball gespielt oder man quatschte miteinander. Die Einwohnerzahl des Dorfes hatte sich auf über tausend verdoppelt. Was aber nicht zu einem sonst vielfach beobachteten Flüchtlingsproblem führte. Die Kinder machten keine Unterschiede zwischen Einheimischen und Flüchtlingen, bei den Erwachsenen war es ebenso. Irgendwie wachte Nienborstel durch den Zuzug der Flüchtlinge auf – wie aus seinem Dornröschenschlaf. Erstaunlich ist es schon, dass die unterschiedlichen Landsleute aus Schleswig-Holstein, aus Ost- und Westpreußen, aus Pommern und Schlesien gut miteinander auskamen. Auch dass wir katholisch waren, machte nichts. Man fragte zwar nach und wunderte sich wohl auch über unsere katholischen oder sonstigen ostpreußischen Eigen- und Besonderheiten. Doch fühlte ich mich nie ausgegrenzt oder sonst wie benachteiligt.

1955 kam meine Familie im Rahmen des damaligen Umsiedlungsprogramms nach Nordrhein-Westfalen. Ich wäre gern in Holstein geblieben. Und insofern bedeutete der Umzug für mich wieder der Verlust einer gerade neu gewonnenen Heimat. Dieses Mal war es die äußeren Umstände, die Arbeitsmöglichkeiten für meine Geschwister, die mich wieder zu einem „Heimatvertriebenen“ machten. Das war in keiner Weise mit der Flucht vergleichbar. Doch fiel mir die Umstellung in Wuppertal nicht leicht.

Aber das ist eine andere Geschichte.

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