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1. Grundsatzfragen

Die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft

Christina von Braun

„Jude ist, wer eine Jüdin zur Mutter hat“ – die Gleichsetzung jüdischer Identität mit einer matrilinearen Deszendenz kannte das Alte Israel nicht.1 Die Geschichten der Bibel erzählen von einer langen Kette von Vater-Sohn-Erbschaften, wie sie auch bei den anderen Völkern der Antike üblich war. Auch der in den christlichen Evangelien aufgeführte „Stammbaum“ Jesu mit seinen 78 Generationen in rein männlicher Erbfolge ist ein typisches Beispiel für eine agnatische Linie. Weil König David laut Hebräischer Bibel von Gott die Zusage der „ewigen Thronfolge“ erhalten hatte (2 Sam 7,12f ), konstruieren das Lukas- und Matthäus-Evangelium für Jesus einen Stammbaum in rein männlicher Erbfolge, die ihn – der Weissagung entsprechend (Jes 11,1) – zum späten „Wurzelspross“ des königlichen Hauses David macht. Die vier „Stammmütter“, die in dieser Genealogie auftauchen, verdanken ihre Erwähnung nur dem Aussterben einer agnatischen Linie. Eine Ausnahme bildet einzig die unmittelbar letzte Generation, wo Jesus „aus dem Schoß einer Jungfrau“ geboren, also „unbefleckt“ gezeugt worden ist. Hier handelte es sich um eine Unterbrechung der Vater-Sohn-Erbfolge, die allerdings erst ab dem 3. Jahrhundert konstruiert wurde und letztlich ein Mittel darstellte, mit dem die Christen einerseits an der biblischen Patrilinearität festhalten, andererseits aber auch der rabbinischen Matrilinearität Rechnung tragen wollten und den Widerspruch schließlich durch eine neue göttliche Herkunft lösten.

Der Gegensatz von Judentum und Christentum, manchmal auch die Gemeinsamkeiten von Judentum und Hellenismus für die Antike, spielten ab dem 1. Jahrhundert eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft. Deshalb müssen bei der Beschreibung der Gemeinschaftsmerkmale und ihrer Veränderungen auch andere religiöse und kulturelle Entwicklungen berücksichtigt werden. Das Jahrhundert, in dem das Christentum geboren wurde, markiert auch den Beginn der jüdischen Diaspora. Von diesem historischen Moment an musste die jüdische Gemeinde nach ganz neuen Formen des Zusammenhalts suchen. Viele der Entscheidungen, die nun getroffen wurden, waren wiederum beeinflusst von der Abgrenzung gegen das Christentum wie auch vom Dialog mit der anderen Religion (siehe hierzu auch die Beiträge von Liliana Feierstein, S. 99 und Joachim Valentin, S. 125).

Die erste Basis des jüdischen Gemeinschaftszusammenhalts bildete die Hebräische Bibel, der heilige Text, der ab dem 6. Jahrhundert v. u. Z. allmählich kanonisiert, d. h. endgültig stillgelegt wurde. Der Prozess begann mit Josija, König von Juda (638–608 v. u. Z.), wurde dann im babylonischen Exil um 587 v. u. Z. fortgesetzt und verwandelte die dann entstehende jüdische Gemeinschaft allmählich in die weltweit erste „textual community“2: Eine Volksgruppe definierte sich weder durch ein bestimmtes Territorium noch durch eine erbliche Herrscherdynastie, sondern durch eine heilige Schrift. Die hohe Bedeutung, die dem Text beigemessen wurde, schlug sich auf unterschiedliche Weise nieder: zunächst dadurch, dass mit den „Erzählungen“ der Bibel zugleich Gesetze formuliert wurden. Die fünf Bücher Mose, die Tora, hatten als erste einen normativen Charakter. Ihnen wurden prophetische und weisheitliche Schriften zur Seite gestellt. Um etwa 100 u. Z. wurde endgültig festgelegt, welche hebräischen Schriften zum dreiteiligen Tanach gehörten (siehe hierzu auch den Beitrag von Elisa Klapheck, S. 81). Zunächst blieben noch griechisch übersetzte Bibelversionen neben dem Tanach bestehen, sie wurden später jedoch verworfen. Die Schrift war in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: einerseits als heiliger Text, andererseits setzten die Mystiker, vor allem die Kabbalisten des Mittelalters, die Tora aber auch mit Gott gleich (siehe hierzu auch den Beitrag von Karl Grözinger, S. 191). Andere sahen im heiligen Text „das Leben“ repräsentiert. Eine Tora, selbst wenn sie zerlesen und zerrissen ist, darf nie „weggeworfen“ werden; sie wird bestattet wie ein menschlicher Körper. Die Gleichsetzung von Tora und Leben findet auch darin ihren Ausdruck, dass manche kinderlose Paare der Gemeinde zum Ersatz eine Torarolle spenden: Durch diesen Beitrag soll das „Fortleben“ der Gemeinde in der Schrift gesichert werden.

Der zweite Faktor des Zusammenhalts waren die Ritualgesetze: Sie lassen die vielen einzelnen Körper zu einem „Gemeinschaftskörper“ zusammenwachsen. Viele der 613 Vorschriften richten sich an die Leiblichkeit: Das gilt insbesondere für die Beschneidung, die für die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft von zentraler Bedeutung ist. Es gilt aber auch für die Speisegesetze, den Umgang mit Sexualität, Niederkunft, Krankheit und Tod, und es gilt für die nidda-Gesetze, die sich auf das weibliche Blut (während der Menstruation und nach der Niederkunft) beziehen. Manche der Regeln (z. B. die zur Beschneidung und zur Reinheit) haben eine hochaufgeladene Symbolik, mit der sich Anthropologen wie Mary Douglas,3 Kulturhistoriker wie David Biale4 und viele Religionswissenschaftler auseinandergesetzt haben. Einige Vorschriften – vor allem die Sexualgesetze – zielen auf die Regulierung der Fortpflanzung und den physischen Erhalt der Gemeinschaft ab: Das Regelwerk der Sexualität unterstand dem wachsamen Auge der Priester, später der Rabbinen (siehe hierzu auch den Beitrag von Tamara Or, S. 255).

Der dritte Faktor des Zusammenhalts war die Bestimmung der Herkunft. In dieser Hinsicht setzte sich mit dem Beginn der Diaspora im 1. Jahrhundert u. Z. ein grundlegender Wandel durch, der den meisten sonstigen Entwicklungen in der antiken Welt konträr war: Das Judentum entschied sich für das Prinzip der Matrilinearität, d. h. eine Form von Vererbungskette, die in weiblicher Linie – von Mutter zu Tochter – verläuft. Um zu begreifen, wie es zu diesem Wandel kommen konnte, sind mehrere Stränge zu berücksichtigen, die hier zusammenwirkten: 1. die Rolle der Kommunikationsmittel für die Entstehung von Gemeinschaftskohäsion; 2. die Charakteristika patrilinearer Erblinien und die sich davon abgrenzenden Eigenschaften jüdischer Matrilinearität; 3. das Verhältnis von Judentum und antiker Welt: Die Abgrenzung gegen Hellenismus und Rom ging später über in die Abgrenzung gegen das Christentum. Da bei jeder Form von Identitätskonstruktion – ob sie normiert ist oder nicht – die Abgrenzung gegen andere Identitäten von zentraler Relevanz ist, muss die Zugehörigkeitsdefinition auch immer das, was außerhalb der eigenen Grenzen angesiedelt wird, im Blick behalten. Was für die Reinheit gilt – es gibt keine positiven Reinheitsbestimmungen, sondern nur solche, die definieren, was „unrein“ ist5 – gilt auch für Zugehörigkeitsregeln.

Kommunikation

Entscheidend für den Faktor Kommunikation war das Schriftsystem. Die Heiligen Schriften aller drei monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam (Der Koran nennt sie die „Religionen des Buches“) – sind in alphabetischen, also phonetischen Schriftsystemen geschrieben: Im Gegensatz zu logographischen Schreibweisen, bei denen Bilder Worte oder Ideen repräsentieren, überträgt diese Schriftart gesprochene Laute in visuelle Zeichen. Der Vorgang impliziert einen kaum zu überschätzenden Abstraktionsschub, weil das Alphabet die gesprochene Sprache dem Körper entreißt und den „Lebenssaft“ der gesprochenen Sprache, der nicht nur eine Gemeinschaft zusammenhält, sondern auch die psychische, emotionale und intellektuelle Verfasstheit des Einzelnen prägt, auf eine körperferne Weise zirkulieren lässt. Nicht durch Zufall entstand mit diesem Schriftsystem, das im semitischen Alphabet seine früheste Ausgestaltung fand, auch zum ersten Mal ein Gott, der jenseits der physischen Welt verortet wird und der sich einzig in den Buchstaben der Schrift offenbart. Die Entwicklung des Alphabets begann um ca. 1500 und war um 1000 v. u. Z. voll entwickelt. In der Bibelforschung gelten die Geschichte von Moses und Exodus heute als „Erzählungen“, mit denen nicht reale historische Ereignisse, sondern eine neue Weltinterpretation angeboten – oder ein Mentalitätswandel vollzogen – wurde. Trotz intensiver Forschung gibt es weder für eine Versklavung des jüdischen Volkes in Ägypten noch für eine Massenauswanderung archäologische Belege. (An Orten wie auf Elephantine, einer Flussinsel des Nil, gab es jüdische Siedlungen innerhalb Ägyptens, aber sie umfassten eine kleine Bevölkerungsgruppe, die auch nicht versklavt war.) Auch für die historische Existenz der Gestalt von Moses gibt es keine Belege, was noch dadurch befördert wird, dass er laut der Bibel an einem „unbekannten Ort“ begraben wurde. Aber auch wenn sie keine historische Realität beschreiben, so können die „Erzählungen“ der Bibel dennoch von einem historisch relevanten Sachverhalt handeln – und ein Faktor, an den Exodus erinnert, ist die Herauslösung eines neuen phonetischen Schriftsystems, des Alphabets, aus dem piktoralen System der ägyptischen Hieroglyphen und anderer antiker Schriftsysteme. Das hebräische Alphabet war das erste überhaupt und stellte einen radikalen Bruch mit den bis dahin bestehenden Schreibsystemen dar. Zwar war die Keilschrift ebenfalls eine Lautschrift (sie wurde um 3300 v. u. Z. von den Sumerern entwickelt, von Akkadern, Babyloniern, Assyrern, Hethitern und Persern verwendet und hielt sich bis ins 1. Jahrhundert) und auch die ägyptische Kursivschrift umfasste phonetische Zeichen, aber beide Schriftsysteme hatten den Nachteil, mit sehr vielen Zeichen zu operieren, während das Alphabet mit 20 bis 40 Zeichen auskam. Das machte es leichter erlernbar und hatte zudem den Vorteil, dass so gut wie jeder lesen und schreiben lernen konnte und somit Zugang zu Wissen hatte. Heute ist das Alphabet (in unterschiedlicher Gestalt) das weltweit meist verwendete Schriftsystem; die eigentliche „Mutter“ aller anderen Alphabete ist jedoch semitisch.

Das Erstaunlichste am Alphabet ist zweifellos, daß es nur ein einziges Mal erfunden wurde. Ein semitisches Volk oder semitische Völker schufen es um das Jahr 1500 v. Chr. im selben geographischen Raum, in dem auch die erste aller Schriften, die Keilschrift, auftauchte, allerdings runde 2000 Jahre später. […] Jedes existierende Alphabet – das hebräische, ugaritische, griechische, römische, kyrillische, arabische, tamilische malaysische, koreanische – rührt in irgendeiner Weise von der originären semitischen Entwicklung her.6

Zwar leiteten sich die Zeichen des neuen phonetischen Schriftsystems von den ägyptischen Hieroglyphen ab, aber sie verwendeten deren Bilder, um den Lauten visuelle Gestalt zu verleihen.7 Natürlich ist das Alphabet nicht die einzige Wirkmacht, die zur Entstehung einer neuen Religionsform führte, aber seine Bedeutung für einen grundlegenden Mentalitätswandel der alten Welt ist kaum zu überschätzen.

Allerdings ist Alphabet nicht gleich Alphabet: Das semitische Alphabet schrieb nur die Konsonanten. Das bedeutet, dass dieses Schriftsystem nur lesen kann, wer auch die Sprache spricht. Das hat zur Folge, dass im Judentum der gesprochenen Sprache, neben der Heiligen Schrift, eine hohe Bedeutung beigemessen wird – ob in der Liturgie oder in der Exegese, die im Gespräch zwischen Gelehrten oder Lehrer und Schüler stattfindet. Der Text ist eine „Botschaft“ aus dem Transzendenten, doch wie diese Botschaft ausgelegt wird, wird auf Erden und zudem oft mündlich ausgefochten, wenn auch einige der Erläuterungen später verschriftet wurden (siehe hierzu auch die Beiträge von Elisa Klapheck, S. 81 und Stefan Schreiner, S. 147). Eine kleine „Geschichte“ aus dem Babylonischen Talmud illustriert auf anschauliche Weise dieses Verhältnis von Text und Sprechen: Mehrere Rabbinen streiten sich über die Auslegung einer Textstelle in der Heiligen Schrift. Rabbi Elieser sagt zu den anderen:

„Wenn die Halacha meiner Meinung entspricht, so werden sie es vom Himmel her beweisen. Da ging eine Hallstimme hervor und sprach: was habt ihr mit Rabbi Elieser? Die Halacha ist auf jeden Fall wie er sagt. Da stellte sich Rabbi Jehoschua auf seine Füße und sagte: ‚Nicht im Himmel ist sie‘. Rabbi Jirmeja sagte: daß die Weisung schon am Berg Sinai gegeben worden ist. Wir kümmern uns nicht um eine Art Stimme, denn schon am Berg Sinai hast du in die Weisung geschrieben: ‚Sich zur Mehrheit neigen‘.“8

Mit anderen Worten: Gott hat zwar die Gesetze geschrieben, aber ihre Auslegung bleibt den Menschen vorbehalten.

Ganz anders das griechische Alphabet, das 200 Jahre nach dem semitischen entstand und das über Hellenismus und das lateinische Alphabet Roms schließlich auch zum Schriftsystem des Christentums wurde: In Griechenland wurde im 8. Jahrhundert v. u. Z. das sogenannte volle Alphabet eingeführt, das je eigene Zeichen für Vokale und Konsonanten bietet. Dieses Schriftsystem bedurfte nicht der Oralität; folglich verlor die orale Kommunikation an Bedeutung: Sie wurde abgewertet und zugleich an die Normen der Schrift angepasst.

Dieser Unterschied zwischen den beiden Alphabeten hatte indirekt Einfluss auf Patrilinearität und Matrilinearität. In allen drei Religionen, deren Heilige Schriften in alphabetischen Schriftsystemen geschrieben sind, findet das jeweilige Verhältnis von Oralität und Schriftlichkeit in der Geschlechterordnung sein Spiegelbild: Die geschriebene (unvergängliche) Sprache wird der Männlichkeit zugeordnet, während der weibliche Körper die (flüchtige und wandelbare) gesprochene Sprache repräsentiert. Das volle Alphabet Griechenlands machte daraus eine grundsätzliche Dichotomie. Die christlichen Gelehrten des Mittelalters bezeichneten die (zumeist lateinischen) Schriften als „Vatersprache“, während sie die gesprochenen, regionalen Sprachen „Muttersprache“ nannten. Da dank des vollen Alphabets das Schrifttum das gesamte theologische Lehrgebäude umfasste, wurde „dem Vater“ so die alleinzeugende Kraft zugewiesen. Das fand auch seinen theologischen Niederschlag. In den christlichen Lehren erzeugt ein Gottvater in Christus seinen „eingeborenen Sohn“. Dafür gibt es in der jüdischen Religion keine Parallelen: Gott ist der Schöpfer der Welt oder ihr „König“, der über die Menschen herrscht. Das Gottesbild der Hebräischen Bibel kennt auch einige anthropomorphe Beschreibungen – etwa die Hand oder das Auge Gottes. Aber Gott wird nicht als „Vater“ bezeichnet.9 Auch gilt der „Messias“, auf den der Gläubige hofft, nicht als „Sohn Gottes“, er ist bestenfalls sein Abgesandter, geschweige denn, dass Gott einen Sohn in Menschengestalt zeugt. Eine solche Vorstellung ist für die jüdische Religion, in deren Zentrum die unüberwindbare Grenze zwischen Gottes Ewigkeit und menschlicher Sterblichkeit steht, undenkbar. Dieses theologische Konzept findet seine Parallele im Schriftsystem. Beim semitischen Alphabet blieb die geschriebene Sprache auf die gesprochene angewiesen, „um zur Welt zu kommen“.10 Diese Offenheit gegenüber der Oralität schuf einerseits die Voraussetzungen für die Flexibilität der Interpretation, war aber auch nicht irrelevant, als sich das Judentum in den ersten zwei Jahrhunderten für ein matrilineares Prinzip der Zugehörigkeit entschied. Dass die Schriftzeichen ohne eine (als weiblich) definierte Oralität nicht „funktionieren“ konnten, hat es zweifellos erleichtert, dem weiblichen Körper auch eine Bedeutung für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft beizumessen.

Die Septuaginta stellte die Unterscheidung zwischen griechischem und hebräischem Alphabet zunächst in Frage. Es handelt sich um die älteste Übersetzung der hebräisch-aramäischen Bibel in die griechische Alltagssprache; sie entstand ab ca. 250 v. u. Z. im hellenistischen Judentum. Zuerst befassten sich die Übersetzer nur mit der Tora, dann aber auch mit den anderen Büchern, deren Übersetzung bis etwa 100 u. Z. vorlagen. Handschriften, die frühere Versionen der jüdischen Bibel wiedergeben, sind nur in Fragmenten erhalten. War die griechische Bibelübersetzung einem innerjüdischen Bedürfnis entsprungen (viele Juden, vor allem die von Alexandrien, verorteten sich selbst in der Kultur des Hellenismus) und von den Rabbinen zunächst gerühmt worden, so änderte sich das: „Als manche ungenaue Übertragung des hebräischen Textes in der Septuaginta und Übersetzungsfehler die Grundlage für hellenistische Irrlehren abgaben, lehnte man die Septuaginta ab.“11 Nach der Spaltung zwischen Christentum und rabbinischem Judentum im 1. Jahrhundert wurde im Judentum ausschließlich das hebräische Alphabet verwendet.

Die alleinzeugende Macht, die das volle griechische Alphabet der Schrift zuwies – die gesprochene Sprache sollte „nach ihrem Ebenbild“ gestaltet werden – hatte nicht nur Rückwirkungen auf Philosophie und Wissenschaft, später auch auf die theologischen Lehren des Christentums; sie fand auch in den Zeugungstheorien der griechischen Klassik ihren Ausdruck. Laut Aristoteles enthält der männliche Samen alle Komponenten des Lebenskeims in sich, während der mütterliche Körper die „Materie“ (von mater, Mutter) liefert, die durch dieses Prinzip „geformt“ wird.12 Aus diesem Konzept entwickelte sich wiederum die Vorstellung einer männlichen Blutslinie, die vom Prinzip einer geistigen Zeugung bestimmt ist. Von Griechenland ging sie später aufs Christentum über. Während einerseits die Rabbinen das Prinzip jüdischer Matrilinearität auszuformulieren begannen, entwickelte Paulus die Grundlinien einer „christlichen Genealogie“. Zu diesen gehörte auch ein spezifisches Geschlechterverhältnis, das die Frau zur Schöpfung des Mannes erklärte. So lautete seine Begründung für die Forderung nach der Verschleierung der Frau im Gotteshaus: „Zwar darf der Mann seinen Kopf nicht verhüllen, denn er ist Abbild und Abglanz Gottes; die Frau aber [muß es tun, denn sie] ist Abglanz des Mannes. Es stammt ja [ursprünglich] nicht der Mann aus der Frau, sondern die Frau aus dem Manne.“13 Dass Paulus die biologische Realität derartig umkehren konnte, wird nur verständlich, wenn man an die Stelle von „Mann“ und „Frau“ die Begriffe „Schrift“ und „Mündlichkeit“ setzt: Im vollen, griechischen Alphabet ist die gesprochene Sprache nicht die Mutter der Schrift, sondern ihr „Abglanz“. Die Schrift ist es, die die Sprache gestaltet, und diese Umkehrung wird an den Geschlechterrollen exemplifiziert. Kurz, die männlich-zeugende Macht, die dem geschriebenen Wort beigemessen wurde, war einer der Gründe dafür, dass in Griechenland und Rom das patrilineare Prinzip dominierte und dann auch vom Christentum übernommen wurde, das seine Schriftkultur vom Hellenismus und der lateinischen Sprache ableitete.

Die Bedeutung des Sprechens, das von der Leiblichkeit nicht zu trennen ist, bewirkte im Judentum, dass die leibliche Fortpflanzung von zentraler Bedeutung war, während für das Christentum die geistige (väterliche) Genealogie in den Vordergrund rückte und die leibliche ihr nachgeordnet wurde. Die Kirche interessierte sich wenig für die biologische Fortpflanzung – oder nur insofern, als diese dem Geist Realitätsmacht verlieh. Sie galt bestenfalls als „Investition“ des Geistes.14 Auf beiden Seiten übten die Geistlichen, Rabbinen wie christliche Priester, eine strenge Kontrolle über Sexualität und Genealogie aus. Doch das geschah mit unterschiedlicher Zielsetzung. Die Rabbinen wollten auf diese Weise den Erhalt der Gemeinschaft sichern. Bei den christlichen Priestern ging es eher um die geistige Fortpflanzung: im theologischen und später auch im akademischen Sinn von Vätern, die geistige Söhne zeugen.15 Natürlich ist diese Darstellung „jüdischer“ und „christlicher“ Genealogien schematisch gedacht; die historische Realität war vielschichtiger. Entscheidend ist jedoch, dass diese Modelle eng mit den Schriftsystemen zusammenhingen und diese eine erhebliche Wirkmacht entfalteten.

Das Konsonantenalphabet war aber nur ein – und nicht einmal der entscheidende – Faktor bei der Entstehung jüdischer Matrilinearität. Wäre dies der Fall, hätte sich für den Islam eine ähnliche Entwicklung zur mütterlichen Abstammungslinie vollziehen müssen. Denn das arabische Alphabet schreibt ebenfalls nur die Konsonanten. Auch in der muslimischen Kultur spielt die Oralität eine wichtige Rolle und das hat auch einen gewissen Einfluss auf die Geschlechterordnung,16 führt aber nicht zu einer weiblichen Erblinie. Die jüdische Matrilinearität hing vor allem mit den Bedingungen der Diaspora zusammen.

Das Prinzip Patrilinearität

Patrilinearität ist nicht gleich Patriarchat, ebenso wenig wie Matrilinearität mit Matriarchat verwechselt werden darf. Im einen Fall geht es um die genealogische Folge und die Einordnung der Kinder in eine Genealogie mit einer väterlichen oder mütterlichen Erblinie, im anderen um die soziale oder politische Vorherrschaft des einen Geschlechts. In matrilinearen Gesellschaften, die ihre Verwandtschaftsverhältnisse nach dem Gesetz der „Mutterlinie“, „Mutterfolge“ oder „uterinen Deszendenz“ definieren, orientiert sich die Abstammung – mithin auch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft – an einer weiblichen Genealogie. Das Judentum, von dem die Hebräische Bibel erzählt, war patrilinear. Genau genommen handelte es sich bei der von den Rabbinen entwickelten jüdischen Matrilinearität auch um eine Mischform: Zwar wird die Zugehörigkeit zum Judentum seit der Diaspora in weiblicher Erbfolge bestimmt, doch die Familienzugehörigkeit orientiert sich an der väterlichen Seite. So etwa die Zugehörigkeit zum Stamm der „Kohanim“, der in der Nachfolge von Aaron, dem Bruder von Moses, steht. Ähnliches gilt für die Zugehörigkeit zu den „Leviten“, benannt nach dem Stammvater Levi, aus denen sich traditionell die Gelehrten der Gemeinde rekrutierten. Auch die Zugehörigkeit zum sephardischen oder aschkenasischen Judentum orientiert sich am Vater.

Im Fall der Patrilinearität werden Eigentum, soziale Eigenschaften (Ämter) und Familiennamen in väterlicher Linie vererbt. Diese definiert sich zwar als „Blutsverwandtschaft“, faktisch ist dies aber kaum möglich, denn der sichere Vaterschaftsnachweis ist erst seit den 1980er Jahren möglich, dank der Erkenntnisse der Genetik. Die Unsicherheit der Vaterschaft ist einerseits der Grund für die strenge Monogamie patrilinearer Blutslinien; sie impliziert die Forderung nach einer strikten Bewachung der Frau. Andererseits tendieren patrilineare Gesellschaften zu einer „Vergeistigung der Manneskraft“ oder zu Zeugungstheorien, wie sie von Aristoteles formuliert wurden. Im Rahmen der Patrilinearität entstehen so auch „genealogische Fiktionen“, die etwa einem Herrscher (Alexander dem Großen) eine göttliche Herkunft bezeugen oder ein Herrscherhaus (die christlich-europäischen Dynastien) von „sakralem Blut“ ableiten.17 Das Phänomen bewirkt auch sogenannte genealogische Amnesien im Interesse einer Legitimierung gegenwärtiger Machtstrukturen. Die „genealogische Fiktion“ erlaubt es, Idealmodelle zu entwerfen, die wiederum auf die realen Verwandtschaftsstrukturen zurückwirken. Das gilt etwa für die christliche Gesellschaft, der das Konzept einer „geistigen Zeugung“ Christi als Rechtfertigung für kirchliche Genealogien diente.18 Die „genealogische Fiktion“ kann sehr viel leichter in patrilinearen Kulturen entstehen: Da diese den Beweis der Vaterschaft nicht erbringen können, entstehen Freiräume für Imaginationen.

Allgemein lässt sich sagen, dass die Patrilinearität Ausdruck einer Dominanz der Kultur über die Natur darstellt. Diese war prä-alphabetisch, wurde aber durch die der phonetischen Schrift inhärente Abstraktion verstärkt. Sigmund Freud hat den Zusammenhang zwischen kultureller Dominanz und Patrilinearität deutlich formuliert. Er bezeichnet den Prozess des „Kulturfortschritts“ als „Wendung von der Mutter zum Vater“ und als „Sieg der Geistigkeit über die Sinnlichkeit“. Seine Erklärung für diese Parallelisierung: „Die Mutterschaft ist durch das Zeugnis der Sinne erwiesen, während die Vaterschaft eine Annahme ist, auf einen Schluß und auf eine Voraussetzung aufgebaut.“19 Der Vater repräsentiert also das „Prinzip Geist“ aus dem einfachen Grund, dass sich die Vaterschaft nicht feststellen lässt. Die Zuweisung des Geistigen an den männlichen Körper basiert damit auf dem Prinzip des pater semper incertus est, das schon das römische Recht kannte. Das ist ein Indiz, dass die Patrilinearität nur so lange aufrechtzuerhalten ist, als sich die Vaterschaft nicht feststellen lässt. Da also die Patrilinearität auf dem Unwissen über die leibliche Vaterschaft beruht, wird sie heute – mit einer genaueren Kenntnis der Zeugungsvorgänge – auch in Frage gestellt. Dieser Hintergrund des patrilinearen Prinzips ist wichtig, um zu verstehen, warum das Judentum bei der Frage der erblichen Zugehörigkeit eine Richtung einschlug, der dem Rest der antiken Welt und auch der eigenen Vorgeschichte konträr war. Es könnte aber auch erklären, warum heute – zumindest im Reformjudentum – das rein matrilineare Prinzip in Frage gestellt wird.

Judentum und Hellenismus

Die Entscheidung zu einer „anderen“ Erblinie hing eng mit der historischen Situation zusammen, in die das Judentum durch die Diaspora geriet. Diese begann schon lange vor der zweiten Zerstörung des Tempels, mit dem Exil in Babylon, wo nicht nur ein Teil der Bibeltexte formuliert und kanonisiert wurde, sondern auch ein Regelwerk entstand, durch das die jüdische Gemeinschaft in der Fremde zusammengehalten werden sollte. Die Kultur Babylons stellte eine geringere Bedrohung für die jüdische Gemeinschaft dar als der Hellenismus, dessen Kultur auf einem ähnlichen Schriftsystem und damit auf einem hohen Grad an Abstraktion basierte. Lange vor der Entstehung des Christentums war der spätere christlich-jüdische Konflikt im Gegensatz griechisch-jüdisch angelegt. Eines seiner Symptome waren die unterschiedlichen Rechtskulturen, die sich – wie später auch beim Verhältnis von Judentum und Christentum – sowohl in Parallele als auch in Konkurrenz zueinander herausbildeten.

Im 7. Jahrhundert v. u. Z. erklärte Josija das „Buch der Lehre“ von Moses, Grundstock von Deuteronomium, zum Gesetzbuch. Laut Israel Finkelstein und Neil A. Silberman erhielt das Buch Exodus in der zweiten Hälfte des 7. oder Anfang des 6. Jahrhunderts v. u. Z. seine endgültige Form.20 Das entspricht in etwa dem Beginn des babylonischen Exils (597 v. u. Z). Nur kurze Zeit später vollzog sich auch in Griechenland ein Prozess der Gesetzeskanonisierung: Ca. 575 v. u. Z. setzte Solon in Athen ein Regelwerk durch, das prägend werden sollte für die griechische Kultur. Josijas Kanonisierung der Tora markiert den Beginn eines praktizierten Monotheismus. Dieser war durchsetzbar, weil er auf der Wirkmacht der (bleibenden) Schrift basierte: Mit einem Buch des Gesetzes aus Mose Hand wurde es möglich, „ein für allemal vollendete Tatsachen zu schaffen, also jeden Versuch einer Kritik an den Maßnahmen bzw. einer Revision als gegen den erklärten und schriftlich nachprüfbaren Willen JHWHs zu brandmarken“.21 Nicht nur bestätigte die unvergängliche Schrift das ewige Wort Gottes, sondern als „Wort Gottes“ konnte die Schrift auch ihrerseits Anspruch darauf erheben, für eine unwiderlegbare Gültigkeit zu stehen. Ähnlich konnte sich Solons Gesetzesreform, die in derselben Epoche und zu einer Zeit formuliert wurde, in der das griechische Alphabet auf das Denken Athens Einfluss nahm,22 nur deshalb durchsetzen, weil sie schriftlich fixiert wurde.

Die Zerstörung des davidischen Tempels und der Beginn des Exils in Babylon – eine erste diasporische Erfahrung – trugen zur Entwicklung einer spezifisch jüdischen Kultur bei und bewirkten, dass jüdische und griechische Denkwelten schon bald in Konkurrenz zueinander gerieten. Im babylonischen Exil entstand etwas Neues: „Ein Volk und eine Religion, die ihre Identität nicht von einem Land und einem Staat ableiten, sondern von Normen wie Beschneidung, Schabbat, Speisegesetzen und einer allgemeinen gemeinsamen Tradition, die unabhängig von einem bestimmten Land ist und überall gelebt werden kann.“23 Gerade weil einige jüdische Gelehrte in der „Babylonisierung“ (Anpassung an Babylon) eine Gefahr sahen, verstärkten sie das von Josija geschaffene religiöse Regelwerk. Die jüdische Gemeinschaft erhielt so eine erste diasporakompatible Konstitution mit Verfassung, Richtlinien usw. (siehe hierzu auch den Beitrag von Liliana Feierstein, S. 99).

Noch im 5. Jahrhundert trat der Unterschied zum Griechentum deutlich zutage. Im Jahr 457 v. u. Z. entsandte der persische Großkönig Artaxerxes I. zwei hohe Staatsbeamte, die der jüdischen Priesteraristokratie angehörten, darunter Esra, nach Jerusalem. Die Perser wollten eine Region beruhigen, deren Aufständische von Athen und dem Attischen Seebund unterstützt wurden. Esra wurde erlaubt, mit einer „Anzahl von Israeliten, Priestern, Leviten, Sängern, Torwächtern und Tempeldienern nach Jerusalem“ zu reisen.24 Im Jahr 440 riefen er und Nehemia die Bevölkerung von Jerusalem vor die Tore der Stadt und ließen die Tora laut verlesen. Hatte es vorher die Propheten gegeben, so begann mit Esra die Epoche der „Schreiber“ und Schriftgelehrten. Sie legten den Grundstein für die Überlieferung der Schrift und machten sie zugleich verständlich.25 Diese Tradition wird seither von den „Bibellesern“ weitergeführt.

Bis zu dieser Aktion blieb die Heilige Schrift Insider-Wissen und ihr Inhalt den Priestern vorbehalten. Nun jedoch wurde die Tora nicht nur laut verlesen, sondern auch ausgelegt: Die Heilige Schrift wurde zum Allgemeinwissen der Gemeinde, und die Befähigung zum Lesen und Schreiben wurde zur Pflicht, zumindest für ihre männlichen Mitglieder. Bis dahin hatte keine andere Kultur oder Religion der alten Welt die allgemeine Schriftkundigkeit propagiert. Im Gegenteil: Je mehr sich die ägyptische Priesterkaste in ihrer Macht bedrängt fühlte, desto unzugänglicher machte sie die heiligen Texte – etwa durch die Vermehrung der Schriftzeichen.26 Ganz anders bei der jüdischen Gemeinschaft. Dort lebte von nun an Gottes Wort in jedem einzelnen Körper seines Volkes, nicht nur bei den Gelehrten und Geistlichen. Im Buch Exodus, das in eben dieser Zeit verfasst wurde, heißt es: Die Israeliten „sollen erkennen, daß ich der Herr, ihr Gott bin, der sie aus Ägypten herausgeführt hat, um in ihrer Mitte zu wohnen“.27 Das bedeutet, so Alfred Marx, dass Gott sein Volk nicht aus Ägypten herausgeführt hat, „um seinem heimatlosen und unterdrückten Volk ein eigenes Land zu geben“, sondern „um in seiner Mitte zu wohnen“. Das Novum gegenüber der vorexilischen Zeit bestehe darin, dass Gott nicht im Tempel, sondern „inmitten Israel“ wohnt. „Diese Wohnung wird jetzt zum Ort schlechthin der Begegnung zwischen Gott und seinem Volk.“28

Für Toragelehrte wie Esra und Nehemia, die selbst der Herrscherschicht angehörten, bedeutete die allgemeine Zugänglichkeit der Heiligen Schrift einen erheblichen Machtverlust. Warum trafen sie dann eine solche Entscheidung? Vermutlich blieb ihnen gar keine andere Wahl: Im Mittelmeerraum hatte sich eine andere Kultur auszubreiten begonnen, und auch sie beruhte auf einem alphabetischen Schriftsystem. Die hellenistische Idee von Kultur erreichte zwar erst mit Alexander dem Großen den Punkt, „wo es möglich wurde, zu sagen, man sei Hellene nicht durch Geburt, sondern durch Bildung, so daß auch ein als Barbar Geborener ein wahrer Hellene werden konnte“.29 Doch schon lange vorher hatte der Hellenismus eine „kosmopolitische“ Dimension und das griechische Denken eine „universalistische“ Form angenommen, deren spezifisch „logische“ Strukturen in das Denken des östlichen Mittelmeerraums einzudringen begann. Der Hellenismus breitete sich nicht in Form von Kolonisierung oder militärischer Unterwerfung aus, wie sie die Griechen zwar immer noch (aber immer weniger) betrieben; vielmehr stellte er eine Form von „geistiger Eroberung“ dar, wie sie sich weder militärisch noch politisch je hätte herbeiführen lassen. Tatsächlich entfaltete der Hellenismus erst dann seine höchste Wirksamkeit, als Griechenland schon längst kein politisches oder militärisches Schwergewicht mehr war. Dadurch ergab sich eine weitere Ähnlichkeit von Hellenismus und Judentum. Nicht durch Zufall ist der Begriff „Diaspora“, der heute zumeist mit dem Judentum verbunden wird, der griechischen Sprache entnommen: Die Magna Graecia stellte ein diasporisches Modell dar, das auf die damalige Welt großen Einfluss ausübte.30 Eben weil es sich beim Hellenismus um eine geistige Eroberung und „universelles Modell“ handelte, gab es eine bemerkenswerte Bereitschaft der „Besiegten“, diese Kultur anzunehmen. Obgleich die Nichthellenen den Hellenen zahlenmäßig weit überlegen waren, kam es zur raschen Verbreitung der griechischen Sprache.31 Sofern der Osten „überhaupt nach literarischem Ausdruck strebte“, so Hans Jonas, musste er sich „in griechischer Sprache und Manier äußern“.32 In dieser Form begann der Einfluss Griechenlands auch auf die jüdische Kultur überzugreifen: Dafür spricht die Entstehung der Septuaginta und davon erzählen auch die Makkabäer-Bücher, in denen von Ereignissen aus dem 2. Jahrhundert v. u. Z. und den innerjüdischen Konflikten zwischen hellenisierten Juden und solchen, die sich dagegen auflehnten, berichtet wird.

Offenbar ging es den jüdischen Gelehrten aus Babylon um diese Anziehungskraft des Hellenismus. In Persien lebend, waren sie mit diesem schon früh konfrontiert worden. Für den Zusammenhalt der jüdischen Gemeinschaft stellte der Hellenismus, der dank des Alphabets eine gewisse Ähnlichkeit vorzuweisen hatte, eine größere Gefahr dar als die anderen umgebenden Kulturen. Dass es den jüdischen Gelehrten (wenn nicht ausschließlich, so doch auch) um die Abgrenzung gegen den Hellenismus ging, dafür spricht der Zeitpunkt der Entscheidung: Das Jahr 440 v. u. Z. fiel in genau jene Zeit, in der sich das griechische Alphabet endgültig etablierte. Das war die Zeit Platons, Euripides’ und der griechischen Klassik, als die griechische Bevölkerung das Schreiben „gründlich interiorisiert“ und die Schrift fähig geworden war, „die Bewußtseinsprozesse durchgängig zu beeinflussen“.33 Begann im Judentum mit Esra die Reihe der Schriftgelehrten und Bibelausleger, so setzte in Athen um dieselbe Zeit das Zeitalter der Sophisten ein, das Griechenland ein neues Zeitalter „der Gelehrten, der Gebildeten, der Männer des Buchs“ bescherte.34

Ebenso wie mit der Normierung des griechischen Alphabets im Jahr 403 v. u. Z. das griechische Alphabet „zum zentralen Kulturträger des antiken Hellenismus“ wurde,35 schlug mit der lauten Verlesung der Tora, die „Geburtsstunde der Schrift“. Für das Judentum, so der Historiker Yosef Hayim Yerushalmi, war dies aber „zugleich die Geburtsstunde der Exegese“.36 Zum Zeitpunkt der Eröffnung des Geheimwissens wurde einerseits die Tora „geschlossen“; sie hörte auf, in einem fließenden „Traditionsstrom“ zu stehen, und nahm Kanon-Charakter an. Günter Stemberger setzt die Endredaktion der jüdischen Bibel mit etwa 400 v. u. Z. an. Ab dann war nur noch der dritte Teil der biblischen Sammlungen, die Hagiographen mit den Psalmen und Weisheitsschriften, noch nicht kanonisiert und stillgelegt.37 Andererseits entstand zu diesem Zeitpunkt durch die Öffnung der Tora auch die Möglichkeit der vielfältigen Interpretationen; die allgemeine Zugänglichkeit hatte die Voraussetzungen dafür geschaffen. Das Terrain war bereitet, auf dem die Heilige Schrift zum „portativen Vaterland“ eines jeden Juden werden konnte: Nicht der Text an sich, sondern auch die Möglichkeit, ihn immer wieder aktualisieren, wechselnden historischen und kulturellen Kontexten anpassen zu können, machte aus der Tora eine „Heimat in der Fremde“. Indem jeder Jude für sich in der Schrift sein „Zuhause“ finden konnte, war die Gemeinschaft weniger anfällig für die Anziehungskraft des Hellenismus. So etwa könnte man die eine Seite des Konzepts „Judentum in der Diaspora“ beschreiben, das Esra und andere Gelehrte im babylonischen Exil entwickelt hatten.

Die andere Innovation galt der Herkunftslinie; sie vollzog sich parallel zur Öffnung der Tora. Mit Entsetzen hatte Esra festgestellt, dass die Juden Palästinas „fremde Frauen“, d. h. Frauen aus anderen Kulturen geheiratet hatten. Weil sie, wie der gesamte Mittelmeerraum der Antike, in väterlichen Erblinien dachten, hatten viele jüdische Männer Nichtjüdinnen zur Frau genommen, denn deren jüdische Identität war unwichtig. Durch ihre Heirat gehörten sie automatisch zum Judentum, und ebenso wurde auch die Zugehörigkeit der Kinder zur israelitischen Gemeinschaft durch den Vater bestimmt. Offenbar sahen die babylonischen Priester jedoch in diesen Frauen, die in einer anderen kulturellen Tradition aufgewachsen waren, einen potentiellen Gefahrenherd. So schlug einer der Führer der Gemeinschaft, Schechanja, die Trennung der jüdischen Männer von ihren nichtjüdischen Frauen und den mit ihnen gezeugten Kindern vor.38 Ein Kind sollte nur dann als „jüdisch“ anerkannt werden, wenn auch die Mutter jüdisch sei. Warum war den babylonischen Gelehrten so viel am matrilinearen Prinzip gelegen? Auch hier ist der Vergleich mit Athen aufschlussreich. Dort hatte Perikles ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz eingeführt: Es wurde auf Personen eingeschränkt, die von einer Athenerin geboren wurden, die wiederum gesetzlich mit einem Athener verheiratet war. Das Athener Gesetz hatte wenig bis nichts mit einer Abgrenzung gegen das Judentum zu tun; es ging um die Abgrenzung gegen andere Griechen. In Jerusalem wiederum ging es um die Abgrenzung gegen die umgebenden (heidnischen) Kulturen. Dennoch ist es aufschlussreich, dass sich in beiden Alphabetkulturen fast zeitgleich ähnliche Strukturen durchsetzten, die sich allerdings in einem entscheidenden Detail unterschieden: Während sich aus dem Athener Gesetz eine patrilineare Abstammungsfolge entwickeln sollte, lief das Gesetz von Jerusalem auf eine mütterliche Abstammungslinie hinaus.

Das bedeutet nicht, dass Esra und die anderen Gelehrten eine neue Matrilinearität im Sinne hatten. Sie dachten in den alten Kategorien biblischer Patrilinearität, doch war ihnen an eindeutigen Zugehörigkeitsbeweisen gelegen. Gegen die Einführung einer allein matrilinearen Deszendenz spricht auch die Tatsache, dass in etwa derselben Zeit das Buch Rut verfasst wurde: „Als fiktionale Novelle in theologischer Absicht stellt sich das Buch Rut kritisch gegen die in Esra und Nehemia wiedergegebenen Positionen.“ Rut, die angebliche Urahnin des Königs David, ist Moabiterin und „wird trotzdem vom jüdischen Volk, dem sie sich anschloss, mit Liebe aufgenommen“. Sie ist der lebende Beweis dafür, dass nicht „nur eine Familie, die über Generationen im Geist der Tora erzogen wurde, den Weiterbestand des Judentums gewährleisten könne“.39 Diese „fiktionale Novelle“ wird freilich in einer Zeit verfasst, in der das jüdische Volk, zumindest in Palästina, festen Boden unter den Füßen hatte. Dagegen kannten Esra und Nehemia das Exil, und das ließ sie ein Modell entwickeln, das den Bedingungen der Diaspora entsprach und sich später auch als solches erweisen sollte.

Mit anderen Worten: Das „portative Vaterland“ der Hebräischen Bibel wurde durch eine weibliche Blutslinie ergänzt. Auf diese Weise gehörte der einzelne Jude auch der Herkunft nach seinem Volk an. Da für diese Genealogie nur die Mutter in Frage kommt – mater semper certa est –, bot diese Abstammungslinie die notwendige Eindeutigkeit. Verkürzt gesagt: Im Exil substituierte der mütterliche Körper das „Heilige Land“. So wie sich Heilige Schrift und Orthopraxie gegenseitig ergänzten, vervollständigte auch die weibliche Blutslinie die geistige Genealogie der väterlichen Schrift. Als Heinrich Heine sehr viel später die Heilige Schrift der Juden als „portatives Vaterland“ bezeichnete,40 griff er mit seiner prägnanten Formulierung genau diese Zuordnung auf. Beides zusammen bildete für die Gelehrten aus Babylon die Basis für den Erhalt des Judentums in der Diaspora.

Die Ereignisse, die in den Büchern Esra und Nehemia beschrieben werden, offenbaren noch ein weiteres Spezifikum der jüdischen Situation. Die Gruppe der 1550 „Heimkehrer“ aus dem babylonischen Exil, die völlig neue Grundlagen für die jüdische Identität und das normative Judentum formulierte, machte gerade mal drei Prozent der damaligen jüdischen Bevölkerung aus. Es handelte sich um eine engagierte und vor allem hochgebildete Elite, die ihre persönliche Geschichte von Deportation und Heimkehr derart nachhaltig durchsetzen konnte, „dass die Bücher der Chronik im 4. Jahrhundert v. u. Z. erzählen konnten, das Land habe die ganze Zeit ihres Exils brachgelegen“.41 Der Alttestamentarier Klaus Bieberstein nennt dies eine zweischneidige Angelegenheit: „Denn einerseits integriert diese Geschichte vordergründig die zuhausegebliebene Unterschicht in das Schicksal der deportierten Oberschicht. Andererseits aber beraubt sie die zuhausegebliebene Mehrheit ihrer eigenen Geschichte und schließt jene unter ihnen, die auf ihrer eigenen Tradition beharren, als vermeintlich ‚Fremde‘ aus.“42 So lassen sich Esras und Nehemias Neuerungen auch unter „kolonialer“ Perspektive lesen: Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass orale Kulturen, wenn sie von schriftkundigen Kulturen überlagert werden, gegen diese keinen Bestand haben. Das galt auch hier, setzt man die Kultur der babylonischen Juden mit Schriftkundigkeit und die der Juden in Judäa mit Oralität gleich. Nur deshalb gelang es „einer kleinen, geschichtsschreibenden Minderheit im Laufe der Zeit, die Geschichte der Ansässigen durch die Geschichte der Heimkehrer zu verdrängen, ihre auf Distinktion bedachte Sicht durchzusetzen, die Bevölkerung des Landes als Hindernis in der Gottesverehrung zu diskreditieren, sozial zu marginalisieren und die Grenzen der Gemeinde durch Stammbaumpflege zu markieren und zu fixieren“.43

Allerdings schränkt diese Sicht die Ereignisse auf einen sozialen Machtkonflikt ein. Gewiss, bei den Exilanten handelte es sich um Privilegierte, sie hatten in Babylon ein gutes wirtschaftliches Auskommen und waren, wie Nehemia und Esra, in die höchsten politischen Ämter aufgestiegen. Aber sie nutzten diese Bildung nicht wie die ägyptischen Priester zur Erweiterung ihrer Macht durch Geheimwissen. Vielmehr hatten sie – als Schriftgelehrte – begriffen, dass die jüdische Religion und Kultur nur überleben kann, wenn alle Mitglieder der Gemeinschaft zu Schriftkundigen werden, daher die Verlesung der Tora vor den Toren der Stadt. Erst durch diesen Akt schufen sie die Grundlagen für die Tradition der „mündlichen Tora“ – und tatsächlich sollte sich bald zeigen, dass diese für das Überleben des Judentums von essentieller Bedeutung war. Das offenbarten schon die Konflikte unter der Herrschaft der Seleukiden. Hatten die Perser den Juden große Freiheit in der Ausübung ihrer Religion gelassen, so schränkten diese die jüdischen Gesetze ein und gaben z. B. den Handel am Schabbat frei. Als Antiochus Epiphanes (215–164 v. u. Z.), der in Rom eine griechische Erziehung genossen hatte, ein Edikt erließ, das es Juden untersagte, an ihrer Religion festzuhalten (die Beschneidung wurde verboten, die Tora sollte verbrannt werden), und sie zum Beweis ihres Gehorsams heidnische Opferhandlungen vollziehen ließ, kam es zum Aufstand der Hasmonäer, die einen eigenen jüdischen Staat gründeten. Die geflohenen Aufständischen gehörten zum großen Teil der Unterschicht von Jerusalem und der verarmten Landbevölkerung an. Angeführt wurden sie von einer niederen Priesterfamilie, den Makkabäern. Gehörte diese Schicht also einst den „Ungebildeten“ an, so bildete sie nun das Rückgrat einer Bewahrung des Judentums.

Von dieser Zeit an wurde der „Befreiungskampf der Juden gegen die hellenistische Umklammerung“44 auch zu einem innerjüdischen Konflikt zwischen den hellenisierten Juden und den Juden, die sich an die Tradition hielten. Das zeigte sich erneut im letzten vorchristlichen Jahrhundert: Als hellenistisch gesinnte Aristokraten in Jerusalem eine Stadt nach dem Vorbild der Polis schaffen wollten – mit Gymnasium und Ephebeion, d. h. Elite-Institutionen –, wurden sie von den anderen Juden bekämpft, die nicht nur ihrem Glauben treu bleiben wollten, sondern auch das allgemeine Recht auf Bildung einforderten.45 Es kam also zum Aufstand gegen die „Schriftgelehrten“, aber die Befähigung zu diesem Aufstand war letztlich den babylonischen Schriftgelehrten selbst zu verdanken, die schon im 5. Jahrhundert die allgemeine Zugänglichkeit der Tora durchgesetzt hatten.

Das Konzept der matrilinearen Definition von Jüdisch-Sein wurde allerdings erst nach der zweiten Zerstörung des Tempels im Jahr 70, als das gesamte jüdische Volk den Konditionen der Diaspora unterworfen wurde, von den Rabbinen aufgegriffen. Die Tatsache, dass man sich in dieser Situation eines Entwurfs erinnerte, der im babylonischen Exil entwickelt worden war, macht besonders deutlich, dass es bei der matrilinearen Blutslinie um die Diasporafähigkeit des Judentums ging. Die Rabbinen mussten nach Mitteln suchen, den Zusammenhalt einer verstreuten Gemeinschaft zu sichern, und Ende des 2. Jahrhunderts u. Z. legten die Verfasser der Mischna endgültig fest, dass Jude ist, wer eine Jüdin zur Mutter hat. Ihren Ursprung hatte diese Entwicklung in einer Zeit, als sich Juden im babylonischen Exil gegen die Anpassung an die fremde Kultur und den hellenistischen Einfluss zu schützen suchten. Als das matrilineare Konzept der babylonischen Gelehrten in den ersten Jahrhunderten zum zweiten Mal ausformuliert wurde, hieß der Gegensatz freilich nicht mehr Hellenismus, sondern Rom und vor allem Christentum.

Der Wechsel zur Matrilinearität im rabbinischen Judentum

Der Übergang von einer matrilinearen zu einer patrilinearen Gesellschaft fand in der Geschichte mehr als einmal statt. In vielen Fällen wurde er als Prozess der Vergeistigung beschrieben, so wie auch Sigmund Freud darin einen „Kulturfortschritt“ sah. Seine Einschätzung ist umso erstaunlicher, als das Judentum, zu dem Freud sich bekannte, zu den wenigen Beispielen gehört, bei denen eine Gesellschaft von Patrilinearität zu Matrilinearität wechselte. Mit der Frage des jüdischen Übergangs zur Mutterlinie hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Forschern beschäftigt.46 Einige von ihnen stellen sich heute die Frage, ob, angesichts des erheblichen demographischen Rückgangs jüdischer Bevölkerungsanteile in den Ländern der Diaspora, nicht die Zeit gekommen sei, das strenge Regelwerk der matrilinearen Blutslinie aufzugeben und durch ein patrilineares Prinzip zu ergänzen – also auch die Kinder jüdischer Väter als Juden anzuerkennen. In einigen Gemeinden, etwa des amerikanischen oder britischen Reformjudentums wie auch im liberalen deutschen Judentum, hat sich dieses Prinzip schon durchgesetzt. Die Reformer machen freilich zur Bedingung, dass religiöse Bildung, Erziehung und Verständnis für das Judentum diese Möglichkeit ergänzen.

Die Erzählung über das biblische Judentum orientiert sich an der Patrilinearität und Patrilokalität: Die Söhne von Moses werden beschnitten, obwohl ihre Mutter Midianiterin ist. Der Tötungsbefehl des Pharao bezieht sich ausschließlich auf die männlichen Kinder (Ex 1,22). Historisch gab es in dieser Zeit für Frauen keine Konversion; entscheidend war der Familienstand. „Die ‚Konversion‘ einer fremden Frau zum Judentum bestand eben einfach darin, einen jüdischen Mann zu heiraten.“47 Auch die jüdische Frau, die in ein anderes Volk heiratete, wurde Teil der Kultur ihres Mannes. In einer Zeit, in der mehr oder weniger alle Gesellschaften dieses Kulturraums nach dem patrilinearen Prinzip organisiert waren, ergaben sich dadurch überschaubare Verhältnisse. Die Probleme traten erst mit der christlichen Religion auf, die die Taufe für Männer wie für Frauen zum „Entréebillett“ in die Gemeinschaft machte – unabhängig von der Religionszugehörigkeit des Vaters oder des Ehemannes. Diese Neuerung implizierte für Frauen eine erhöhte Entscheidungsmacht, die dem frühen Christentum auch viel Zulauf von Frauen brachte (alleinstehenden wie verheirateten),48 bis auch hier ein Regelwerk geschaffen wurde, das die Frauen entmündigte. Genau genommen schuf erst das christliche Versprechen der freien Entscheidung jenes Entweder-oder-Prinzip, das Jan Assmann als „mosaische Unterscheidung“ und als das Ende der religiösen Toleranz der Antike bezeichnete.49 Zwar ist es richtig, dass die jüdische Religion die Götter der anderen Religionen nicht duldete, aber wie das Beispiel der „weiblichen Konversion“ zeigt, war es faktisch einfach, von einer anderen Religion, genauer: von einer anderen Gemeinschaft in die jüdische zu wechseln – und umgekehrt. Zwar galt diese Flexibilität nur für die Frauen, doch musste dies notwendigerweise Auswirkungen auf die Wahrnehmung religiöser Exklusivität haben. Vor allem aber: Religion wurde in dieser Zeit nicht als eine eigene Sphäre betrachtet, sondern war Teil eines Konglomerats von Sitten, Gesetzen, Wirtschaftsformen, die eine politische Gemeinschaft konstituierten (siehe hierzu auch den Beitrag von Daniel Boyarin, S. 59). Der Bezug war also weniger transzendental als der heutige Begriff von „Religion“ unterstellt. Erst mit dem Christentum, das den Glauben in den Mittelpunkt stellte, nahm der Monotheismus wirklichen Ausschlusscharakter an.

Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels, der Zerschlagung der jüdischen Gemeinde im alten Judäa und dem seit Hadrian sogenannten Palästina sowie dem Übergang zu einer Existenz in der Diaspora, vollzog sich im Judentum der Übergang von Patrilinearität zu Matrilinearität, den schon die babylonischen Gelehrten angestrebt hatten. Zu dieser Zeit, so Dohmen und Stemberger, entwickelten die Gelehrten auch einen neuen Umgang mit der Heiligen Schrift. „Die Schriftauslegung vor 70 u. Z. war von einer gewissen Freiheit im Umgang mit dem Bibeltext geprägt, der noch in gewissem Maß fluktuierte und auch für die Auslegung vorbereitet werden konnte.“50 Man weiß nicht, so die Autoren, warum es damals so plötzlich zu einer Vereinheitlichung des Textes gekommen sei, aber sie vermuten, dass dies mit der Katastrophe im Jahr 70 „irgendwie zusammenhing“, allerdings nicht unbedingt auf einen autoritativen Beschluss der frühen Rabbinen in Jabne zurückzuführen sei.51 Jedenfalls kam das Prinzip der Matrilinearität in der Midrasch-Literatur der zweiten Tempelperiode praktisch nicht vor, was dafür spricht, „dass dieses Schrifttum mit dem matrilinearen Prinzip eben nicht vertraut war“.52

Der Wandel von Patrilinearität zu Matrilinearität vollzog sich nicht von einem Tag auf den anderen. Philon von Alexandrien (20 v. u. Z.–50 u. Z.), der als Jude im hellenisch beeinflussten Ägypten lebte, formulierte in seinen philosophisch-pädagogischen Schriften ein Modell, das dem des Perikles für Athen nicht unähnlich war: Nur die Ehen sollten gültig sein, in denen beide Partner jüdisch sind.53 Die Rabbinen entschieden sich schließlich für ein anderes Modell. Dabei versuchten sie, sich soweit wie möglich auf die biblischen Quellen zu beziehen, darunter Deuteronomium 7,3–4, wo von einer der gemischten Ehe innewohnenden Gefahr der Götzenverehrung die Rede ist. Ein explizites Verbot der Mischehe gab es nicht; schließlich war Moses selbst mit einer Fremden verheiratet: Zippora, Tochter des midianitischen Priesters Jetro (Ex 2,21). Die Aussagen von Deuteronomium zu den Gefahren der Mischehe sind jedoch so formuliert, dass vom nichtjüdischen Schwiegersohn eine „Gefahr“ für die Tochter und deren Kinder ausgehen könnte. Die Kinder des Sohnes mit einer Nichtjüdin werden nicht erwähnt. Aus dieser „Lücke“ leiteten die Rabbinen nun ab, dass die Kinder des Sohnes mit einer Fremden gar nicht erst als jüdisch galten. Damit konnten sie dekretieren, dass das Prinzip der Matrilinearität schon in Deuteronomium niedergelegt worden sei. Dort heißt es: „Dein Sohn, der von einer Israelitin geboren wurde, wird ‚dein Sohn‘ genannt, aber dein Sohn, der von einer Götzendienerin geboren wurde, wird nicht ‚dein Sohn‘ genannt: es ist ihr Sohn.“ In der Mischna formulierten die Rabbinen: „Dein Sohn ist nicht dein Sohn, wenn seine Mutter nicht Jüdin ist.“54 Damit wurde einerseits das matrilineare Prinzip neu eingeführt, andererseits aber auch in der Heiligen Schrift verankert – und dies mit einem geschickten Schachzug, der sich einer „verwirrenden Syntax“ verdankte. „Diese Auslegung wäre nach dem griechischen Bibeltext nicht möglich gewesen, denn das darin enthaltene Futur apostesei, männlich und weiblich zugleich, kann sich gleichermaßen auf den heidnischen Schwiegersohn wie auf die heidnische Schwiegertochter beziehen“, so Joseph Mélèze Modrzejewskis Kommentar zu dieser Auslegung.55 Eine Zeitlang wurde die Neuordnung noch von Teilen des Judentums bekämpft; Spuren dieser intensiv geführten Debatte finden sich im Talmud. Dann hatte sich die Lehre durchgesetzt und gilt bis heute als Regel des normativen Judentums.

Die neue Richtlinie hatte auch auf den sozialen Status von Kindern aus „Mischehen“ Rückwirkungen. Laut der Mischna war der Nachkomme einer jüdischen Mutter und eines nichtjüdischen Vaters ein „Mamser“ (Hurenkind).56 Dasselbe galt für alle Kinder, die aus verbotenen Verbindungen stammten – bestimmte Formen von Inzest und außereheliche Verbindungen.57 Das von den Tanna’im (den Weisen der Mischna) aufgestellte Gesetz bedeutete jedoch, dass das Kind einer jüdischen Mutter und eines nichtjüdischen Vaters ein Jude ist, wie seine Mutter – obgleich die Eltern keine nach jüdischem Recht anerkannte Verbindung (kidduschin) eingegangen waren.58

Das veränderte jüdische Regelwerk wies einige Ähnlichkeiten mit dem römischen Recht auf: Bei Beziehungen zwischen Männern und Frauen von ungleichem Stand folgte der Status des Kindes dem Elternteil mit dem niederen Status.59 Im römischen Recht hieß dies, dass das Kind eines Sklaven oder einer Sklavin ebenfalls dem Sklavenstand angehörte, auch wenn einer der beiden Elternteile frei war. Im Judentum entschied diese Regel weniger über den sozialen Status als über die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft: Das Kind eines Juden mit einer Nichtjüdin folgt dem Status der Mutter.60 Allmählich wurde so die Beziehung vom Vater zum Sohn der Zugehörigkeit zur Mutter untergeordnet.61 Das römische Recht war jedoch nicht der Auslöser für die Veränderung.

Anhand der Zeugnisse der Papyri, der Apostelgeschichte und Flavius Josephus läßt sich belegen, dass bei den Juden im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung noch immer die patrilineare Abstammung geltendes Recht war. Ein Jahrhundert später, in der Mischna, gilt gerade die umgekehrte Regel: Das Prinzip der Patrilinearität ist zurückgetreten zugunsten der matrilinearen Abstammung, die die Halacha für die Zukunft, bis in unsere Tage, bestimmt.62

Es vollzog sich also eine völlige Umkehrung der Rechtsregeln, durch die die jüdisch-religiöse Identität neu definiert wurde. Allerdings galt dies nur für die Abstammung und Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft. Denn das rabbinische Familienrecht, das über Verwandtschaftsbeziehungen und Erbschaft bestimmte, hielt sich weiterhin an die überlieferte Patrilinearität. Der babylonische Talmud ist dazu ganz explizit: „Die Familie des Vaters wird als die Familie des Kindes angesehen, die Familie der Mutter nicht.“63 Auch das Priesteramt der Kohanim wurde weiter in väterlicher Linie vererbt. Eine solche Unterscheidung von Abstammungslinie und Verwandtschaftsverhältnissen blieb in der griechisch-römischen und christlichen Patrilinearität eher die Ausnahme; beim Judentum dagegen wurde es zur Regel und hing eng mit den Bedingungen der Diaspora zusammen.

Für die Motive der Rabbinen, diese Neuerung einzuführen, gibt es mindestens zwei sich ergänzende Erklärungen: erstens die neue Situation der „Staatenlosigkeit“, zweitens die Abgrenzung gegen die neu entstehende Religion des Christentums, das sich einerseits auf die jüdische Tradition bezog, von dieser aber auch in entscheidenden Teilen abwich. Außerdem wird der Einfluss des römischen Rechts geltend gemacht.

Entsprechend dem römischen conubium [durch das bestimmt wurde, welche Personen eine anerkannte Ehe eingehen können, CvB] gibt es im rabbinischen Recht die Bezeichnung Kidduschin. Die wesentliche Übereinstimmung, nämlich dass Kinder nach dem römischen Recht, die aus einer gemischten Ehe (also ohne conubium) hervorgehen, automatisch dem Status der Mutter folgen, entspricht genau dem Prinzip nach mKidd III,12.64

Sowohl im römischen als auch im jüdischen Recht gab es das Prinzip der rechtmäßigen Ehe, und in beiden Regelwerken richtete sich bei „Mischehen“ der Status der Nachkommen nach der Mutter, weil die legale väterliche Abstammung fehlte. Dennoch unterschieden sich die Gesetze: Das römische Recht sah neben dem conubium auch das justum matrimonium, die legal vollzogene Ehe, vor – eine Bestimmung, die das jüdische Recht nicht kannte. Die Ähnlichkeiten der Rechtsbestimmungen dürften dazu beigetragen haben, dass die römische Herrschaft der jüdischen Änderung des Personenstands stattgab, „indem sie zuließ, dass die Zugehörigkeit zum Judentum und damit Volk und Religion sich nach der Mutter richtet“.65 Diese Konzession widersprach zwar dem eigenen Patrilinearitätsprinzip, doch im Römischen Reich gab es auch andere Völker und Städte, denen dieses Privileg zugestanden worden war. In griechischen Städten wie Troja und Delphi z. B. wie auch in Antinoupolis, einer im Jahr 130 von Hadrian in Ägypten gegründeten Stadt, ergänzte die Matrilinearität das Recht, eine rechtswirksame Ehe mit „Ägyptern“ zu schließen.66

Das würde jedoch höchstens erklären, warum der Wandel durchsetzbar war, nicht die Motivation der Rabbinen zu dieser Entscheidung. Unbestreitbar waren gerade im 2. Jahrhundert die historischen Voraussetzungen für eine Orientierung am römischen Recht gegeben – Modrzejewski spricht von einer „zeitlichen Koinzidenz zwischen der Mischna, die um das Jahr 200 unserer Zeitrechnung schriftlich kodifiziert wurde, und dem römischen Recht im Zeitpunkt seiner größten Blüte“.67 Auch war das römische Recht gut vereinbar mit der Neuordnung des jüdischen Rechts. Gleichwohl dürften die Rabbinen andere Gründe für ihre Entscheidung gehabt haben. Ihr Hass auf die Römer, die Jerusalem zerstört und die Gemeinschaft zerschlagen hatten, war gewiss nicht geringer als ihre frühere Gegnerschaft zu den Griechen. Warum sollten sie sich dann ausgerechnet am römischen Recht orientieren?

Mehr Gewicht hat ein anderes Erklärungsmuster, das die Sicherheit der mütterlichen Abstammung in den Vordergrund stellte und über die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft entscheiden ließ. Auf diese „Sicherheit“ hätte schon das biblische Judentum setzen können. Dass es sich an die Patrilinearität der umgebenden Kulturen hielt, zeigt, dass es bei der Änderung um die Bedingungen der Diaspora ging. (Ganz aufgegeben wurde die Patrilinearität auch nicht, wie das Beispiel der geistlichen Ämter zeigt.) Allerdings wurde das neue matrilineare Prinzip nicht immer konsequent verfolgt. „Wurde eine Frau als Folge einer Vergewaltigung schwanger, so hat der Nachkomme den gleichen Status wie die Mehrheit der Bevölkerung, bei der die Vergewaltigung geschah. In diesen Fällen ist die Vaterschaft zwar sehr unsicher, aber die Rabbinen beurteilen die Nachkommen nicht matrilinear.“68 Aus diesem Beispiel lässt sich ableiten, dass mit der neuen Betonung der mütterlichen Deszendenz weniger die Sicherheit der Herkunft gemeint war als ein positives Bekenntnis zum Judentum. Diese Identität sollte als Teil einer Konstruktion verstanden werden, die das „portative Vaterland“ der Heiligen Schrift mit dem weiblichen Körper als „sakraler Heimstätte“ verband: Hatte Gott in der Exodus-Erzählung das Volk zu seinem Tempel gemacht, so fand sein Volk in der Zerstreuung eine neue „Wohnstätte“ im Körper der Frau – eine Symbolik, die in den Gemeinschaftsallegorien vieler Kulturen und Völker auftaucht (von der Ecclesia über Israel als „Braut Gottes“ bis zu den späteren Nationalallegorien). Hier jedoch hat sie nicht symbolischen Charakter, sondern verortet sich im realen Körper der einzelnen Frau.

Die neue Identitätskonstruktion war nur deshalb möglich, weil im Judentum durch die Staatenlosigkeit ein völlig neues Prinzip geistlicher Zuständigkeit entstanden war. Jochanan ben Zakkai gilt als der, der das jüdische Volk nach der Katastrophe von 70 in ein neues Zeitalter überführte. Schon seine Herkunft – er war nicht aus davidischem Geschlecht und auch kein Priester – prädestinierte ihn, Schöpfer einer neuen Sozialordnung zu werden. Dementsprechend stieß diese auch zunächst auf viele Widerstände, vor allem von Seiten der Priestereliten. Jochanan und die Gelehrten, die um ihn in Jabne versammelt waren, gelten als die Begründer des rabbinischen Judentums. Diese Rabbinen, so Günther Stemberger, waren „anfangs noch eine sehr kleine Gruppe, ohne direkten Rückhalt im Volk, eine elitäre Intellektuellenschicht, die mit öffentlichen Aufgaben nichts zu tun haben wollte“.69 In gewissem Sinne wiederholte sich also die Situation des 5. Jahrhunderts v. u. Z. – nur in Umkehrung. Damals kam eine kleine Elite von babylonischen Gelehrten, die der jüdischen Bevölkerung ein neues Identitätsmodell nahezubringen versuchten. Nun waren es nicht die Priester, sondern gewissermaßen „Autodidakten“, die das neue Prinzip formulierten. Und diese intellektuelle Elite kam nicht aus Babylon, sondern bestand aus dem Judentum des alten Palästinas. Einige der überlebenden Priester, Leviten und Tempelbeamten, die nach der Zerstörung des Tempels ohne Amt, Funktion und öffentliche Macht waren, schlossen sich der Gruppe von Jabne an. „So versuchte ein Teil der Priesterschaft neben der aufstrebenden jüdischen Laiengelehrsamkeit, insbesondere durch die pharisäische Bewegung verkörpert, als konsolidierte Gemeinschaft fortzubestehen.“ In Jabne setzte man „das Studium der Tora an die Stelle des Tempelopfers“ und maß ihm eine vergleichbare religiöse Bedeutung zu.70 Es waren diese Intellektuellen, denen nichts anderes geblieben war als ihre Gelehrsamkeit, die die jüdische Lehre in eine „portative Religion“ verwandelten.

Der Status der Gelehrten von Jabne legt noch eine dritte Erklärung für den Wandel zur Matrilinearität nahe. Micha Brumlik vertritt die Ansicht, dass er auch mit der Entmachtung der traditionellen Priesterschaft zusammenhing. Schon in den 200 Jahren vor dem Beginn der Diaspora war mit den Pharisäern eine neue Elite von Gelehrten herangewachsen, die in Jerusalem mit dem Hohepriester, den Kohanim und den Leviten um die Macht konkurrierten. Aus dieser Schicht rekrutierte sich ein Gutteil der Rabbinen von Jabne. Nach der Einführung der Matrilinearität wurden die geistlichen Ämter zwar weiterhin in männlicher Linie vererbt, doch es verband sich damit keine Macht mehr. „Von der einstigen Macht der Kohanim blieb im rabbinischen Judentum nicht mehr übrig als das Privileg, als erste zur Tora aufgerufen zu werden. Damit wurde auch die judäische Kastengesellschaft in eine meritokratische, d. h. in eine auf dem Verdienst des Lernens beruhende Gelehrtenrepublik umgewandelt.“71 Diese Erklärung leuchtet ein, zudem sie typisch ist für den Aufstieg neuer Bildungsschichten in alphabetischen Gesellschaften. In Griechenland stellte der Aufstieg der Sophisten ein ganz ähnliches, „auf dem Verdienst des Lernens“ beruhendes Phänomen dar. Ausschlaggebend für das Prinzip der Matrilinearität dürfte jedoch die Frage des Zusammenhalts der Gemeinschaft in der Diaspora gewesen sein.

Auf der einen Seite kanonisierte diese neue geistige und geistliche Elite die jüdische Bibel, auf der anderen schuf sie die Grundlage für einen zweiten heiligen Text, den Talmud mit seinen Diskussionsbeiträgen, Geboten und Verboten, Interpretationen und Kommentaren. Dieser wurde zur Basis der Halacha, dem neuen Verhaltenskodex, der die Gesetze der Tora ergänzte oder auslegte. Daneben entwickelten sie auch neue Formen des Gottesdienstes, die zu Hause oder in der Synagoge stattfinden konnten, um den Tempelkult zu ersetzen. Die einzelnen jüdischen Gemeinden gewannen an Autonomie: Die einzige Voraussetzung für einen Gottesdienst war die Anwesenheit von zehn jüdischen Männern. Tatsächlich lebten Juden schon bald in unterschiedlichen Sprachgebieten und Kulturen und integrierten einige der fremden Traditionen in die eigene. Erst nach der Erfindung des Buchdrucks gab es mit dem Schulchan aruch („Gedeckter Tisch“) des Josef Karo (1488–1575) und den ergänzenden Kommentaren von Moses Isserles den Versuch, einen einheitlichen jüdischen Kodex zu erstellen (siehe hierzu auch den Beitrag von Walter Homolka, S. 227). Das Buch wurde 1565 in Venedig gedruckt.

Das Lehrhaus von Jabne wurde zur Keimzelle eines neuen normativen Judentums, das sich in den ersten zwei nachchristlichen Jahrhunderten herausbildete. Zwar bestand das angesehene und erbliche Patriarchat von Jerusalem noch über fast vier Jahrhunderte, doch es hatte immer weniger Gewicht und erlosch endgültig im Jahr 429, als es durch das römische Gesetz beendet wurde. „Erst mit der Gründung des Staates Israel 1948 entstand ein neues, potentiell konkurrierendes Objekt der kollektiven Identifikation“,72 das das in Jabne entstandene Konzept des „portativen Vaterlands“ – als heiliger Text und als „Heimatboden“ im mütterlichen Leib – ablöste oder ergänzte (je nach Perspektive).

Die Beschneidung

Das römische Privileg zur Einführung der Matrilinearität „erscheint als Gegenstück zu der Erlaubnis, die Beschneidung an jüdischen Jungen vorzunehmen, die die Juden um 150 unserer Zeitrechnung durch das Reskript des Antoninus Pius erhielten“, schreibt Modrzejewski.73 Dies waren die beiden großen Konzessionen des Römischen Reichs an die „jüdische Identität“. Die Beschneidung widersprach dem römischen Denken noch mehr als die Matrilinearität. Das hing einerseits mit der Rolle zusammen, die sie für die jüdische Zusammengehörigkeit (und die damit einhergehende jüdische Autonomie) hatte, andererseits aber auch mit deren vielschichtiger Symbolik: Die Beschneidung wurde, manchmal explizit, mit der Kastration gleichgesetzt – ein Eingriff, der in einer patriarchalen und patrilinearen Gesellschaft als Verbrechen galt. Das jüdische Recht auf Beschneidung folgte ganz offenbar einer anderen Vorstellung von Männlichkeit. Es hing nicht unmittelbar mit dem Prinzip der matrilinearen Abstammung zusammen, aber wurde gerade in der Diaspora zum zweiten leiblichen Distinktionsmerkmal.

Bevor auf die Auseinandersetzungen um die Beschneidung in Griechenland und Rom einzugehen ist, noch einige allgemeine Bemerkungen zur Symbolik dieses Ritus. Bei den (zum Teil heftigen und polemisch geführten) Debatten in Deutschland stand die Frage der Religion im Mittelpunkt. Faktisch ist der Ritus der Beschneidung aber viel älter als die jüdische Religion, geschweige denn als der Islam. Ägyptische Darstellungen zeigen, dass die Beschneidung schon vor ca. 4500 Jahren praktiziert wurde, d. h., der Ritus existierte schon mindestens 1500 Jahre, bevor von Monotheismus und Judentum die Rede sein kann. In einer späteren Zeit wurde sie zu einem Privileg ägyptischer Priester, als welche sie dann auch im griechischen und römischen Ägypten erhalten blieb.

Heute sind weltweit – die Zahlen schwanken – ca. drei von 20 Männern beschnitten. Aber nur bei den Juden ist der Eingriff religiöse Vorschrift (Gen 17,10–14; Lev 12,3). Bei Muslimen entspricht er keinem zwingenden Gebot, ist aber sozial erwünscht. Auch in den USA und England ist eine Mehrheit der Jungen beschnitten (jüdischer wie nichtjüdischer Herkunft), weshalb in Amerika und Großbritannien wie auch in Frankreich die deutsche Diskussion auf Unverständnis stößt. Die Begründungen, die die Befürworter der Beschneidung anführen, sind sehr unterschiedlich. Man kann rund zehn solcher Begründungen ausmachen, von denen einige aus dem Denken in Stammesgesellschaft kommen, andere einen religiösen Hintergrund haben und wieder andere den Ansprüchen einer modernen Wissenschaft und Psychologie geschuldet sind.

1.Durch die Beschneidung werde der Unterschied zwischen Männern und Frauen betont.

2.Die sexuelle Potenz und Fruchtbarkeit des Mannes werde durch die Beschneidung gesteigert. (In Rom und Griechenland galt die Beschneidung dagegen eher als Symbol der Entmannung.)

3.Eine psychologische Begründung lautet, dass durch die Beschneidung die Trennung des Sohnes von der Mutter vollzogen werde. Indem der Vater dafür sorgt, dass der Sohn beschnitten wird, werde eine männliche Linie etabliert, die von Vater zu Sohn weitergegeben wird. Dass diese Begründung weder in Rom noch in Griechenland herangezogen wurde, kann als Beleg dafür gelten, dass die „Patrilinearität“ in diesem Fall auf einem anderen Konzept von männlicher Linie beruhen muss.

4.In Gesellschaften, in denen die Beschneidung majoritär ist, kommt eine weitere psychologische Begründung dazu: das Bedürfnis, nicht anders auszusehen als andere Männer/Jungen.

5.In den modernen säkularen Gesellschaften wird die Beschneidung oft mit Hygiene begründet, was als Versuch zu lesen ist, sie in einen „aufgeklärten“ Kontext zu überführen (siehe hierzu auch den Beitrag von Werner Treß, S. 335).

6.Im Islam signalisiert die Beschneidung vornehmlich Zugehörigkeit zum Clan, zur Familie oder zur Volksgemeinschaft.

7.Im Kampf gegen den Kolonialismus symbolisierte die Beschneidung auch die Abgrenzung gegen den kolonialen Eroberer und wurde zum Symbol für nationale oder kulturelle Autonomie. Das galt vor allem für den arabischen Raum.

8.Das Judentum war die einzige Gemeinschaft, die der Beschneidung eine religiöse Bedeutung zuwies: Sie wurde zu dem Symbol des Bundes zwischen Gott und dem Volk Israel. Angesichts der Nähe von Religion und Recht war sie also auch Zeichen der Volkszugehörigkeit. In der Bibel taucht sie zuerst als ein Ritual der Vorbereitung auf die Hochzeit auf (Gen 34,14–24; Ex 4,24–26), und sie bezieht alle Männer des Hauses ein, auch Sklaven, gleichgültig, ob sie dem Judentum angehören oder aus einer anderen Kultur stammen. Während des babylonischen Exils im 6. Jahrhundert v. u. Z. wurde die Beschneidung religiös „kanonisiert“. Dass dies ausgerechnet im Exil geschah, deutet darauf hin, dass sie – wie später die Matrilinearität – unter Juden auch als Erkennungszeichen dienen sollte.

9.Der durch die Beschneidung symbolisierte Einschnitt in den männlichen Körper wird manchmal auch als Teil eines Opferaktes verstanden, der der Gewährung von Fruchtbarkeit – geistiger wie leiblicher Fruchtbarkeit – vorausgeht. In den Erzählungen der Bibel ist von der Beschneidung zum ersten Mal im Zusammenhang mit der (verhinderten) Opferung Isaaks die Rede (Ex 13,13). In dieser Erzählung ersetzt ein Opfertier den Sohn. Erst auf der Basis einer solchen Opferbereitschaft segnet Gott die Fruchtbarkeit und verspricht Abraham, dass sich sein Samen im Land Kanaan vermehren wird.74

10.Auch das Christentum eignete sich die Symbolik der Beschneidung an, lenkte den Sinn allerdings auf das Opfer der Passionsgeschichte Christi. Wenn Paulus von der „Beschneidung des Herzens“ sprach (Rom 2,25–29) und damit die Reinheit von Seele und Geist meinte, so griff er damit noch eine Analogie des beschnittenen Glieds mit dem beschnittenen Herz auf, von der schon bei Jeremia (Jer 4,4) die Rede war. Wenn jedoch der Heilige Ambrosius (339–397) in der Beschneidung Jesu den Beginn der Passionsgeschichte sah, so war damit eine Christianisierung des Ritus verbunden. In einem ähnlichen Sinne bezeichnete auch der englische Benediktinermönch Beda (673–735) die Beschneidung als Vorwegnahme der endgültigen Reinigung „von allen Flecken der Sterblichkeit“. Wir freuen uns, so verkündete er, auf „unsere wahre und völlige Beschneidung, wenn am Tag des Jüngsten Gerichts alle Seelen die Verderbnis des Fleisches überwunden haben“.75

Die Debatten in der Antike um die Beschneidung haben einige Ähnlichkeiten mit den heutigen in Deutschland: Damals wie heute ging es um die Frage der Verletzung des Körpers. Die antike Ablehnung der Beschneidung nahm in dem Maße zu, in dem sich der Hellenismus als Kultur und das Römische Reich als Staat etablierten. Die Griechen wussten – vor allem durch Herodot (5. Jahrhundert v. u. Z.) – vom Ritus der Beschneidung bei „anderen Völkern“. Herodot, der sich kaum eine Chance entgehen ließ, die Überlegenheit der Griechen gegenüber anderen Völkern hervorzuheben, sah darin einen barbarischen Brauch, der allenfalls mit der „Hygiene“ zu erklären sei. Er verwechselte Reinheit (die in der Religion auf das Sakrale verweist) mit Hygiene (Sauberkeit).76 Einige Völker, so etwa die Phönizier, schreibt Herodot, übernahmen den Brauch zunächst von den „Syrern aus Palästina“ (womit er die Juden meinte), gaben ihn aber auf, als sie mit der höheren Kultur der Griechen in Kontakt kamen.

Als sich mit den makkabäischen Unruhen der Konflikt zwischen Hellenismus und Judentum zuspitzte, gab ein Teil der Juden die Beschneidung auf, manche verbargen sogar das beschnittene Glied mit Hilfe falscher Vorhäute, bis diese Praxis verboten wurde. In den Jahrzehnten vor der Zerstörung des Tempels, zur Zeit des griechischen Geschichtsschreibers Strabo (63 v. u. Z.–23 u. Z.) verschärfte sich die Ablehnung der Beschneidung; sie wurde nun explizit mit der Kastration verglichen – ein Vergleich, der von römischen Schriftstellern wie Tacitus aufgegriffen und in eine allgemeine antijüdische Polemik überführt wurde.77

Nach der Zerstörung des Tempels mussten die Weisen von Jabne um das Recht auf Beschneidung kämpfen. Es wurde ihnen von Rom schließlich unter der Bedingung eingeräumt, dass ausschließlich die eigenen Söhne – aber weder Sklaven noch Konvertiten – davon betroffen seien. Auch der Priesterschaft in der römischen Provinz Ägypten, die die Beschneidung praktizierte, bereitete Rom Schwierigkeiten. Ab dem 2. Jahrhundert wurde der Ritus unter die Aufsicht der römischen Autorität gestellt, die willkürlich vorging: Ein kaiserlicher Prokurator, der die religiösen Kultgemeinschaften kontrollieren sollte, erteilte die Genehmigung – oder auch nicht. Es kam zu aufwendigen Verfahren, weil es sich um eine „Ausnahme von einer reichsweiten gesetzlichen Bestimmung“ handelte, mit der die zunehmende Praxis der Kastration von Sklaven bekämpft werden sollte. Unter Nerva im Jahr 97 erging ein Senatsbeschluss:

Er drohte die Konfiszierung der Hälfte des Vermögens einer Person an, die einen Sklaven der Kastration ausliefert. Ebenfalls durch einen Senatsbeschluß, der wohl unter Trajan gefaßt wurde, erhöhte man die Strafe für Kastration auf Deportation und gleichzeitig komplette Konfiszierung des Vermögens. Dies stützte sich auf die lex Cornelia de sicariis et ueneficiis, ein altes Gesetz von Sulla (81 vor unserer Zeitrechnung), das Mord und Vergiftung unter Strafe stellte und bis in die Zeit von Justinian in Kraft blieb.78

Unter Kaiser Hadrian (76–138) wurde das Verbot nochmals verschärft: Chirurgen, die den Eingriff vornahmen, und Personen, die sich dazu bereit erklärten, drohte die Todesstrafe. In dem hadrianischen Edikt wurde zur Bezeichnung der Kastration der Begriff excidere (ausschneiden, abschneiden) verwendet. Da dieser Begriff auch auf die Beschneidung Anwendung fand, war diese nun auch vom Gesetz betroffen. „Das Recht schrieb so die Verwechslung fest, die bezüglich der ‚genitalen Manipulationen‘ in den Köpfen herrschte und die sich bei den griechischen und römischen Autoren widerspiegelt.“79

Die Proteste gegen das Gesetz führten schließlich zu Ausnahmeregelungen, die zunächst den ägyptischen Priestern (um 120), später auch den Juden zugestanden wurden. Modrzejewski weist zu Recht darauf hin, dass das Edikt des Hadrian nicht zwingend in Verbindung gebracht werden kann mit dem Kampf gegen die jüdische Selbstbestimmung: Es wurde mehr als eine Dekade vor dem Bar-Kochba Aufstand (132–135) erlassen. Doch das Gesetz trug dazu bei, die Vorurteile gegen die Juden zu schüren, indem es die Verwechslung von Beschneidung und Kastration beförderte. Unterschwellig griff es damit auch schon einen Gedanken auf, der später sowohl im christlichen Antijudaismus als auch im rassistischen Antisemitismus eine wichtige Rolle spielen sollte: der Gedanke, dass die Andersheit der Juden „irgendwie im genitalen Bereich“ zu verorten sei.80 Diese Vorstellung war wiederum geprägt von der Wahrnehmung, dass Begriffe wie Vater und Mutter – und damit einhergehend die Blutslinie – im Judentum eine andere Bedeutung hatten, als dies für Griechenland, Rom und das Christentum der Fall war. Indem die jüdische Gemeinde das Prinzip der Matrilinearität einführte, bestätigte sie, dass ihrer „Andersheit“ auch geschlechtliche Codes zugrunde lagen. Ihr selbst ging es aber um das Überleben der Gemeinschaft: Für Juden ergänzte die Entscheidung zur Matrilinearität das Zeichen der Beschneidung – auf symbolisch-religiöser wie auf historischer Ebene.

Die Entscheidung zur Matrilinearität war auch aus anderen historischen Gründen überlebenswichtig, und hier zeigte sich deutlich der Zusammenhang zur Beschneidung. Während der Kriege gegen die Römer waren viele jüdische Frauen vergewaltigt worden; ihre Kinder mussten in geordneter Weise ins Judentum überführt werden. Zugleich gab es einen dramatischen Männermangel; viele Witwen und unverheiratete Frauen blieben unversorgt. Dieses Problem hätte zwar vorübergehend durch Polygynie, wie sie auch schon die Einrichtung der levitischen Ehe vorsah, behoben werden können. Aber dagegen sträubten sich die Juden im Römischen Reich. So gab es nur die Möglichkeit, fremde Männer in die Gemeinschaft aufzunehmen. Vorher wurden, wie oben beschrieben, nichtjüdische Frauen zu Jüdinnen, indem sie einen Juden heirateten. Seit dem 2. Jahrhundert v. u. Z. gab es auch ein Reglement, das es Männern erlaubte, bei der Heirat mit einer Jüdin zum Judentum zu konvertieren. Es funktionierte „wie eine Art ‚Einbürgerung‘“.81 Die Konversion setzte aber zwingend die Beschneidung voraus, und durch die Ergänzungen des hadrianischen Edikts, die die Beschneidung für jüdisch geborene Söhne, nicht jedoch für Konvertiten zuließen, stand diese unter schwerer Strafe. In dieser demographischen Situation, die das faktische Verschwinden des Judentums impliziert hätte, blieb den Rabbinen also kaum eine andere Wahl, als die mütterliche Abstammungslinie einzuführen.82 Wäre aber alleine diese historische Situation der Grund für die Einführung der Matrilinearität gewesen, dann hätte sie nach einigen Generationen wieder verworfen werden können. Da dies nicht der Fall war, ist davon auszugehen, dass die Matrilinearität auch weiterhin eine wichtige Funktion für das Überleben der Gemeinde spielte – und der Grund dafür war zweifellos das Aufkommen des Christentums.

Judentum und Christentum: Aneignungen, Abgrenzungen

Die lange Geschichte des Antijudaismus, des rassistischen Antisemitismus und vor allem die Shoah (siehe hierzu auch den Beitrag von Stefanie Schüler-Springorum, S. 363) erzwingen heute, den Blick auf die Unterschiede zwischen „jüdisch“ und „christlich“ zu richten. Doch für die ersten Jahrhunderte waren diese nicht evident. Christentum und rabbinisches Judentum entstanden fast zeitgleich, sie entwickelten sich nebeneinander – oft in Abgrenzung gegeneinander, manchmal aber auch unter Übernahme von Gedankengut aus der anderen Religion. Je mehr die christliche Religion Zulauf hatte, je mehr sie sich mit Staat und weltlicher Macht verband, je mehr sie also über ein eigenes Territorium verfügte, desto schärfer wurde die Ablehnung des Judentums formuliert. Das Christentum tat sich schwer mit der Tatsache, dass sich sowohl die Heilige Schrift als auch die jüdisch-rabbinischen Lehren auf eine explizit jüdische Religion bezogen. Die Kirche berief sich zwar auf denselben heiligen Text, musste diesen jedoch im Sinne der eigenen Religion umdeuten, um den „alten Bund“ zwischen Gott und Israel zum Vorläufer des „neuen Bundes“ erklären zu können. Ein Beispiel für eine solche Umdeutung: Das in Exodus formulierte Konzept, dass Gott „inmitten Israel wohnt“ wurde von Paulus fast wörtlich aufgegriffen und auf die christliche Gemeinde übertragen: „Wißt ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wer den Tempel Gottes vernichtet, den wird Gott vernichten; denn der Tempel Gottes ist heilig, und der seid ihr.“83 Ähnlich auch in der Johannes-Offenbarung. Im Abschnitt „Das himmlische Jerusalem“ wird ebenfalls das Exodus-Bild christlich umformuliert. „Siehe, das Zelt Gottes unter den Menschen. Und er wird bei ihnen sein Zelt aufschlagen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein.“84 Trotz – oder vielleicht wegen – solcher Aneignungen gab es eine tiefe Verunsicherung im Christentum: Die Tatsache, dass der Großteil der antijuadistischen Texte formuliert wurde, nachdem das Christentum Staatsreligion geworden war, zeigt deutlich, dass nicht einmal die Tatsache, majoritär zu sein, der christlichen Religion die Sicherheit der eigenen Überlegenheit verschaffte. Auch die zentrale Heilsbotschaft des Christentums, die Vergöttlichung Jesu, wurde erst im 3. Jahrhundert ausformuliert. Das Judentum dagegen musste sich neu ausrichten.

Das Judentum in seiner heutigen Gestalt ist eine vergleichsweise junge Religion, die ihre definitive Gestalt im frühen 3. Jh. in Abgrenzung und gegen verschiedene Gruppen von Jesusanhängern und Gnostikern, in Auseinandersetzung und Übereinstimmung mit dem römischen Imperium und: nicht zuletzt unter dem Einfluss der griechischen Philosophie gewonnen hat; ein in die Sprache des biblischen Glaubens gekleidetes System von ethisch gebundenen Lebensregeln, das sich in seinem menschheitlichen Universalismus von der stoischen Philosophie kaum unterscheidet, aber aufgrund bitterer historischer Erfahrungen einem politischen Quietismus anhängt und gleichwohl – anders als das Christentum nach Augustus – nicht bereit war, die moralische Verantwortlichkeit des einzelnen Menschen preiszugeben.85

Kurz, beide Religionen entwickelten ihre Lehrgebäude in Abhängigkeit von und in Ablehnung gegeneinander. Bei der jüdischen Abgrenzung gegen das Christentum hatten Zugehörigkeitsmerkmale wie Beschneidung und Matrilinearität eine wichtige Funktion.

Die ersten Christen kamen einerseits aus den Traditionen des Judentums, traten andererseits aber auch die Erbschaft von Griechenland und Rom an. Letztere, die heidnischen Christen, brachten die Ablehnung der Beschneidung mit. Anders als die Judenchristen drängten sie auf eine Hellenisierung des Judentums. Paulus kam ihnen entgegen: Er wollte die Beschneidung durch die Askese ersetzen. „So sind wir also, Brüder, dem Fleisch nicht schuldig, daß wir fleischlich leben. Denn wenn ihr fleischlich lebt, werdet ihr sterben. Wenn ihr aber mit dem Geist die Werke des Fleisches tötet, werdet ihr leben.“86 Da die Beschneidung Zeichen des Bundes zwischen Gott und dem Volk Israel war, ließ die paulinische Aufkündigung der Beschneidung erkennen, dass man hier um einen neuen Gottesglauben, wenn nicht gar um einen neuen Gott rang. Gewiss, den Christen heidnischer Herkunft erleichterte der Verzicht auf die Beschneidung den Anschluss an die Gemeinde.87 Doch Paulus, der auch den Judenchristen entgegenkommen wollte, erklärte, dass Christus einen „neue(n) Bund in meinem Blute“ geschlossen hat.88 Wir Christen, so schreibt er, „sind die Beschneidung“.89 Mit dieser neuen Auslegung der Beschneidung wird die Beschneidung durch das Selbstopfer Christi ersetzt; dieses sollte fortan alle anderen Formen des Opfers ersetzen.90 Mit anderen Worten: Nicht nur implizierte der christliche Verzicht auf die Beschneidung eine völlig neue Gottesvorstellung, sondern es wurde hier auch ein Gott angerufen, der sich selbst, in Gestalt seines Sohnes, für das Opfer einbringt, das in der jüdischen Religion vom Menschen erbracht werden muss. Im Christentum kann der Gläubige allenfalls dadurch seinen Anteil am Opfer erbringen, dass er sich ganz dem Herrn verschreibt. „Die Gabe des Gläubigen ist zuerst die Gabe seiner selbst durch den Glauben, die Geste absoluten Vertrauens.“91

Die Beschneidung wurde zu einem wichtigen Referenzpunkt der Spaltung zwischen den zwei Religionen: Beide bezogen sich auf den „Bund mit Gott“, doch auf sehr unterschiedliche Weise, was sie in einen unauflöslichen Auslegungskonflikt brachte. Das römische Gesetz verstärkte die Spaltung. „Indem es die Beschneidung für unzulässig erklärte, hat das römische Recht machtvoll dazu beigetragen, den Prozess der Loslösung der Anhänger des Jesus von Nazareth aus ihrem ursprünglich jüdischen Milieu, der schon in der Mitte des ersten Jahrhunderts begonnen hatte, zum Abschluß zu bringen.“92 Mit der Ablehnung der Beschneidung übernahm das Christentum auch diese Erbschaft – neben Schriftsystem und Patrilinearität – von Hellenismus und Rom. Sie erweiterte die christlich-jüdische Spaltung um eine politische Dimension. Die Konflikte zwischen Rom und dem jüdischen Volk hatten vor allem darauf beruht, dass die religiösen Bestimmungen des Judentums zugleich einen Rechtskodex darstellten, mithin die Basis einer politischen Gemeinschaft bildeten. An sich gewährte das Römische Reich Religionsfreiheit; unter seinem Dach fanden sich auch viele unterschiedliche religiöse Strömungen wieder. Doch im Fall des Judentums implizierte religiöse Autonomie auch politische Selbstbestimmung, und die war schwer vereinbar mit den Ansprüchen römischer Herrschaft. Matrilinearität und Beschneidung verstärkten diese Differenz.

In den ersten Jahrhunderten nach der Entstehung des Christentums konkurrierten Judentum und Christentum um die religiöse Definitionsmacht. Dabei wurden auch viele Lehren in Anlehnung an die andere Religionsgemeinschaft entwickelt. Während dies für die christliche Seite schon länger anerkannt wurde, zeigt erst die neuere Forschung, wie sehr auch die Neudefinition des Judentums unter dem Einfluss des frühen Christentums stand. Beginnend in Jabne, dem ersten Ort rabbinischer Gelehrsamkeit, zogen jüdische Gelehrte klare Grenzlinien gegen das aufkommende Christentum. Einige unter ihnen – darunter hochrangige – sympathisierten aber auch mit den Jesusanhängern. Die traditionelle Metapher einer Mutter-Tochter-Religion zur Beschreibung von Judentum und Christentum sei vollkommen unsinnig, schreibt David Biale. Es handle sich eher um Zwillinge. „Man könnte die Metapher sogar erweitern und von identischen Zwillingen sprechen: ein Embryo, das sich später geteilt hat.“93 Andere bestreiten sogar die Spaltung und sprechen von „the ways that never parted“.94 Dagegen sieht Micha Brumlik im Christentum „ein älteres Geschwister“ des Judentums, eine „Ausformung des biblischen Glaubens, die das rabbinische Judentum in seiner heutigen Form provozierte“.95 Das rabbinische Judentum sei jünger als das paulinische Christentum und stelle zugleich eine Protestaktion dagegen dar.96 Biale nennt die Mischna und andere Texte des rabbinischen Judentums ein „Zweites Testament“,97 weist zugleich aber auch darauf hin, dass die Polarisierung zwischen Christentum und Judentum zu einer „Rejudaisierung“ Palästinas führte.98 In dieser Lesart werden das Neue Testament und der Talmud zu zwei miteinander konkurrierenden „Kommentaren“. In den Worten von Heinz-Günther Schöttler: „Beide – Juden und Christen – hören die gleiche ‚Ur-Kunde‘ des Einen Gottes: die als Tanach rezipierte Bibel Israels, verbunden mit Mischna und Talmud als Kommentar, bzw. die als Altes Testament rezipierte Bibel Israels, verbunden mit dem Neuen Testament als Kommentar.“99

Ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Arten der Exegese ergab sich durch die Art der Verschriftung. Sowohl die Evangelien als auch die rabbinischen Texte haben zunächst orale Form. Doch während im Christentum, nach dogmatischen Kämpfen, die Befürworter einer geschriebenen Fassung den Sieg davontrugen, entwickelte das rabbinische Judentum eine Form von Verschriftung, in der die Eigenschaften der Oralität erhalten blieben (siehe hierzu auch die Beiträge von Elisa Klapheck, S. 81 und Stefan Schreiner, S. 147). Erst ab dem 4. Jahrhundert, als sich diese unterschiedlichen Formen der Verschriftung und Exegese etabliert hatten, kann von zwei getrennten Religionen die Rede sein. Damals war „einerseits das Christentum die hegemoniale Macht des römischen Imperiums geworden und die christliche ‚Orthodoxie‘ entstanden“; andererseits hatte sich das rabbinische Judentum gefestigt und trat nun „mit seiner eigenen Orthodoxie und Hegemonie“ hervor100 (siehe hierzu auch den Beitrag von Joachim Valentin, S. 125).

Auch andere Judaisten und Historiker betonen, es sei nicht mehr möglich, „das Judentum ohne Christentum zu denken“.101 Israel Yuval schreibt: „Wo immer Ähnlichkeiten zwischen Judentum und Christentum zu beobachten sind, dürfte es sich um christlichen Einfluss auf das Judentum handeln und nicht umgekehrt, es sei denn, die jüdischen Wurzeln des betreffenden Phänomens liegen nachweislich früher als die christlichen.“102 Michael Hilton, ein an der Universität Manchester lehrender Rabbiner, zögert nicht, das rabbinische Judentum sogar als „Tochterreligion des Christentums“ zu definieren.103 (Offenbar fällt es schwer, das Verhältnis der beiden Religionen anders als in Verwandtschaftsmetaphern zu denken!) Auch Peter Schäfer weist auf viele Parallelen zwischen christlichen und jüdischen Messias-Vorstellungen hin.104 Wie kommt es dann, fragt Olmer, „dass die Unterschiede zwischen aschkenasischem und nordafrikanischem oder babylonischem Judentum so relativ gering sind“?105 Yuvals Antwort: Der christliche Einfluss auf das Judentum begann eben nicht erst im Mittelalter, als die Kirche fest etabliert war. Vielmehr trat bereits das judäische wie auch das babylonische Judentum die Erbschaft einer kulturellen Tradition an. In beiden Fällen kam es zu einer Ablehnung der christlichen Antwort auf die Krise, die die Tempelzerstörung ausgelöst hatte.

Am Anfang ging es den rabbinischen Gelehrten vor allem um die Abgrenzung gegen die jüdischen Anhänger des Christentums:

Die rabbinische Politik gegen das Christentum war in erster Linie gegen die Judenchristen gerichtet. Mit Erfolg grenzten sie sie aus und hielten sie von der jüdischen Gemeinde (Kehilat Israel) fern. Die Geschichte der Trennung ist im Wesentlichen die Geschichte des Triumphs der Rabbinen und das Versagen der Judenchristen, eine Mehrheit der palästinensischen Juden von den Zielen der Evangelien zu überzeugen.106

Das von den Rabbinen geschaffene Regelwerk verbot es, mit Judenchristen zu essen, Handel zu treiben, Geschäfte zu tätigen. Sie durften auch nicht ihre Bücher lesen, die als Ketzerei eingestuft wurden. Es war ihnen sogar verboten, sich von „Minim“ (innerjüdischen Ketzern) behandeln zu lassen – wegen der Gefahr, dass eine Heilung als christliches Wunder bezeichnet werden könnte (siehe hierzu auch den Beitrag von Charlotte Fonrobert, S. 173).107 Zur Abgrenzungsstrategie gehörte auch das Prinzip der Matrilinearität, das eindeutig etablierte, wer der jüdischen Gemeinde angehörte und wer nicht. Zwar gab es weiterhin Konversionen, aber sie hatten weniger Gewicht als die mütterliche Deszendenz. Zudem wurde festgelegt, „dass der jüdische Status praktisch unauflösbar war“.108 Dies galt auch für Konvertiten, die mit dem Übertritt eine neue Existenz annahmen. Durch das vollständige Eintauchen in „reines Wasser“ (Lev 11,36) wird ein Schlussstrich unter das vergangene Leben gesetzt und die Person als Jude oder Jüdin in ein neues Leben überführt: „Ein Proselyt ist wie ein neugeborenes Kind (bYev 22a).“109 Aus diesem innerjüdischen Konflikt zwischen traditionellen Juden und den Jesus-Anhängern wurde später, als Heidenchristen die ursprünglich innerjüdische Polemik übernahmen, die Basis des Antijudaismus und „eines nun christlich geprägten Antagonismus, der bis in die Gegenwart reicht, gegen ‚die Juden‘“.110

Wegen der Abgrenzung gegen die Judenchristen sahen sich die rabbinischen Gelehrten gezwungen, die Frage zu klären: Wer ist Jude? Wie ist der halachische Status der Anhänger dieser Religion.111 Das stärkt „die Vermutung, dass eine wesentliche Ursache der Einführung der Matrilinearität im 2. Jh. u. Z. die Auseinandersetzung mit dem Christentum war“.112 Der christlichen Gemeinschaft war viel daran gelegen, sich selbst als die legitime Erbin der Heiligen Schrift auszugeben, und der Anspruch der Kirche auf das Auslegungsmonopol verband sich mit dem Ziel, die legitime Erbin des Bundes zu sein. Als im Jahr 554 – das war zu einer Zeit, in der die Kirche schon Staatskirche war – der Codex Justinianus veröffentlicht wurde, erhob dieser den Vorwurf, dass die Juden die Bibel nicht nur anders, sondern falsch lesen. „Die Juden interpretieren verrückt“, stand dort zu lesen.113 Fortan wurde den Juden unter Androhung der Todesstrafe untersagt, Widerspruch gegen die Doktrin der Auferstehung, des Jüngsten Gerichts und der Erschaffung der Engel zu erheben. Das kaiserliche Dekret diente dazu, Juden als „Söhne des Teufels“ zu brandmarken,

[…] weil ihre Genealogie eine von der Wahrheit des Textes her als solche erkennbare falsche Genealogie, das heißt, ein Betrug ist. Die Juden sind falsch, juristisch falsch, wie gefälschte Schriftstücke; sie sind die falschen Nachkommen Abrahams, sie haben den Text falsch verstanden, die Formel Abrahams ‚et semen eius‘ falsch interpretiert.114

In dieses Schema der „legitimen Erbschaft“ gehörte auch die Frage der Blutslinie. Um Anspruch auf die jüdische Erbschaft zu erheben, legten die Christen mehrere Erzählungen der Hebräischen Bibel als Prophetien aus, in denen die Ankunft des Messias in der Gestalt von Jesus Christus angekündigt wurde.

Durch ein paar abenteuerliche Deszendenzkonstruktionen wurde Jesus Christus zum legitimen Erben des davidischen Throns, also des Königs der Juden, erklärt. Allerdings gab es ein entscheidendes Problem: Der Thron Davids wurde in männlicher Linie vererbt – und das matrilineare Prinzip, das die Rabbinen aus den Tora-Bestimmungen abgeleitet und als göttliches Gesetz legitimiert hatten, widersprach dem. Wie konnte sich das Christentum unter diesen Umständen der Rechtsnachfolge sicher sein? Indem es eine männliche und eine weibliche Deszendenlinie für Jesus Christus entwickelte. Die männliche Abstammung entsprach den Stammeslinien der Bibel und wurde darüber hinaus durch die göttliche Herkunft Christi, in eine Art von „geistiger Vaterschaft“ überführt, die ab dem 3. Jahrhundert auch für seine göttliche Herkunft stand. Für die weibliche Linie war dagegen die Jungfrau Maria die richtige Lösung: Erstens war sie ein „Sprössling“ aus dem Hause Davids, und da zweitens kein leiblicher Vater ins Spiel kam, handelte es sich eindeutig um eine weibliche Deszendenz, zumindest was die „menschliche Natur“ Christi betraf.115 Ob die Rabbinen die Absicht hatten, den Christen durch die Matrilinearität die Erbschaft ihrer Heiligen Schrift streitig zu machen oder nicht: Rückblickend kann man sich zumindest fragen, ob es ohne die Einführung der Matrilinearität auf jüdischer Seite überhaupt zu den christlichen Lehren der Jungfrauengeburt und dem Dogma der unbefleckten Empfängnis gekommen wäre.

Viele Differenzen zwischen rabbinischem Judentum und frühem Christentum betrafen Fragen der Sexualität und Fortpflanzung. „Die neue Denkweise, die im 2. Jahrhundert in christlichen Kreisen aufkam“, so Peter Brown, „verschob den Schwerpunkt des Denkens über die Natur menschlicher Schwachheit vom Tod auf die Sexualität. Denn die Sexualität wurde nicht mehr als freundliches Mittel gegen den Tod dargestellt.“ Vielmehr wurde sie „privilegiertes Symptom dafür, daß die Menschheit in Knechtschaft verfallen war“.116 Das christliche Ideal der Askese und die hohe Bewertung der Jungfräulichkeit117 waren der jüdischen Religion fremd: Am Schabbat hat der jüdische Mann „die Pflicht“ mit seiner Frau Geschlechtsverkehr zu haben; die sexuelle Vernachlässigung wurde von den Rabbinen als Grund akzeptiert, wenn eine Frau sich von ihrem Mann trennen wollte. Auch war ein Rabbi, im Gegensatz zu den christlichen Geistlichen, immer ein verheirateter Mann. Der ganzen antiken Welt war der christliche „Boykott des Schoßes“118 fremd. Die Sexualität galt Griechen wie Römern und Juden als Tribut, den Männer und Frauen für den Erhalt der Gemeinschaft zu erbringen hatten.

Das christliche Askese-Ideal übte allerdings eine hohe Anziehungskraft auf Frauen aus, weil es zugleich Geschlechtergerechtigkeit und Zugang zu einem geistigen Leben versprach. Diese Frauen genossen im frühen Christentum ein hohes Ansehen. Doch ab dem 4. Jahrhundert – d. h. in der Zeit, in der sich die christliche „Staatskirche“ allmählich herausbildete – verzog sich das Askese-Ideal in die Klöster, und in der Welt „draußen“ setzte sich eine traditionelle Geschlechterordnung durch: 34 der 81 canones, die die im Jahre 306 in Elvira versammelten Bischöfe erließen, betrafen Fragen der Ehe und sexueller Vergehen, ein Viertel aller Entscheidungen beinhaltete eine verstärkte Kontrolle der Frauen der christlichen Gemeinschaft.119

Dieser Wandel ging mit einem verschärften Antijudaismus einher. Auf dem Konzil von Elvira wurden auch die ersten kirchlichen Regeln erlassen, die sich ausdrücklich gegen das Judentum richteten – Regeln, die später in staatliches Recht überführt wurden. Vier der 81 canones von Elvira sahen eine Distanzierung vom Judentum vor: Ehen mit jüdischen oder heidnischen Partnern wurden verboten; Großgrundbesitzern wurde untersagt, ihre Feldfrüchte von Juden segnen zu lassen, und Gläubige sollten keine Tischgemeinschaft mit Juden pflegen. Auf der anderen Seite hatte sich zu dieser Zeit aber auch das rabbinische Judentum etabliert – und mit ihr die Halacha, der Verhaltenskodex für gläubige Juden. Zwar galt dies zunächst nur für Palästina (die Verbreitung der neuen Lehre in der erweiterten Diaspora sollte noch einige Jahrhunderte auf sich warten lassen, und erst im 8. Jahrhundert erreichte die Halacha Spanien und Italien, das Rheinland sogar erst im 9. Jahrhundert), doch mit der Halacha war ein Instrument geschaffen worden, „das in der Lage war, den wechselnden historischen Herausforderungen entsprechende Antworten zu geben“.120

Mit dem Übertritt von Konstantin dem Großen zum Christentum zu Beginn des 4. Jahrhunderts fiel im Römischen Reich das Verbot gegen die christliche Religion. Fortan wurde aus dem religiösen Konflikt ein politischer. Waren Judentum und Christentum im vorkonstantinischen Römischen Reich gleichermaßen Außenseiter, so erhielt nun die christliche Gemeinschaft durch die Verbindung mit der kaiserlichen Macht politisches Gewicht – und das veränderte die Rivalität zwischen den beiden Religionsgemeinschaften beträchtlich. Als im Jahr 380 das Christentum im Römischen Reich zur offiziellen Religion wurde, wurden Juden zu doppelten Außenseitern: der Religionsgemeinschaft wie des Staates. Im Jahre 438 dekretierte der Codex Theodosianus den Ausschluss von Juden von öffentlichen Ämtern und das Verbot der Mission unter römischen Bürgern oder Sklaven.121

So wie sich die jüdische Ablehnung des Christentums zunächst vor allem gegen die Abtrünnigen in den eignen Reihen richtete, hatte auch der christliche Antijudaismus oft innerreligiöse Hintergründe und Auswirkungen – und dieses Wechselspiel zog sich bis in die Moderne. Die antijüdische Literatur des 7. Jahrhunderts z. B. stand in enger Beziehung zum Bilderstreit, der innerhalb der christlichen Religion tobte, als dort neben die traditionelle Rechtfertigung der Kreuzesverehrung die Rechtfertigung des Bildes im christlichen Gebrauch trat.122 Andersherum verschärfte sich mit der Entwicklung der christlichen Bilderverehrung das jüdische Bilderverbot (siehe hierzu auch den Beitrag von Inka Bertz, S. 399).123 Die kirchlichen Debatten des 11. und 12. Jahrhunderts um die Bedeutung von Brot und Wein bei der Messe wurden auf dem Laterankonzil von 1215 zugunsten der Transsubstantiationslehre entschieden. Zugleich wurde die Bestimmung erlassen, dass Juden einen gelben Fleck zu tragen hatten. Während bei der Messe aus dem Symbol Brot und Wein das reale Fleisch und Blut Christi wurde, verwandelte die Markierung den „Juden“ in einen sichtbaren, physiologischen Anderen. Die Fixierung auf die andere Religion zog sich durch die gesamte Geschichte der jüdisch-christlichen Beziehung: vom 1. Jahrhundert über das Mittelalter bis in die Moderne. Andersherum war auch die Haskala, die jüdische Aufklärung, eine Reaktion auf die Aufklärung des christlichen Kulturraums, wie auch die jüdische Orthodoxie, die sich dieser Entwicklung verweigerte (siehe hierzu auch den Beitrag von Julius H. Schoeps, S. 289).

Neue jüdische Identitäten

Mit der Entstehung des Staates Israel im Jahre 1948 änderte sich die Situation des Judentums grundlegend. Zum ersten Mal seit fast 2000 Jahren gab es neben der Diaspora auch einen festen Ort, ein „jüdisches Territorium“. Die jüdische Bevölkerung wurde 1945 auf 11 Millionen Personen geschätzt und umfasst heute 14,1 Millionen.124 Während der Diaspora 1945 noch ca. 10,5 Millionen Personen zugerechnet wurden, sank dieser Teil der jüdischen Weltbevölkerung auf heute 8,1 Millionen. Die meisten von ihnen leben in den USA. In demselben Zeitraum wuchs die jüdische Bevölkerung Israels von einer halben auf 6,1 Millionen Personen an.125 Israel hat heute die USA als größte jüdische Gemeinde verdrängt. 2050, so die Prognose, werden 57 Prozent aller Juden in Israel und 34 Prozent in den USA leben. Der europäische Anteil werde in demselben Zeitraum von 9 Prozent (1,2 Millionen) im Jahr 2006 auf sechs Prozent (0,8 Millionen) im Jahr 2050 zurückgehen.126 Man rechnet also mit einem weiteren Wachstum zugunsten von Israel und zulasten der Diaspora. Würde die jüdische Bevölkerung der USA nach halachischen Kriterien bemessen, wäre die Disproportion noch größer.127

Israel bedeutet nicht zwingend eine Zunahme der religiösen Definition des Judentums. Schon die zionistische Emigration nach Palästina war mehrheitlich säkular oder sogar atheistisch und plante einen „säkularen jüdischen Nationalstaat“, in dem die Religion „nur ein Bestandteil des nationalen kulturellen Erbes“ sein sollte – eine Vision, die von den religiösen Zionisten freilich nicht geteilt wurde.128 Zu einem religiösen Gebilde entwickelte sich der israelische Staat eigentlich erst seit dem Sechstagekrieg von 1967, der die Notwendigkeit einer einheitsstiftenden Kraft deutlich machte – und für diese kam in erster Linie die Religion in Frage (siehe hierzu auch den Beitrag von Micha Brumlik zum Thema Zionismus, S. 371). Dennoch bezeichnet sich noch heute eine deutliche Mehrheit (60 Prozent) der Israelis als säkular. Allerdings lebt diese Mehrheit, wenn auch nicht explizit, nach einem reformjüdischen Modell: Sie bekennt sich zum Judentum und hält sich an Rituale und Feiertage wie Schabbat, Beschneidung, Bar Mitzwa, Pessach, Jom Kippur etc. Diese werden aber nicht unbedingt als Rituale der jüdischen Religion wahrgenommen, sondern als „Bestandteile der Kultur in der israelisch-jüdischen Mehrheitsgesellschaft. Insofern heißt säkular leben, insbesondere in Israel, immer auch durch Sprache und Kultur dem Judentum verbunden bleiben“.129 Die meisten areligiösen Israelis, so Amos Oz, seien „Reformjuden, ohne es zu wissen“.130 Auch der „säkularste“ Israeli sei täglich mehr „Jiddischkeit“ ausgesetzt, als es ein orthodoxer amerikanischer Jude je sein wird; allein die hebräische Sprache sei eine stete Erinnerung an die eigenen Wurzeln.131 Was Israel also garantiert, ist die „Selbstverständlichkeit“ des Jüdisch-Seins – eine Erkenntnis, zu der viele Israelis erst kommen, wenn sie im Ausland zum ersten Mal erleben, dass ihre jüdische Identität minoritär ist.

Die Entstehung des Staates Israel bedeutete für einen Teil der jüdischen Weltbevölkerung das Ende der Diaspora. Das gilt heute nicht nur für Israelis, sondern auch für Juden in anderen Ländern. Für sie ist Israel zu einem Ort der Sicherheit im Fall von Verfolgung geworden. Er bedeutet die Bindung an ein Land, auch wenn sie nicht dort leben. Israel hat nicht die Bibel als Mittel der Kohäsion ersetzt; der Staat hat nicht das „portative Vaterland“ verdrängt. Doch das „Heilige Land“ ergänzt die „Heilige Schrift“. Dadurch besteht nicht mehr in demselben Maße die Notwendigkeit, den weiblichen Körper zur „Heimstätte“ des Judentums zu machen. Zwar gilt auch in Israel das matrilineare Prinzip jüdischer Identität, doch in der Praxis wird es teilweise durchbrochen, etwa durch die Immigrationsgesetze von 1970, die auch die Ehepartner, Kinder und Enkel eines Juden, den Ehepartner des Kindes eines Juden und den Ehepartner eines Enkels eines Juden in das Rückkehrrecht einbeziehen. Dadurch sollte explizit die Einheit von Familien, in denen es zu religiös gemischten Familien kam, bewahrt werden. Eigentlich ist es erstaunlich, dass Israel an der mütterlichen Linie festhält, obwohl diese eine Erfindung der Diaspora und durch die Diaspora bedingt war. Mit der Entstehung eines jüdischen Staats mit eigenem Territorium wäre das „Ersatzterritorium“ Mutter eigentlich verzichtbar. Wenn der Staat Israel dennoch daran festhält, so mag dies daran liegen, dass die Frage der Territorialität weiterhin als prekär empfunden wird.

In vielen Ländern, in denen noch 1970 Juden lebten, gibt es heute so gut wie keine jüdischen Gemeinden mehr – darunter Belarus, Moldawien, Usbekistan, Iran, Rumänien, Georgien, Marokko, Aserbaidschan. In anderen, wo 1970 kaum Juden lebten, gibt es jetzt jüdische Gemeinden – darunter Deutschland, Mexiko, Belgien, Niederlande, Italien, Chile, die Schweiz, Uruguay. Was die Diaspora betrifft, „deutet alles auf eine Verwestlichung des globalen jüdischen Kollektivs“.132 Die Verlagerung innerhalb des Judentums von Religion zu Kultur ist zugleich ein Phänomen der Diaspora. Unter den „säkularen“ Juden ist die Rate der Mischehen wiederum besonders hoch: Ca. 50 Prozent aller Juden außerhalb von Israel gehen Mischehen ein. Ist die Mutter jüdisch, so besteht wiederum eine 37-prozentige Chance, dass sich die Kinder als Juden betrachten; ist dagegen der Vater jüdisch, so übernehmen nur 15 Prozent der Kinder seine Erbschaft. In Ehen, wo beide Eltern jüdisch sind, liegt der Prozentsatz bei 92 Prozent. Bei den Enkeln weitet sich die Schere noch.133 Hinzu kommen die generell niedrigeren Geburtenraten, vor allem in Europa. Die Kombination von niedrigen Geburtenraten und hoher Rate an „Mischehen“ führt insgesamt zu einem Rückgang der jüdischen Bevölkerung in der Diaspora, die noch erheblich verstärkt würde, sollte sich die von der Orthodoxie geforderte Einschränkung auf das Prinzip der Matrilinearität überall durchsetzen. Sie bewirkt laut Olmer, dass „das jüdische Volk täglich um 150 Personen schrumpft“.134 An sich kann nicht wirklich von einer Abnahme der jüdischen Bevölkerung die Rede sein, nicht einmal, wenn man den großen Verlust an Menschen durch den Holocaust bedenkt. Die jüdische Weltbevölkerung betrug 1900 10,5 Millionen, im Jahr 1939 16,5 Millionen; nach dem Holocaust wurde sie auf 11 Millionen geschätzt. Bis zum Jahr 2014 wuchs sie wieder auf 14,2 Millionen an. Der größte Teil des Wachstums fand unmittelbar nach 1945 statt. In nur 13 Jahren wuchs die jüdische Bevölkerung um eine Million Menschen, „aber es bedurfte weiterer 47 Jahre, um eine weitere Million hinzuzufügen“.135 Seit 1970 stagniert das Wachstum. Allerdings verdreifachte sich die Weltbevölkerung von 1945 bis 2014, und der Rückgang des jüdischen Anteils stellt in der Tat eine Gefahr für den Bestand des Judentums dar.

So wundert es nicht, dass viele Juden, vor allem in der Diaspora, nun fordern, auch Kinder von jüdischen Vätern als Juden anzuerkennen. Diese Entscheidung, die sich – außer in Israel – durch keine staatliche Gesetzgebung bestimmen lässt, kann nur von den jüdischen Gemeinden selbst getroffen werden. Heinrich C. Olmer, der inzwischen verstorbene Vizepräsident des Landesverbandes der israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, veröffentlichte 2010 ein Plädoyer für die Zulassung der „jüdischen Vaterschaft“. Er konstatiert, dass das Judentum heute vor ähnlichen Fragen steht wie das Rabbinat vor 2000 Jahren – nur in Umkehrung. Olmer fragt: Können die alten Gesetze, die damals das Überleben des Judentums sicherten, heute noch diese Funktion erfüllen? Sind das Matrilinearitätsprinzip, das Verbot der Mischehe, die Verknüpfung von Religion, Ethnizität und Nationalität, der heutigen Situation noch angemessen? Seine Antwort:

Es ist fraglich, ob mit dieser Position in der globalisierten, säkularen Welt des 21. Jh., eines pluralen Judentums und einer immens ansteigenden Mischehenrate die Menschen, die dem Judentum verbunden sind, aber von der Orthodoxie mit der starren Definition „Wer ist Jude?“ von der jüdischen Gemeinschaft ausgeschlossen werden, die Zukunft des jüdischen Volks gesichert werden kann.136

In Deutschland plädiert, neben Heinrich Olmer, auch der Pädagoge und Judaist Micha Brumlik dafür, die patrilineare Abstammung als hinreichendes Kriterium der Zugehörigkeit zum Judentum wiedereinzuführen.

Wenn es historischen Umständen geschuldet war, im 2. Jahrhundert gegen die biblischen Abstammungsregeln der Mischna die Matrilinearität einzuführen, sollte es gemäß dem Geist des rabbinischen Pragmatismus doch heute möglich sein, die Matrilinearität zwar nicht abzuschaffen, sie aber doch um die Patrilinearität zu ergänzen.137

Die jüdische Gemeinde in Deutschland setzt sich heute zu einem großen Teil aus Juden zusammen, die nicht den halachischen Kriterien entsprechen: Seit 1990 kamen 220.000 sogenannte Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Israel, die USA und Deutschland nahmen 92 Prozent aller russischen ImmigrantInnen auf. Seit 2001 ist Deutschland das wichtigste Zielland, noch vor den USA und Israel.138 Die aus Russland immigrierten Juden machen heute 80 Prozent der deutschen Juden aus – das ist weltweit einmalig. Der Mitgliederbestand der jüdischen Gemeinden hat sich wegen dieser Immigration seit den 1990er Jahren verdreifacht. Die alteingesessenen Juden, die die neuen eigentlich „integrieren“ sollten, bilden heute eine Minderheit. Man vermutet, dass inzwischen 200.000 Juden in Deutschland leben, hat aber keine genauen Zahlen, weil viele (man schätzt ca. 100.000) keiner Gemeinde angeschlossen sind.139 Das liegt vor allem daran, dass die meisten jüdischen Gemeinden in Deutschland an den halachischen Gesetzen festhalten, sich die religiöse Zuordnung in Russland jedoch nach dem Vater richtete.140 Von den deutschen Behörden dagegen werden die immigrierten Juden als Juden anerkannt – eine widersprüchliche Situation, die für die Betroffenen vollkommen unverständlich ist.

Die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft unterliegt also Kriterien, die sich von einem Land zum anderen unterscheiden können. Aus solchen Überlegungen heraus sind viele reformjüdische Gemeinden in den USA und Großbritannien sowie liberale Gemeinden in Deutschland dazu übergegangen, Kinder, die nur einen jüdischen Vater, aber keine jüdische Mutter haben, zu Bar Mitzwa und Bat Mitzwa zuzulassen, sofern sie jüdisch erzogen wurden. Am 15. März 1983 fasste das Committee for Patrilineal Descent der amerikanischen Reformgemeinden einen Beschluss, in dem es heißt: „Die Central Conference of American Rabbis erklärt, dass das Kind eines jüdischen Elternteils unter der Vermutung einer jüdischen Abstammung steht.“ Diese „Vermutung“ (es ist interessant, dass hier derselbe Begriff wie für die „Vaterschaftsvermutung“ verwendet wird) soll allerdings durch den Akt eines öffentlichen Bekenntnisses zum jüdischen Glauben und eine entsprechende Unterweisung ergänzt werden.141 Nahezu alle Gemeinden, die der World Union for Progressive Judaism angehören, haben die Positionen des amerikanischen Reformjudentums übernommen.142 „Jüdische Identität war nun weniger gegeben als wählbar. Kinder mit einem jüdischen Elternteil optierten für die jüdische Identität. […] Die Betonung verschob sich von der Geburt auf die bewusste Entscheidung.“143 Sogar in konservativen Gemeinden zeigen Umfragen, „dass 68 Prozent aller Befragten die patrilineare Abstammung unterstützen würden“.144 Insgesamt offenbart sich das Aufkommen einer neuen, „mehr individualistisch empfundenen jüdischen Identität außerhalb der etablierten jüdischen Strukturen“.145 Ähnliche Entwicklungen gelten auch für Großbritannien und Frankreich. Je nachdem, wie die jüdische Identität definiert wird – halachisch oder nach den Kriterien des Reformjudentums –, ergeben sich so erhebliche Differenzen in der Bevölkerungsstatistik.

Für Kinder von jüdischen Vätern und nichtjüdischen Müttern findet immer öfter der Begriff „Halbjude“ Verwendung. Er erinnert natürlich an die nationalsozialistischen Bezeichnungen, doch während diese ausschließlich die „Blutslinie“ meinten, sind mit diesen „Halbjuden“ neue kulturelle Identitäten gemeint, die sich stärker an der Frage der jüdischen Erziehung orientieren. 2006 hat eine Gruppe um Robin Margolis das „halbjüdische Netzwerk“ ins Leben gerufen.146 Es fand bereits Anerkennung beim US-Reformjudentum und bei den „Rekonstruktionisten“ (siehe hierzu auch den Beitrag von Michael A. Meyer, S. 277).147 Eine Studie konnte nachweisen, dass im Großraum Boston 60 Prozent der Kinder aus Mischehen als Juden erzogen werden. Sie galten bisher als „halbjüdisch“, könnten nun aber ihren Einfluss auf eine neue Definition von „jüdisch“ geltend machen.148 Die französische Historikerin Esther Benbassa schreibt dazu: Die exogame Ehe bedeutet „nicht notwendigerweise den Austritt aus dem Judentum, sondern die Erfindung einer neuen jüdischen Identität, die es erlaubt, exogam zu heiraten, gleichzeitig Mitglied einer Gemeinde zu bleiben und diese Identität seinen Nachkommen weiterzugeben“.149 Manche reformjüdischen Gemeinden gehen inzwischen so weit, bei Mischehen die jüdische Mutter als Zugehörigkeitskriterium auszuschließen, wenn die Familie keine Erziehung zum Judentum garantiert. Eine solche Einstellung bedeutet potentiell, dass zwei völlig unterschiedliche, ja sogar konträre Definitionen von Judentum entstehen: eine halachisch-orthodoxe gegenüber einer kulturellen. Zum ersten Mal seit 2000 Jahren wird der gemeinsame Nenner aller jüdischen Gemeinden – das Prinzip der Matrilinearität – in Frage gestellt.

Damit steht möglicherweise die Idee der Blutslinie überhaupt zur Disposition – eine Entwicklung, die sich schon im 19. Jahrhundert, mit dem Säkularisierungsprozess angebahnt hatte und ihren Ausdruck in neuen, weder religiösen noch ethnischen Definitionen jüdischer Identität fand. Im Zusammenhang mit Freud spricht Yerushalmi vom „psychologischen Juden“. Den klassischen jüdischen Texten entfremdet,

spricht der psychologische Jude gern von unveräußerlichen jüdischen Zügen. Befragt man ihn weiter, so nennt er als typische jüdische Eigenschaften unter anderem Intellektualität und geistige Unabhängigkeit, höchste ethische und moralische Normen, Sinn für soziale Gerechtigkeit und Unbeirrbarkeit angesichts der Verfolgung.150

Andere sprechen von „kulturellen Juden“, die zwar auch religionsfern sind, deren jüdische Herkunft aber dennoch eine wichtige Rolle spielt. Diesen „kulturellen Juden“, repräsentiert etwa durch Aby Warburg, Ernst Cassirer, Georg Simmel, Walter Benjamin oder Franz Kafka, verdankte das geistige Klima der Jahrhundertwende in Wien, Berlin oder Prag Impulse, die im Kontext einer geistigen Tradition des Judentums zu sehen sind; Impulse, die Ausbildung der Kritik- und Denkfähigkeit bedeuteten.151 Sie hatte viel mit der Tradition der mündlichen Exegese gemein, der Fähigkeit, verschiedene Interpretationen der Tora nebeneinander stehen zu lassen und den Widerspruch zu ertragen.

Im Moment scheint noch die Orthodoxie über die „Norm“ zu bestimmen, aber das gilt schon längst nicht mehr für die USA, und auch in England dürfte bis 2020 die Reformbewegung zur größten jüdischen Strömung geworden sein.152 Auch in den anderen Ländern der Diaspora bilden sich zunehmend nichtorthodoxe jüdische Gemeinden. Die Pluralisierung gilt auch für Deutschland, wo sich mittlerweile mehrere Strömungen herausgebildet haben, die von orthodox über konservativ bis zum liberalen Judentum reichen. Manche von ihnen werden in ein und demselben Rabbinerseminar ausgebildet. Über Jahrhunderte definierte sich das Judentum durch die Orthopraxie, die über Alltag wie religiöses Leben bestimmte. Dieser Aspekt des Judentums scheint nicht mehr den Bedürfnissen zu entsprechen. Jeshajahu Leibowitz (1903–1994) geht sogar so weit zu fragen, „ob das jüdische Volk vom halachischen Standpunkt aus überhaupt noch existiert.“153 Er sieht „ziemlich gute Überlebenschancen für bestimmte orthodoxe jüdische Gruppierungen, aber ich bezweifle doch, dass man darin die Fortexistenz der großen Geschichte des jüdischen Volkes sehen kann“.154 Die moderne Orthodoxie habe keine Antwort auf die aktuellen Probleme des jüdischen Volkes; sie habe „eigentlich kein Verständnis für diese Probleme“.155 Die Conclusio dieses großen Gelehrten, der einerseits moderner Naturwissenschaftler war und andererseits orthodox lebte und in Israel für eine strenge Trennung von Religion und Staat eintrat:

Wenn ich meine Worte zu diesem Thema zusammenfassen soll, dann muss ich sagen, dass die Zukunft des jüdischen Volkes mir wirklich nicht klar ist, nicht in Israel und nicht in der Diaspora. Möglicherweise gibt es für die innere Krise, die im 19. Jh. begonnen hat, wirklich keine Lösung.156

Allerdings, so muss man sagen, hat ein Gutteil jüdischer Denktraditionen auch in nichtjüdischer Umgebung Fuß gefasst – in der Philosophie gilt dies etwa für die Tradition der „Dekonstruktion“, für die vor allem der französische Philosoph Jacques Derrida stand. Und es gilt auch für die kulturtheoretischen Aspekte der Psychoanalyse.157 Auf beiden Gebieten stehen Widerspruch, Uneindeutigkeit, Flexibilität der Auslegung, wie sie für den Talmud bezeichnend sind, im Vordergrund. Auch das vernetzte Wissen des Internets, das sich aus Querverweisen und widersprüchlichen Informationen zusammensetzt, weist eine ähnliche Struktur wie der Talmud auf.

Zu den verschiedenen Strömungen innerhalb des Judentums kommen noch die Unterschiede zwischen dem Judentum in Israel und dem in der Diaspora. In Israel selbst ist keine einheitliche Definition jüdischer Identität zu erkennen: Laut einer Erhebung sind zehn Prozent der israelischen Juden ultraorthodox, elf Prozent „nationalreligiös“, jeder vierte bezeichnet sich als gemäßigt traditionell, vier von zehn als säkular.158 Da jedoch in Israel auch die Säkularen eher dem Reformjudentum zuzuordnen sind, kann hier noch von einer gewissen Zuordnung die Rede sein. Das gilt nicht für die Diaspora. Die Mehrheit der Juden in der Diaspora hat sich überhaupt keiner Denomination angeschlossen. Viele unter ihnen – in manchen US-Städten der überwiegende Teil – gehören keiner Synagogengemeinschaft an. In New York sind es nur 39 Prozent. „Man schätzt, dass ca. 2 Millionen amerikanischer Juden in Haushalten leben, die sich als nichtjüdisch identifizieren.“159 Daneben gibt es aber auch viele, die sich wegen ihrer Herkunft als „jüdisch“ oder aus anderen Gründen mit dem Judentum verbunden fühlen.

Das säkulare Judentum stellt die meist verbreitete Form moderner jüdischer Identität dar. So Adam Chalom, der den Versuch unternommen hat, diese Vielfalt zu definieren.160 Im Vordergrund dieses säkularen Judentums stehen ethische Definitionen wie etwa der Humanismus.161 Auf der Webseite der Society for Humanistic Judaism heißt es, dass viele Juden ihre jüdische Identität nicht in der Religion, sondern in „der historischen Erfahrung des jüdischen Volkes“ finden: „Das humanistische Judentum verschreibt sich einer Mensch-zentrierten Philosophie, die jüdische Kultur ohne übernatürliche Untermauerung feiert. Humanistische Juden schätzen ihre jüdische Identität und jene Aspekte jüdischer Kultur, die einen wahrhaftigen Ausdruck zeitgenössische Lebens bieten.“ So feiere man auch die jüdischen Feiertage und Zeremonien des Lebenszyklus, doch geschehe dies jenseits traditioneller Symbole und Liturgien.162 Das Recht, darüber zu entscheiden, wer Jude ist, gehöre den Juden selbst – eine Formulierung, die über die Paradoxie hinwegsieht, dass man nicht weiß, wer überhaupt ein Anrecht darauf hat, dieses Recht auszuüben. Oder aber die Formulierung will besagen: Jude ist, wer Jude sein will. Genau das war die Antwort, die Ben-Gurion erhielt, als er 1950 einen Fragebogen an Intellektuelle verschickte, in dem er sie nach der jüdischen Identität befragte. „Die Mehrheit der Befragten war der Ansicht, dass jeder, der sich als Jude oder Jüdin betrachtet, Teil des jüdischen Volkes sei.“163 Das Reformjudentum der Diaspora scheint sich weiter in diese Richtung zu bewegen. Symptomatisch dafür ist einerseits die Entstehung des Verbandes Circle of Secular Jews mit seinen Jews of no Religion, andererseits aber auch die Tatsache, dass laut einem Pew Report von Mai 2015 heute jeder sechste erwachsene Jude in den USA ein Konvertit ist.164 Die Konvertiten bezeichnen sich selbst als Jews by Choice – „Wahljuden“. Die Jerusalem Post, die im Mai 2015 über die Ergebnisse des Pew Reports berichtete, illustrierte die Nachricht mit einem Bild von Juden aus Brooklyn, die Purim feiern, sich also „verkleidet“ haben.165 Offenbar sollte mit dieser Illustration unterstellt werden, dass es sich bei der hohen Zahl von Konvertiten um „unechte Juden“ handelt.

Rabbi Walter Jacob, der 1930 in Augsburg als Sohn einer bedeutenden Rabbinerfamilie geboren wurde und 1938 mit seiner Familie in die USA floh, wo er zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten des liberalen Judentums wurde, konstatiert, dass die überwältigende Mehrheit der Juden in Nordamerika, Israel und dem Rest der Welt nur in einem ganz losen Sinne jüdisch ist. Dennoch formen diese Menschen

eine neue, in ethnischer Hinsicht unverwechselbare Jüdischkeit. Sie teilen ein kollektives, kultur-sittliches Gedächtnis und obwohl sie Maimonides, Buber oder dem Gaon von Wilna fernstehen, sind sie doch nicht verloren. Sie entwickeln eine jüdische Kultur, die auf losen Verbindungen zwischen Freunden beruht, auf dem Internet und einer unbestimmten Spiritualität. Diese Spielart der Jüdischkeit hält sich seit Generationen, vielleicht schon ein Jahrhundert lang.166

Er beschreibt damit ein kulturelles und psychologisches Verständnis von jüdischer Identität, das mit einer matrilinearen Blutslinie so gut wie nichts mehr gemein hat, aber Ausdruck eines neuen Verständnisses von Judentum sein könnte.

Für Simon Dubnow deckte sich die moderne Religionsvielfalt mit den unterschiedlichen Einstellungen des frühen 20. Jahrhunderts zu Diaspora und Zionismus: Während die Reformer in der Diaspora einen Vorteil sahen, der zur Verbreitung eines „ethischen Monotheismus“ beigetragen habe, beschwörten Orthodoxe den messianischen Gedanken, laut dem das jüdische Volk ohne eine Heimstatt in Palästina zum Untergang verdammt sei.167 Diese Zuordnung – Reformjudentum der Diaspora, Orthodoxie dem Zionismus – hat sich mit der Entstehung des Staates Israel zunächst nicht bestätigt (der Großteil des Zionisten war nicht religiös, geschweige denn orthodox), nimmt heute aber zunehmend Gestalt an. In den letzten 20 Jahren setzte sich in Israel zunehmend das Gedankengut der Orthodoxie durch, und es übt inzwischen auch Druck auf den majoritären Teil der Bevölkerung aus, der sich als säkular begreift oder einer liberalen Interpretation der Religion nahesteht.168 In der Diaspora ist die Entwicklung genau gegenläufig: In den USA und auch in England wächst die Reformbewegung und dürfte bald zur größten jüdischen Strömung geworden sein.169 Ähnliches gilt auch für die anderen Länder der Diaspora.

Die modernen Gesellschaften haben es mit zwei großen Neuerungen zu tun. Das eine ist die Globalisierung und eine damit einhergehende Zunahme der Migration. Das andere ist die Verdichtung des Kommunikationswesens, insbesondere durch das Internet. Zwar hat es schon immer große Migrationsbewegungen gegeben, gerade rund um das Mittelmeer, aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen diese weltweite Dimensionen an. Für die jüdische Kultur entspricht sie einer mehr als 2000-jährigen Erfahrung, die jedoch im 20. Jahrhundert ihre größte Verdichtung erfuhr. Zwischen 1900 und dem Beginn des 21. Jahrhunderts migrierten rund 10 Millionen Juden „von, zu und quer durch Länder und Kontinente“, davon mehr als die Hälfte in den Jahren zwischen 1948 und 2013.170 Die jüdische Migrationserfahrung begann vor zweieinhalbtausend Jahren im babylonischen Exil, wo die theologischen Texte ausformuliert wurden. Seither ist sie der Religion selbst eingeschrieben. Denn schon in Babylon fand das Judentum in den Buchstaben der Schrift eine stellvertretende „Heimat“. Nach der zweiten Zerstörung des Tempels erwies sich diese Verlagerung des Gotteshauses in die Buchstaben erneut als überlebenswichtig. Auch heute scheint die jüdische Kultur besser als irgendeine andere für die Konsequenzen gewappnet, die sich auch aus der Verdichtung des Kommunikationsnetzes ergeben. Die jüdische Kultur hatte die Schrift zu ihrem „portativen Vaterland“ gemacht. Was aber ist das Internet anderes, als ein ins Schriftsystem verschobenes Heimatland? Im Cyberspace wird das Festland durch ein „bewegliches“ Territorium der Zeichen ersetzt. Mehr noch als die Migration von Menschen ist das Internet zu dem Symbol einer neuen global zusammengehörigen Welt geworden – und dieses Leben in den Buchstaben ist der jüdischen Kultur nicht nur vertraut, es ist ihr strukturell eingeschrieben.

Der amerikanische Kultur- und Kommunikationsforscher Jeffrey M. Peck, der ein Buch über die Frage der jüdischen Identität in Deutschland seit 1989 verfasst hat, vertritt die Ansicht, dass für Juden in der Diaspora die modernen Informationstechnologien zu einem wichtigen Vehikel der Vernetzung geworden sind. Das gelte insbesondere für die sich wandelnde jüdische Gemeinde in Deutschland in ihrer Beziehung zum Rest von Europa und zu Israel als der privilegierten „Heimat“ des jüdischen Volkes. „Das Erscheinen eines Cyber-Jew wäre nicht erstaunlich angesichts der wachsenden technischen Möglichkeiten, Informationen auszutauschen und, in diesem Fall, Identitäten zu konstruieren und ein neues Diaspora-Bewusstsein zu schaffen.“171 Er erwähnt einige Portale wie Jewhoo und ClickonJudaism, das von der Union of American Hebrew Congregations of Reform Movement in der Hoffnung geschaffen wurde, Menschen über Inhalte „als Eintrittsportal zur Synagoge“ zu erreichen.172 Es entstanden so Netzwerke, die sowohl eine „ethnische Gemeinschaft“ als auch eine „virtuelle Ethnizität“ herstellen. So der Medienwissenschaftler Mark Poster in seinem Buch What’s the Matter with the Internet? Als Beispiel zitiert er ein Foto, auf dem ein orthodoxer Jude an der Klagemauer zu sehen ist, der sein Mobiltelefon dem Heiligen Ort entgegenstreckt, damit ein weit entfernter Freund an diesem Ort mit ihm beten kann. Das Internet, so Poster, sei weit davon entfernt, ethnische Zugehörigkeit aufzuheben, vielmehr erlaube es „Juden, wo auch immer sie sich auf dem Planeten befinden mögen, miteinander in Kontakt zu treten“.173 Diese Faktoren, so Peck, spielen besonders in Deutschland eine Rolle: Einerseits wachse die deutsche jüdische Gemeinde rascher als irgendeine andere, hier befinde sich mittlerweile die drittgrößte Europas bzw. die neuntgrößte der Welt. Andererseits gebe es eine vollkommene Unklarheit über den Status jüdischer Identität in Deutschland. In seinen Augen ist das Internet zu dem Symbol für das Leben in der Diaspora geworden – das „portative Vaterland“ der Moderne.

Die neue jüdische Diaspora-Identität, die ich hier beschreibe, trägt zwar die Kennzeichen einer konventionellen, auf dem Blut beruhenden Affinität, verwandelt sich nun aber in eine andere Art von ziviler, politischer Gemeinschaft, die sich nach den Kategorien des globalen elektronischen Netzwerks bildet, das heute alle Identitäten reformiert.174

Auf dieser Art von Netzwerk und jüdischer Identität basiert Walter Jacobs Zuversicht über die Zukunft des Judentums: „Da uns für unsere jüdische Identität eine Vielzahl von Optionen zur Verfügung steht, sollten wir uns nicht allzu sehr um die Zukunft oder unsere demografische Entwicklung sorgen. Einige mögen für immer verloren gehen, aber die meisten werden in Nordamerika, Israel und Europa neue Formen der Jüdischkeit und des Judentums schaffen.“175

Dieses neue „soziale“ oder „virtuelle“ Konzept jüdischer Identität ist Globalisierung. Aber ohne die Entstehung des Staates Israel als territorialem Gegenpol wäre diese Entwicklung kaum vorstellbar. Das heißt, erst seitdem zum portativen Vaterland der Tora ein reales Territorium hinzugekommen ist, wurden einerseits die weltweite Diaspora, andererseits aber auch die Pluralisierung der Definitionen jüdischer Identität möglich. Zu letzteren gehören u. a. die nichtreligiösen, geistigen und kulturellen Definitionen. Diese Korrelation von Israel und Diaspora zeigt sich an einer erstaunlich hohen Übereinstimmung des Wertekanons: Sowohl in den USA (als die Repräsentation der Diaspora) als auch in Israel hat die Erinnerung an den Holocaust hohe Priorität – höher als der Glaube an Gott. Bei beiden nimmt auch die Familie einen hohen Stellenwert ein – höher als etwa die jüdischen Feiertage. Auch der wachsende Bildungsanspruch ist beiden Kulturen gemeinsam: 1957 hatten in den USA nur 26 % der jüdischen Männer und 10 % der jüdischen Frauen einen akademischen Abschluss. 2001 lag er schon bei 67 % der Frauen und 71 % der Männer – das ist erheblich höher als bei der restlichen Bevölkerung. Ähnlich in Israel, wo besonders der Anstieg unter den Frauen auffallend ist.176 Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Sorge um Israel. Nur in einem Punkt unterscheidet sich der Wertekanon: „Unter US-Juden hat die Identifizierung mit jüdischer Kultur, Geschichte und Politik einen ebenso hohen Stellenwert wie die Teilnahme an der Zivilgesellschaft für israelische Juden.“177 Man könnte das Ergebnis dieser Erhebung mit dem Satz interpretieren: Die Juden der Diaspora haben die Aufgabe übernommen, für den Bestand der geistigen Erbschaft des Judentums zu sorgen, die Juden in Israel dagegen, den Bestand der Gemeinschaft zu sichern.

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1„Biblisches Judentum“ ist ein Begriff der Moderne. Selbst der Begriff „jüdisch“ kommt in der gesamten Hebräischen Bibel nur zweimal vor. Ähnliches gilt auch für den Begriff „Religion“. Die Gemeinschaft des Alten Israel sah sich selber eher als ein Volk. Siehe hierzu auch den Beitrag von Daniel Boyarin, S. 59.

2Stock, Brian: The Implications of Literacy: Written Language and Models of Interpretation in the Eleventh and Twelfth Centuries, Princeton 1983.

3Douglas, Mary: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Frankfurt/Main 1988.

4Biale, David: Blood and Belief: The Circulation of a Symbol between Jews and Christians, Berkeley 2007.

5Vgl. Braun, Christina von: Zum Begriff der Reinheit, in: Metis. Zeitschrift für Historische Frauenforschung I (1997), S. 7–25.

6Ong, Walter: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, übers. v. Wolfgang Schömel, Opladen 1987, S. 91.

7Kallir, Alfred: Sign and Design: The Psychogenetic Sources of the Alphabet, London 1961, S. 243 (dt.: Sign and Design. Die psychogenetischen Quellen des Alphabets, Berlin 2002).

8Die Anekdote ist dem Babylonischen Talmud entnommen, bekannt als „Lo Baschamajim hi“ („Sie ist nicht im Himmel“, die Tora). Es handelt sich um die Geschichte vom Ofen des Achnai (BM 59a–b). Den Hinweis verdanke ich Liliana Feierstein und Micha Brumlik.

9Erst im rabbinischen Judentum, dessen Vorstellungen sich oft in Parallele oder in Abgrenzungen gegen das Christentum entwickelten, taucht gelegentlich ein „Vater“ in Gebeten auf, so im Gebet zum Versöhnungstag Avinu Malkenu, das zwischen 500 und 1000 entstanden sein soll. Vgl. Elbogen, Ismar: Jewish Liturgy: A Comprehensive History, Philadelphia 1993. Es handelt sich um eine erweiterte Ausgabe des ursprünglich deutschen Titels Der Jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Leipzig 1913.

10Braun, Christina von: Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, München; Zürich 2000; Gießen 2016.

11Verband der Deutschen Juden (Hg.) (neu hg. von Homolka, Walter; Jacob, Walter; Ben-Chorin, Tovia): Die Lehren des Judentums nach den Quellen, Bd. 3, München 1999, S. 43 ff.

12Aristoteles: Über die Zeugung der Geschöpfe, Buch I, Bd. 14, S. 71 f., S. 66 f.; Buch II, S. 81 f., 87 f.

131. Kor 11,7 f.

14Der Begriff der „Investition“ kommt, wie das Wort schon sagt, aus dem Textilbereich und wurde auch im übertragenen Sinne, etwa für „Bekleidung eines Amtes“, verwendet. Erst im 17. Jahrhundert, mit der Entstehung von Aktiengesellschaften und dem Papiergeld, wurde er auf den ökonomisch-monetären Bereich angewendet. Nach dieser Herleitung gilt die „Investition“ als die Verkleidung des Geldes. In einem ähnlichen Sinne ist auch die Oralität für das griechische Alphabet eine Verkleidung der Schrift und die leibliche Fortpflanzung eine Materialisierung der geistigen Fortpflanzung.

15Dazu ausführlicher Braun, Christina von: Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte, Berlin 2018.

16Braun, Christina von; Mathes, Bettina: Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen, Gießen 22007; siehe auch Braun, Christina von: Fundamentalismus und Geschlecht, in: Stollberg-Rilinger, Barbara (Hg.): „Als Mann und Frau schuf er sie“. Religion und Geschlecht, Würzburg 2014, S. 165–180.

17Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990.

18Vgl. Braun: Blutsbande.

19Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, Gesammelte Werke, Frankfurt/Main 1952 ff., Bd. XVI, S. 101–246, hier: S. 221.

20Finkelstein, Israel; Silberman, Neil A.: Keine Posaunen vor Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel, München 82015, S. 61 ff., 82.

21Baltrusch, Ernst: Die Juden und das Römische Reich, Darmstadt 2002, S. 27.

22Vgl. Havelock, Eric A.: Als die Muse schreiben lernte, Frankfurt/Main 1992.

23Olmer, Heinrich C.: Wer ist Jude? Ein Beitrag zur Diskussion über die Zukunftssicherung der jüdischen Gemeinschaft, Würzburg 2010, S. 41.

24Esr, 7,7 ff.

25Neh 8,8.

26Assmann, Jan: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998, S. 159.

27Ex 42–46.

28Marx, Alfred: Opferlogik im alten Israel, in: Janowski, Bernd; Welker, Michael (Hg.): Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte, Frankfurt/Main 2000, S. 129–149, hier: S. 140.

29Jonas, Hans: Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, hg. von Wiese, Christian, Frankfurt/Main 1999, S. 26.

30Dubnow, Simon: Diaspora, in: Seligman, Edwin R. A.; Johnson, Alvin (Hg.): Encyclopaedia of the Social Sciences, Bd. 5, New York 1931, Bd. 5, S. 126–130, hier: S. 126.

31Jonas: Gnosis, S. 34.

32Ebd.

33Ong: Oralität und Literalität, S. 96.

34Hénaff, Marcel: Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt/Main 2009, S. 536.

35Haarmann, Harald: Universalgeschichte der Schrift, Frankfurt/Main; New York 1991, S. 289.

36Yerushalmi, Yosef Hayim : Reflexions sur l’oubli, in: ders. (Hg.): Usages de l’oubli. Colloques de Royaumont, Paris 1988, S. 7–21, hier: S. 15.

37Stemberger, Günter: Einführung in die Judaistik, München 2002, S. 44.

38Esr 10,2–4.

39Olmer: Wer ist Jude, S. 67.

40Heine, Heinrich, Sämtliche Schriften, München 1995, Bd. 4, S. 483.

41Olmer: Wer ist Jude, S. 72.

42Bieberstein, Klaus: Grenzen definieren. Israels Ringen um Identität, in: Kügler, Joachim (Hg.): Bayreuther Forum TRANSIT, Impuls oder Hindernis? Mit dem Alten Testament in multireligiöser Gesellschaft. Beiträge des Internationalen Bibel-Symposiums Bayreuth 27.–29. September 2002, Münster 2004, S. 59–72, hier: S. 64.

43Bieberstein, Klaus: Geschichten ziehen Grenzen. Esra, Nehemia und Rut im Streit, in: Küchler, Max; Reinl, Peter (Hg.): Randfiguren in der Mitte, Freiburg (Schweiz) 2003, S. 33–47.

44Olmer: Wer ist Jude, S. 76.

45Ebd., S. 74.

46Cohen, Shaye J. D.: The Beginnings of Jewishness: Boundaries, Varieties, Uncertainties: Hellenistic Culture and Society, Los Angeles 1999; ders.: The Origins of the Matrilineal Principle in Rabbinic Law, in: Association for Jewish Studies (AJS) Review 10 (1985), S. 19–53; Mélèze Modrzejewski, Joseph: „Mutilare Genitalia“. Römisches Recht und jüdische Matrilinearität, hg. von Fachbereich Rechtswissenschaft, Forschungsstelle für jüdisches Recht – Marcus Cohn, im Internet: http://www.juedisches-recht.de/rec_modrzejewski.php, letzter Zugriff: 11. 06. 2017; Boyarin, Daniel: Dying for God: Martyrdom and the Making of Christianity and Judaism, Stanford 1999; Yuval, Israel: Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen, Göttingen 2007.

47Olmer: Wer ist Jude, S. 63.

48Brown, Peter: Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit im frühen Christentum, München 1994; siehe auch Braun: Versuch über den Schwindel, S. 193–196.

49Assmann, Jan: Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2003.

50Dohmen, Christoph; Stemberger, Günter: Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, Köln 1996, S. 75 f.

51Ebd.

52Cohen: Beginnings of Jewishness, S. 269 f.

53Zitiert nach Furmann, Liliana: Hypothesen zum Übergang von der biblischen Patrilinearität zur rabbinischen Matrilinearität, in: Freiburger Universitätsblätter 172 (2006), S. 45–54, hier: S. 46.

54Modrzejewski: Mutilare Genitalia, S. 18.

55Ebd.

56tQid IV, 16, zitiert nach Cohen: Beginnings of Jewishness, S. 277.

57Olmer: Wer ist Jude, S. 88.

58Ebd., S. 83.

59Ebd., S. 85.

60Modrzejewski: Mutilare Genitalia, S. 1.

61Olmer: Wer ist Jude, S. 87.

62Modrzejewski: Mutilare Genitalia, S. 3.

63TB BB 109b, zitiert nach ebd., S. 2.

64Olmer: Wer ist Jude, S. 95.

65Modrzejewski: Mutilare Genitalia, S. 18.

66Ebd., S. 15.

67Ebd., S. 3.

68Cohen: Origins of the Matrilineal Principle, S. 41.

69Stemberger: Einführung, S. 74.

70Olmer: Wer ist Jude, S. 109.

71Brumlik, Micha: Matrilinearität im Judentum. Ein religionshistorischer Essay, in: Wohl von Haselberg, Lea (Hg.): Hybride jüdische Identitäten. Gemischte Familien und patrilineare Juden, Berlin 2015, S. 19–33, hier: S. 32.

72Olmer, Wer ist Jude, S. 100.

73Modrzejewski: Mutilare Genitalia, S. 15.

74Zum Zusammenhang Opfer und Fruchtbarkeit vgl. Braun, Christina von: Der Preis des Geldes, Berlin 2012, S. 43–51.

75Zitiert nach Steinberg, Leo: The Sexuality of Christ in Renaissance Art and in Modern Oblivion, Chicago; London 21996, S. 53.

76Dieser Verwechslung begegnet man auch im innerjüdischen Kontext in den Debatten des 19. Jahrhunderts um die Beschneidung. Dort wird die Hygiene oft von aufgeklärten Juden als Rechtfertigung für die Beschneidung angeführt.

77Modrzejewski: Mutilare Genitalia, S. 6.

78Ebd., S. 9.

79Ebd., S. 10.

80Vgl. Braun, Christina von: Zur Bedeutung der Sexualbilder im rassistischen Antisemitismus, in: Feministische Studien 2/2 (November 2015), S. 293–307.

81Modrzejewski: Mutilare Genitalia, S. 14.

82Paradoxerweise argumentieren die heutigen Befürworter einer Abschaffung des reinen Matrilinearitätsprinzips ebenfalls mit der demographischen Situation und dem Rückgang der jüdischen Bevölkerungszahlen. Heute gilt aber gerade die Mischehe (zu der sich die Rabbinen im 2. Jahrhundert schließlich durchgerungen hatten, indem sie nichtjüdische Väter akzeptierten) als Grund für die Dezimierung der jüdischen Bevölkerung: Sie führe zu einer wachsenden Unkenntnis jüdischer Traditionen, mithin auch zu einer mangelnden emotionalen Einbindung ins Judentum.

831. Kor 3,16–17.

84Johannes Offenbarung 21,3.

85Brumlik, Micha: Judentum. Was stimmt? Die wichtigsten Antworten, Freiburg i. Br. 2007, S. 39 f.

86Röm 8,12–13.

87Gal 2,1–10.

881 Kor 11,25.

89Phil 3,2–3.

90Hebr 9,13–14.

91Hénaff: Preis der Wahrheit, S. 408.

92Modrzejewski: Mutilare Genitalia, S. 13.

93Biale: Blood and Belief, S. 45 (Hervorhebung im Original).

94Becker, Adam H.; Yoshiko Reed, Annette (Hg.): The Ways that Never Parted: Jews and Christians in Late Antiquity and the Early Middle Ages, Tübingen 2003.

95Zitiert nach Morgenstern, Mathias: Mutter-, Schwester- oder Tochterreligion? Religionswissenschaftliche Beobachtungen und Überlegungen zum Verhältnis von Judentum und Christentum, in: Dialog („Du-Siach“). Christlich-jüdische Informationen 67 (2007), S. 19–26, hier: S. 22.

96Brumlik, Micha: Kommentar zur 7. These von „Dabru Emet“, in: Kampling, Rainer; Weinrich, Michael (Hg.): Dabru Emet – redet Wahrheit. Eine jüdische Herausforderung zum Dialog mit den Christen, Gütersloh 2003, S. 122–132, hier: S. 132.

97Biale: Blood and Belief, S. 45.

98Ebd.

99Schöttler, Heinz-Günther: „Die Nachbarschaft von Juden und Christen – auf Augenhöhe“. Zur Theologie und Praxis der christlich-jüdischen Beziehungen, in: Hierold, Alfred E. (Hg): „Umbruch“ – ein Zeichen der Zeit. Kirche von Bamberg in der Welt von heute, Münster 2007 (= Bamberger Theologisches Forum, Bd. 11), S. 81–119, hier: S. 117.

100Olmer: Wer ist Jude, S. 116.

101Ebd., S. 111.

102Yuval: Zwei Völker, S. 35.

103Zitiert nach Morgenstern: Mutter-, Tochter-, Schwesterreligion, S. 23.

104Schäfer, Peter: Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums, Tübingen 2010.

105Olmer: Wer ist Jude, S. 112.

106Alexander, Philipp S.: The Parting of Ways from the Perspective of Rabbinic Judaism, in: Dunn, James D. G. (Hg.): Jews and Christians: The Parting of the Ways, A. D. 70 to 135, Tübingen 1999, S. 1–25, hier: S. 3.

107Olmer: Wer ist Jude, S. 121. Fragen der Tischgemeinschaft mit Juden tauchten auch bei frühchristlichen Debatten auf.

108Ebd., S. 122.

109Ebd., S. 120, Fn 463.

110Ebd., S. 117.

111Ebd., S. 119.

112Ebd., S. 115 f.

113Im Prolog der Novelle 146 heißt es „[…] insensatis semetipsos interpretationibus tradentes (…)“, zitiert nach Legendre, Pierre: „Die Juden interpretieren verrückt“. Gutachten zu einem klassischen Text, in: Psyche 43 (1989), S. 20–39.

114Ebd., S. 24 (Hervorhebungen im Original).

115Hinzu kamen als „Weissagungen“ ausgelegte Verse in Jes 7,14, wo es heißt: „Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, einen Sohn wird sie gebären.“ Die neue Übersetzung der katholischen Kirche, die Anfang 2017 erschien, korrigiert diese Aussage. Es heißt nun: „Siehe, die Jungfrau hat empfangen, sie gebiert einen Sohn.“ Von einer Weissagung ist nicht mehr Rede. Darüber hinaus weisen die Übersetzer auch darauf hin, dass das hebräische Wort „almáh“ eigentlich „junge Frau“ bedeutet, womit sie ein Fragezeichen hinter eine der wichtigsten Belegstellen für die Jungfräulichkeit Marias setzen.

116Brown: Keuschheit der Engel, S. 101.

117Gregor von Nyssa: Über die Jungfräulichkeit, in: Wirth, P.; Gessel, W. (Hg.): Bibliothek der griechischen Literatur, Bd. 7, Stuttgart 1977, Kapitel II, S. 83.

118Brown: Keuschheit der Engel, S. 101.

119Ebd., S. 220.

120Olmer: Wer ist Jude, S. 110.

121Ebd., S. 102.

122Krause, G.; Müller, G. et al. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. 6, Berlin; New York 1993, S. 533.

123Ebd., S. 523.

124Wer wird hier mitgezählt? Die Demographie verwendet für diese Statistik den Begriff der core Jewish population, einer „jüdischen Kernbevölkerung“. Sie „umschließt alle Menschen, die sich in einer soziodemographischen Befragung selber als Juden bezeichnen oder von Angehörigen desselben Hauses als jüdisch identifiziert werden“. Die „jüdische Kernbevölkerung“ überschneidet sich, ist aber nicht identisch mit dem halachischen oder anderen normativen Definitionen des Judentums. Es geht auch nicht um religiöses Verhalten oder Engagement für jüdische Angelegenheiten. Ausgeschlossen sind jedoch Personen, die einer anderen monotheistischen Religion angehören. Die Definition der „jüdischen Kernbevölkerung“ umfasst Konvertiten (egal nach welcher Prozedur sie konvertierten) und auch Personen, die sich mit einer jüdischen Gemeinde identifizieren, ohne konvertiert zu sein. Sie begreift auch all die Personen als „jüdisch“, die sich nicht religiös, sondern aus ethnischen oder kulturellen Gründen dem Judentum zurechnen. Vgl. DellaPergola, Sergio: Israel and the Diaspora: Convergent and Divergent Markers, in: Ben-Rafael, Eliezer; Schoeps, Julius H.; Sternberg, Yitzhak; Glöckner, Olaf (Hg.): Handbook of Israel: Major Debates, Bd. 2, Berlin 2016, S. 1080–1101, hier: S. 1088 f.

125Ebd., S. 1083.

126Olmer, Wer ist Jude, S. 155.

127Ebd, S. 155.

128Ebd., S. 142.

129Ebd., S. 196.

130Zitiert nach. einem Interview mit Uri Regev in: Jüdische Allgemeine, 5. April 2007, S. 4.

131Olmer: Wer ist Jude, S. 196.

132DellaPergola: Israel and the Diaspora, S. 1083.

133Olmer: Wer ist Jude, S. 13.

134Ebd., S. 15.

135DellaPergola: Israel and the Diaspora, S. 1083.

136Olmer: Wer ist Jude, S. 127.

137Brumlik, Micha: Papa ante Portas. Warum die Gemeinden auch Kinder jüdischer Väter als Mitglied akzeptieren sollten. Ein Plädoyer, in: Jüdische Allgemeine, 6. 11. 2011.

138Olmer: Wer ist Jude, S. 166.

139Ebd., S. 167, Fn 91.

140Doron Kiesel im Abschlussbericht von 8. 2. 2009: „Waren sie in der Sowjetunion Angehörige einer nationalen Minderheit gewesen, deren ethnische Zugehörigkeit sich patrilinear bestimmt hatte, so gelten sie in Deutschland als Mitglieder einer Religionsgemeinschaft, unter der Voraussetzung, dass sie, gemäß dem jüdischen Religionsgesetz, den Nachweis einer jüdischen Mutter erbringen.“ Gotzmann, Andreas; Kiesel, Doron; Körber, Karen: Im Gelobten Land? Die Integration russischsprachiger Juden in die jüdischen Gemeinden Deutschlands, Abschlussbericht-Berichtszeitraum: 1. April 2005–15. September 2008, Zentralrat der Juden in Deutschland, Berlin, S. 8 f.

141Reform Movement’s Resolution on Patrilineal Descent, March 15, 1983.

142Olmer: Wer ist Jude, S. 137.

143Kaplan, Dana Evan: Contemporary American Judaism, New York 2009, S. 183.

144Olmer: Wer ist Jude, S. 137.

145Ebd., S. 163.

146Fishkoff, Sue: „Ja, ich bin Halbjüdin“. Zwischen Ablehnung und Akzeptanz: In den USA bekennen sich immer mehr Kinder aus Mischehen zu beiden Seiten ihrer Identität, in: Jüdische Allgemeine, 23. 8. 2007.

147Der Rekonstruktionismus wurde in den 1930er Jahren durch den Rabbiner Mordecai Menahem Kaplan in den USA entwickelt. Kaplan verstand das Judentum nicht als Religion, sondern als eine sich weiterentwickelnde „religiöse Zivilisation“, die nicht nur rituelle, sondern auch kulturelle Aspekte wie Geschichte, Literatur und Künste umfasst. Für den Rekonstruktionismus gilt die Halacha nicht als festgelegt, sondern befindet sich in einem permanenten Prozess der Fortentwicklung. 1955 wurde die Jewish Reconstructionist Federation gegründet, die etwa 100 Gemeinden und Gruppen umfasst und drei Prozent des amerikanischen Judentums ausmacht. Vgl. Kaplan, Mordecai: Judaism as a Civilization: Toward a Reconstruction of American Jewish Life, New York 1934; siehe auch Dashefsky, Arnold; Sheskin, Ira: American Jewish Year Book 2013.

148Olmer: Wer ist Jude, S. 185.

149Benbassa, Esther; Attis, Jean-Christophe: Haben die Juden eine Zukunft? Ein Gespräch über jüdische Identitäten, Zürich 2002.

150Yerushalmi, Yosef Hayim: Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum, Berlin 1992, S. 28.

151Vgl. Deuber-Mankowsky, Astrid: Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen. Jüdische Werte, Kritische Philosophie, vergängliche Erfahrung, Berlin 2000.

152Olmer: Wer ist Jude, S. 193.

153Leibowitz, Jeshajahu: Gespräche über Gott und die Welt mit Michael Shashar in Jerusalem 1987, Frankfurt/Main 1990, S. 83.

154Ebd., S. 85.

155Ebd., S. 86.

156Ebd.

157Vgl. etwa: Blumenberg, Yigal: Psychoanalyse – eine jüdische Wissenschaft? Von den jüdischen Wurzeln der Psychoanalyse und der Abwehr von Tradition und Fremdsein, in: Forum der Psychoanalyse 12 (1996), S. 156–178, hier: S. 171.

158Olmer: Wer ist Jude, S. 159.

159Ebd., S. 187.

160Chalom, Adam: A Judaism for Secular Jews, in: Gitelman, Zvi (Hg.): Religion or Ethnicity? Jewish Identities in Evolution, New Brunswick; London 2009, S. 286–302.

161Der Begriff wird in Europa eher mit einer bestimmten Epoche der frühen Neuzeit verbunden, in den USA dagegen mit allgemein-weltlichen Aspekten der Kultur – so etwa beim Fächerbündel der „Humanities“, der den in Europa unter dem Namen Geisteswissenschaften firmierenden Fächern weitgehend entspricht.

162www.shj.org/, letzter Zugriff: 27. 05. 2016.

163Olmer: Wer ist Jude, S. 202.

164Von diesen ordnen sich 44 % dem Reformjudentum, 22 % dem konservativen, 14 % dem orthodoxen, 5 % anderen Bewegungen und 16 % gar keiner bestimmten Strömung zu.

1651 in 6 adult US Jews are converts, Pew study finds, in: Jerusalem Post, 13. 5. 2015.

166Zitiert nach Olmer: Wer ist Jude, S. 203.

167Dubnow: Diaspora, S. 130.

168Vgl. Tirosh, Yori: Adjudicating Women’s Exclusion in Israel: The Demise of Constitutional Law and the Rise of Private Law, in: ICON, International Journal of Constitutional Law 2017 (im Druck); siehe auch dies., Modesty on Parade, in: Haaretz, 2.6. 2017, S. 8.

169Olmer: Wer ist Jude, S. 193.

170DellaPergola: Israel and the Diaspora, S. 1084.

171Peck, Jeffrey M.: Being Jewish in the New Germany, New Brunswick; London 2006, S. 165.

172Ebd., S. 166.

173Poster, Mark: What’s the Matter with the Internet? Minneapolis; London 2001, S. 148 ff.

174Peck: Being Jewish, S. 167.

175Zitiert nach Olmer: Wer ist Jude, S. 203.

176DellaPergola: Israel and the Diaspora, S. 1087 f.

177Ebd., S. 2091 f.

Handbuch Jüdische Studien

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