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ОглавлениеElisa Klapheck
Schriftliche und mündliche Tora
Die Rabbanan lehrten: Einst trat ein Nichtjude vor Schammai und sprach zu ihm: wie viele Torot [Plural von Tora] habt ihr? Dieser erwiderte: Zwei; eine schriftliche und eine mündliche. Da sprach jener: Die schriftliche glaube ich dir, die mündliche glaube ich dir nicht; mache mich zum Proselyten, unter der Bedingung, dass du mich nur die schriftliche Tora lehrst. Dieser schrie ihn an und entfernte ihn mit einem Verweise. Darauf trat er vor Hillel und dieser machte ihn zum Proselyten. Am ersten Tage lehrte er ihn Alef, Bet, Gimel, Dalet, am folgenden Tage aber lehrte er ihn umgekehrt. Das sprach jener: Gestern hast du mich ja anders gelehrt! Dieser erwiderte: Wenn du dich auf mich verlassest, so verlasse dich auch auf mich bezüglich der mündlichen Tora (siehe auch den Beitrag von Stefan Schreiner, S. 147).1
Nach der rabbinischen Vorstellung gab es von Anfang an eine „schriftliche“ und eine „mündliche“ Tora.2 Die fünf Bücher Mose in der Bibel, d. h. die „Tora“, aus der Juden am Schabbat in der Synagoge lesen, bzw. der Pentateuch, ist nach dieser Vorstellung die „schriftliche Tora“ (tora schebichtav). Ihr zur Seite gestellt ist jedoch noch eine zusätzliche, eine „zweite Tora“ – die „mündliche Tora“ (tora scheba’al peh). Letztere ist die Mischna. Das Wort Mischna bildet sich aus dem Verbstamm sch–n–h für „wiederholen“, aber auch „verändern“.3 Das allein lässt schon die große Spannung zwischen der schriftlichen und der mündlichen Tora erahnen. Die mündliche Tora wiederholt die schriftliche Tora und verändert sie zugleich.
Die schriftliche Tora wurde wahrscheinlich in der Zeit um Esra im 5. Jahrhundert v. u. Z. kanonisiert. Sie enthält die Bücher: 1. Genesis/Bereschit; 2. Exodus/Schemot; 3. Levitikus/Wajikra; 4. Numeri/Bemidbar und 5. Deuteronomium/Dewarim. Diese erzählen die Geschichte des Volkes Israel, beginnend mit der göttlichen Erschaffung der Welt, den Erzählungen über die ersten Generationen Adam, Noah bis hin zu Abraham, die Herausbildung der Kinder Israel, ihren Exodus aus Ägypten und die Gabe der Tora am Sinai, die Zehn Gebote sowie weitere Gesetze, etwa im Priesterkodex und im Heiligkeitskodex, außerdem Bestimmungen über das soziale Zusammenleben und den Umgang mit dem Land, ferner Geschichten während der 40-jährigen Wüstenwanderung und schließlich Moses große Reden an das Volk, bevor er selbst sterben sollte und das Volk in das von Gott versprochene Land ziehen würde.
Die „mündliche Tora“, d. h. die Mischna, wurde im 2. Jahrhundert u. Z. unter der Redaktion des in Palästina lebenden rabbinischen Oberhauptes Jehuda ha-Nasi (ca. 165–217) kodifiziert. Gegenüber den fünf Büchern Mose besteht sie aus sechs Ordnungen. Diese erzählen jedoch keine Geschichten, sondern enthalten Gesetzessammlungen für das Leben im heiligen Land. Die Ordnungen sind nach sechs Oberthemen strukturiert: 1. Landwirtschaft (Sera’im/„Saaten“); 2. Feste (Mo’ed/„Feiertag“); 3. Eheleben (Naschim/„Frauen“); 4. Gesellschafts- und Arbeitsrecht (Nesikin/„Schäden“); 5. Heiligtum (Kodaschim/„heilige Dinge“); 6. Rituelle Reinheit (Taharot/„Reinigungen“).4 Jede dieser Ordnungen enthält mehrere Traktate zu Unterthemen, etwa die Ordnung Seraim („Saaten“) über den Umgang mit dem Land, das Stehenlassen der Ecken, die Abgaben der Zehnten, das Beschneiden der Bäume usw.; oder die Ordnung Mo’ed mit Traktaten, die detaillierte Bestimmungen zu den einzelnen jüdischen Festen enthalten; oder die Ordnung Naschim mit Traktaten über Ehegesetze, Scheidungen, Umgang mit Ehebruch usw. Im Unterschied zur Tora ist hier jedoch nicht von „Gesetzen und Satzungen“ (chukim u-mischpatim) die Rede, sondern von der Halacha, dem rabbinischen Begriff für das jüdische Recht (siehe hierzu auch den Beitrag von Walter Homolka, S. 227).
Nur zu einem kleinen Teil decken sich die Gesetzessammlungen der Mischna mit den Gesetzen der schriftlichen Tora. In einem viel größeren Maß erweitern sie diese, erneuern sie und beziehen ganz neue Rechtsgebiete in den jüdischen Gesetzesradius ein. Anders als die Gesetze in der schriftlichen Tora sind die Bestimmungen in der Mischna nach dem rabbinischen Verständnis nicht unbedingt von Gott geoffenbart, sondern von den Rabbinen selbst formuliert und in Ansätzen auch schon in dem für den Talmud typischen, diskursiven Stil verfasst. So beginnt das erste Traktat in der Mischna, das Traktat Schabbat, mit einer Frage und mehreren möglichen Antworten:
Von wann an liest man das Schema [‚Höre Israel‘] am Abend? – von der Stunde an, da die Priester [in das Heiligtum] eintreten, von ihrer Hebe zu essen, bis zum Schluss der ersten Nachtwache – so R. Elieser. Die Weisen sagen, bis Mitternacht; R. Gamliel sagt, bis die Morgenröte aufsteigt.5
Der Talmud-Wissenschaftler Jacob Neusner bezeichnet die Beziehung zwischen der schriftlichen und der mündlichen Tora als das System der „dualen Tora“.6 Es entsteht aus einer Doppelspur, die die gesamte rabbinische Literatur durchzieht. Sie hat ein gigantisches Gebiet hervorgebracht, das auf einigen wenigen Seiten darzulegen kaum möglich ist und deshalb im Folgenden nur in groben Zügen skizziert werden kann.7
Den Autoren der rabbinischen Literatur war es wichtig, die Doppelspur von schriftlicher und mündlicher Tora bis auf die Offenbarung am Sinai zurückzuführen. Hierzu findet sich ein aufschlussreiches Kapitel mit dem Titel Pirke Avot/„Sprüche der Väter“ in der Mischna.8 Es liest sich wie ein Who is Who der Gründerväter des rabbinischen Judentums. Nacheinander zählt es die wichtigen Protagonisten auf und zitiert sie mit ihnen zugeschriebenen ethischen Aussagen. Gleich im ersten Satz wird deutlich, dass sich die Autoren des rabbinischen Schrifttums in direkter geistiger Nachfolge von Moses verstehen.
Moses empfing die Tora am Sinai und überlieferte sie dem Josua, Josua den Ältesten, die Ältesten den Propheten und die Propheten überlieferten sie den Männern der Großen Versammlung. Diese sagten drei Dinge: Seid überlegt bei euren gerichtlichen Entscheidungen; stellt viele Schüler auf; macht einen Zaun um die Tora.9
Die „drei Dinge“ – als Richter nach den Gesetzen der Tora zu entscheiden, als Lehrer viele Schüler zu unterweisen und als Mitglieder dieser geistigen Elite die Definitionsmacht (= „Zaun“) über die Tora auszuüben – drückt die rabbinische Selbstermächtigung aus. Der Passus lässt die einstige Kontroverse erahnen. Es geht um die Legitimation der Rabbinen, die Tora zu „empfangen“, sie nach ihrem Verständnis zu interpretieren und der nächsten Generation weiterzugeben. Gemeint ist danach jedoch nicht nur die schriftliche, sondern gerade auch die mündliche Tora.
Dass sich die rabbinische Vorstellung, nach der beide Versionen der Tora zusammen am Sinai gegeben wurden, nicht ohne Weiteres durchsetzte, wie die oben angeführte talmudische Anekdote erkennen lässt, liegt auf der Hand. Die Vorstellung von der Gleichzeitigkeit einer schriftlichen und einer mündlichen Tora war unter den Juden in der Antike lange umstritten. Denn die Herausbildung einer zusätzlichen „mündlichen“ Tora verknüpfte sich auch mit einer neuen religiösen Praxis: Text- und Gesetzesstudium in Lehrhäusern (Beit Midrasch), Gottesdiensten in Versammlungshäusern (Beit Knesset, Synagoge) sowie einer Rechtspraxis in rabbinischen Gerichtshäusern (Beit Din), die die Gerichtsbarkeit der Priester und des Tempels verdrängte. Demgegenüber hielten die „konservativen“ Sadduzäer am Privileg der Priester und dem althergebrachten Tempelsystem fest. Sie bekämpften die Pharisäer, die in Pirke Avot als die Vorläufer der Rabbinen aufgeführt werden. Mit dem verlorenen Krieg gegen das Römische Reich und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 setzte sich jedoch das rabbinische Judentum mit seinem besonderen Tora-Verständnis endgültig durch.
Der Paradigmenwechsel: Esra – Schriftgelehrter und Exeget
So wie die schriftliche Tora für Juden noch nicht die ganze Tora darstellt, ist es ebenso unverzeihlich zu meinen, das sogenannte Alte Testament sei schon das Judentum. Die Bibel hat für Juden immer die unsichtbare Gefährtin der rabbinischen Literatur. Erst in der Verbindung mit der rabbinischen Literatur, erst im Lichte ihrer Interpretation, erhält die Bibel ihre Bedeutung für die jüdische Tradition. Streng genommen müsste man jedoch im Plural sprechen. Hinter der Gefährtin der Bibel stehen tausende von Rabbinen, deren Stimmen quer durch die Generationen im rabbinischen Schrifttum vereinigt sind. Wo aber nahm diese Doppelspur von Bibel und rabbinischer Literatur ihren historischen Anfang?
Die rabbinische Darstellung der eigenen Ursprünge zieht, wie oben angeführt, eine Linie zurück bis zu Moses. Demgegenüber würde die historisch-kritische Methode der Bibelwissenschaft den Beginn der Doppelspur in die Zeit von Esra im 5. Jahrhundert v. u. Z. legen, als die exilierten Juden aus der babylonischen bzw. persischen Gefangenschaft zurückkehrten. Einige von ihnen hatten noch die Zerstörung des Ersten Tempels in Jerusalem erlebt. Erstaunlicherweise bedeutete der Verlust des einstigen zentralen Heiligtums, immerhin das Haus Gottes, in dem die regelmäßige kultische Begegnung des Volkes Israel mit seinem Gott praktiziert worden war, nicht das Ende dieser Begegnung. Der Talmud beschreibt die fortgesetzte Beziehung als die „Einwohnung“ Gottes, die Schechina,10 die stets mit den Israeliten ins Exil gezogen sei.11 Im Exil aber verlagerte sich der Ort der Begegnung vom einstigen Zentrum, dem Tempel in Jerusalem, in den heiligen Text. Die Begegnung sollte nunmehr stattfinden als der Umgang mit einer Tora, die Juden überall hin mitnehmen konnten und durch die sie miteinander verbunden blieben. Diese Politik des heiligen Textes, die sie aus dem babylonischen Exil zurückbrachten, sollte in den späteren Jahrhunderten das Überleben des jüdischen Volkes in der Diaspora möglich machen (siehe hierzu auch den Beitrag von Liliana Feierstein, S. 99).
Die beiden biblischen Bücher Esra und Nehemia bezeugen einen Paradigmenwechsel, der in seiner Tragweite kaum zu überschätzen ist. Schon Esras Titulierung verwies in die neue Epoche. Zwar wird er in der Bibel zunächst als kohen harosch/„Hauptpriester“ eingeführt, was ihn als Vertreter des alten Systems, des priesterlichen Tempelkultes zu bestätigen scheint.12 Doch sein persönlicher Titel im Buch Esra ist ein anderer: Nicht kohen, sondern sofer – „Schreiber“ oder „Schriftgelehrter“. „Dieser Esra war heraufgezogen von Babel, er war ein kundiger Schriftgelehrter (sofer) der ‚Tora von Moses‘, die der Ewige, der Gott Israels gegeben.“13 Im Folgenden changieren Esras Titel: „Und das ist die Abschrift des Briefes, den der König Artachschascht gegeben Esra, dem Priester (ha-kohen), dem Schriftgelehrten (ha-sofer), Schreiber (sofer) der Worte der Gebote Gottes und seiner Satzungen für Israel.“14
Die „Tora von Moses“, die Esra dem biblischen Bericht zufolge nach Jerusalem mitgebracht hatte, könnte im Großen und Ganzen dem Text der Tora entsprochen haben, der heute in den Synagogen gelesen wird. Vermutlich war er unter Esras Redaktion oder in seinem Umfeld zusammengestellt worden. Sicherlich spiegelte sich aber in seiner Zusammenstellung Esras Auffassung von dem wider, was er als heiliger Text fortan geistig und politisch für die jüdische Gemeinschaft leisten sollte.15 Mit Hilfe eines gemeinsamen Dokuments sollten die vormals konfligierenden Traditionen auf ewig vereinigt und auf diese Weise die einstigen Gräben zwischen dem Nordreich Israel und dem Südreich Judäa mit ihren verschiedenen Priestergruppen überwunden sein. Der zusammengewirkte Text der Tora enthielt dadurch jedoch zahlreiche unterschiedliche Akzente, wenn nicht Widersprüche, bis hin zu konträren Weltanschauungen. Das machte ihn für alle Zukunft erklärungsbedürftig. Vielleicht war es von Esra so gewollt. In jedem Fall manifestierte sich in der inneren Spannung der Tora ein neues Paradigma: Die religiöse Tradition ließ sich nicht mehr nur als Befolgung der Gebote verwirklichen, sondern verlangte zunächst vor allem eine Auslegung ihres Textes.
Seit dem 18. Jahrhundert hat die historisch-kritische Bibelanalyse mindestens fünf miteinander verwobene Texttraditionen in der Tora unterscheiden können: Die elohistische Tradition (E) und die Tradition des Tetragramms JHWH (J) sowie eine zusätzliche Tradition, die beide Gottesbezeichnungen als JHWH Elohim (JE) kombiniert, ferner die Priesterschrift (P), die die gesamte Schöpfung durch die Strukturzahl Sieben erklärt, sowie eine deuteronomistische Tradition (D), die auf ein zentralisiertes System mit dem Tempel in Jerusalem als Mittelpunkt abzielt.16 Für sich genommen und gegeneinander gelesen offenbaren die fünf Texttraditionen große inhaltliche Unterschiede. Fast unvereinbar erscheinen vor allem die Bücher Levitikus und Deuteronomium.17 Im Buch Deuteronomium spiegelt sich ein „deuteronomistischer“ Kanon innerhalb der Bibel. Dieser reflektiert die Transformation der israelitischen Stämme zu einem Königeich und besteht neben Deuteronomium aus den historischen Büchern Josua, Richter, Samuel (I. u. II) sowie Könige (I. u. II.). Eines der treibenden Anliegen des deuteronomistischen Kanons ist die Frage nach dem Status des Königs unter den Bedingungen einer Weltanschauung, nach der allein Gott König über sein Volk ist.18 Demgegenüber kommt die Institution eines Königs in Levitikus nicht vor, was sich sowohl in einer oppositionellen Spannung zu Deuteronomium lesen lässt, als auch die nachexilische Situation widerspiegeln könnte, in der Juden zwar nach Jerusalem zurückgekehrt waren und ihren Tempelkult ausüben durften, jedoch keine politische Souveränität besaßen. Einen anderen politischen Akzent setzt wiederum das vierte Buch/Numeri als Schauplatz von Konflikten zwischen verschiedenen levitischen Eliten. Sie werden in mythischen Erzählungen verarbeitet, die während der 40-jährigen Wüstenwanderung stattgefunden haben sollen, aber durchaus an das Ringen um die religiöse Vormachtstellung in der Zeit der Königreiche erinnern – etwa der Bericht über den Aufstand der „Rotte Korach“ zusammen mit den Familien von Datan und Abiran,19 oder aber die Kritik von Aaron, dem Hohepriester, und seiner Schwester, der Prophetin Miriam, gegen die Alleinstellung ihres Bruders Moses als Vermittler des göttlichen Wortes.20 Fraglich ist auch der historische Horizont der Bücher Genesis und Exodus. Ebenso wie die anderen Bücher bezeugen sie kulturelle Berührungen mit den Gesellschaften Babyloniens und Persiens aus einer nachexilischen Perspektive, obwohl sie Dinge erzählen, die lange vor dieser Zeit stattgefunden haben sollen.
Der vermutete Text jener „Tora von Moses“, die Esra nach Jerusalem mitgebracht hat, – sollte er im Großen und Ganzen dem bis in die heutige Zeit überlieferten Text entsprechen – wurde jedoch nicht erst für die moderne kritische Bibelwissenschaft erklärungsbedürftig.21 Bereits die Formulierungen in den Büchern Esra und Nehemia zeigen, dass die erneute Annahme der Tora inhaltliche Erklärungen, ja ein tieferes Verständnis des Textes erforderte. Nicht der heilige Text für sich, sondern erst in der Verbindung mit einer Auslegung gab ihm seine konstitutive Wirkung. Das hebräische Wort für „Auslegung“ oder „Interpretation“ leitet sich vom Verbstamm d–r–sch ab. An bezeichnender Stelle taucht es bei der Charakterisierung Esras auf: „Denn Esra hatte sein Herz darauf gerichtet, die Tora des Ewigen auszulegen – und herzustellen und zu lehren in Israel Gesetze und Recht.“22
Vielleicht wird mit dem hier auftretenden Verb lidrosch von d–r–sch auch die Ahnung ausgedrückt, dass die redaktionelle Zusammenstellung der Tora bereits Esras Interpretation der Tora darstellte.
Da versammelte sich das ganze Volk wie ein Mann auf dem Platze vor dem Wassertore, und sie sprachen zu Esra, dem sofer, dass er herbeibringe das Buch der Tora von Moses, die der Ewige Israel geboten. Und Esra, der Priester, brachte herbei die Tora vor die Versammlung, Mann und Frau und jeglichen, und erläuterte alles, dass man es verstehe, am ersten Tag des siebenten Monats, und las darin auf dem Platze vor dem Wassertore, vom lichten Morgen bis zum Mittage, vor den Männern und den Frauen und den Lehrern; und die Ohren des ganzen Volkes waren gerichtet auf das Buch der Tora.23
Im Weiteren bekommen die Leviten, d. h. die ehemaligen Tempeldiener, die nunmehr neue Aufgabe, das Buch zusammen mit der Bevölkerung zu lesen, zu verstehen24 – und es auf den tieferen Sinn hin auszulegen.25 „Und sie lasen in dem Buche, in der Tora Gottes, mit Auslegung des tieferen Sinns (meforasch), so dass sie das Gelesene verstanden.“26
Das Volk schloss daraufhin einen neuen Bund auf die Tora. Im Unterschied zum Bund, den Gott im Buch Exodus/Schemot mit dem Volk Israel geschlossen hatte,27 ist es hier jedoch das Volk, dass die Initiative dazu nimmt: „Und bei all dem wollen wir einen festen Bund schließen und aufschreiben.“28
Anders als bei der im Buch Exodus/Schemot beschriebenen Offenbarung am Sinai, bei der das Volk Moses beauftragt, die Tora in Empfang zu nehmen, und den darin enthaltenen Bestimmungen gehorchen will – erfolgt die Annahme der Tora hier aufgrund von Unterweisung und Auslegung. Die Doppelspur von Text und Auslegung beginnt, ihren Lauf zu nehmen.
Der Tanach und seine Midraschim
Im Grunde genommen ist aber schon der Tanach ein exegetischer Kommentar zur Tora. TaNaKh ist die jüdische Bezeichnung für die Bibel bzw. das Alte Testament. Der Begriff ist ein Akronym der Anfangsbuchstaben Tora, Newi’im (= Propheten) und Khetuvim (= Hagiographen). Heute wird auch von „Hebräischer Bibel“ oder „Jüdischer Bibel“ gesprochen, die, abgesehen von leichten Abweichungen, vor allem in der Reihenfolge, dieselbe ist, die Christen lesen – freilich ohne das Neue Testament.
Der erste Teil, die „Tora“, sind die fünf Bücher Mose. Mit dem zweiten Teil, den „Propheten“/Newi’im ist ein historisches Zeitalter gemeint, in dem prophetisch begabte Menschen vom monotheistischen Standpunkt her die politischen Geschicke Israels begleiteten. Der gesamte deuteronomistische Kanon gehört zu diesem Teil, zusammen mit den drei großen Prophetenbüchern Jesaja, Jeremia und Ezechiel sowie den Schriften der zwölf kleinen Propheten. Eine differenzierte Lektüre all dieser Bücher führt in einen vielstimmigen Kommentar zur Tora. Die Propheten vertreten dabei sehr unterschiedliche Ansichten. Jesajas Prophetie etwa richtet sich kritisch gegen den Opferkult im Tempel29 und hebt die sozialen Gebote, die Befreiung von Unterdrückung und die Unterstützung der Armen, als die eigentlichen Aussagen der Tora hervor.30 Demgegenüber entwirft Ezechiel die Vision eines wiederaufgebauten Tempels mit der rituellen Wiedereinsetzung der Leviten und detaillierten Kultbestimmungen.31 Aber auch die Hagiographen/Khetuvim stehen in einem nach Deutungen rufendem Spannungsverhältnis zur Tora. Sie enthalten neben der Weisheitsliteratur – den Psalmen und Sprüchen sowie dem Buch Hiob – vor allem die fünf Megillot, die fünf „Rollen“. Über diese wurde im späteren rabbinischen Zeitalter gestritten, ob sie überhaupt in die Bibel gehören.32 Die bekannteste Rolle ist die Megillat Esther, das Buch Esther, das deshalb umstritten war, weil Gott darin nicht vorkommt. Auch das pessimistische Weltbild im Buch Prediger/Kohelet sowie die Erotik des Hoheliedes/Schir Haschirim erschienen manchen Rabbinen zweifelhaft. Trotzdem wurden sie in den biblischen Kanon aufgenommen. Zusammen mit den anderen Megillot, den Büchern Rut und den Klagelieder Jeremias/Echa werden sie über das Jahr an den jüdischen Festen Purim, Chanukka, Pessach, Schawuot und Tischa b’Aw gelesen und stehen somit in einem kontrapunktischen Verhältnis zu den Fünf Büchern Moses, aus denen jeden Schabbat in der Synagoge vorgetragen wird. Als Bestandteile eines vielfältigen heiligen Kanons erzeugen sie eine innere Spannung gegeneinander, die sich nur durch Auslegung vereinbaren lässt.
Verschiedene jüdische Gruppierungen – die Sofrim (Schriftgelehrten), die Peruschim (Pharisäer, auch Niwdalim genannt) oder die Anhänger der Qumran-Sekte – entwickelten in den auf Esra folgenden Epochen einen jeweils unterschiedlichen exegetischen Umgang mit der Tora.33 Sie ebneten zugleich die Herausbildung des rabbinischen Schriftverständnisses, das sich allein in der Dialektik des Textes und seiner Auslegung erschließt. Auf dieser Doppelspur schufen die Rabbinen in der späten Antike ein neues Genre – die Midraschim. Es ist das schier unendliche Feld rabbinischer Auslegungen.
Die Midrasch-Literatur enthält eine sowohl aggadische (erzählerische) als auch halachische (religionsgesetzliche) Dimension. Im 2. Jahrhundert erschien die wohl älteste rabbinische Midraschsammlung, die Rabbi Jischmael zugeschriebene Mechilta, ein Kommentar zum 1. Buch Mose.34 Es folgten bis zum 5. Jahrhundert umfangreiche Midrasch-Sammlungen unter dem Titel Raba zu jedem Buch der Tora sowie zu den Megillot, den Psalmen und Sprüchen.35 Eine prägnante Auswahl der damaligen homiletischen Midraschim schuf der Tanchuma im 8. Jahrhundert.36 Parallel erschienen die halachischen Midraschim Sifra/Sifre.37
Der bereits erwähnte Verbstamm für „auslegen“ – d–r–sch – bildet auch den Begriff Midrasch (Singular für Midraschim). Midraschim überbrücken Brüche im Text, heben Widersprüche im Wege von Deutungen auf, überwinden Unklarheiten für die Praxis und erkennen unvermutete neue Themen in den einzelnen biblischen Versen. Ihre literarische Besonderheit liegt darin, gerade nicht zu einer einzig gültigen Interpretation gelangen zu wollen, sondern möglichst viele Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Indem die Rabbinen in den Midraschim jeden Vers, ja jedes Wort der Tora nicht nur im Kontext der ganzen Textpassage lasen, sondern für sich nahmen, schufen sie ganz neue Kontexte. Dies führte zu einem neuen Tora-Bewusstsein. Ein Beispiel hierfür ist die rabbinische Deutung der zwei Gottesbezeichnungen Elohim und JHWH. Die Rabbinen entwickelten aus den beiden Begriffen die Lehre von den „zwei Maßen“. Die jeweilige Gottesbezeichnung bedeutete für sie jeweils ein göttliches Attribut. Elohim stehe für midat hadin/„Maß des Gesetzes“; JHWH stehe für midat harachamim/„Maß der Barmherzigkeit“. Wo immer von Elohim die Rede sei, wirke das „gesetzgebende“ Attribut Gottes; bei JHWH gestalte sein „barmherziges“ Attribut den Verlauf.
Die beiden Gottesbezeichnungen prägen das erste und das zweite Kapitel der Tora – die zwei Versionen der göttlichen Schöpfung. In der ersten Darstellung ist es Elohim, der die Welt in sechs Tagen erschafft – Bereschit bara Elohim…/„Im Anfang schuf Elohim…“.38 Im zweiten Schöpfungsbericht ist es JHWH in der Kombination mit Elohim – „…am Tage, da JHWH-Elohim fertigte Himmel und Erde“39 und den Menschen in den Garten Eden setzte. Ohne die rabbinische Exegese erscheinen die beiden Versionen unvereinbar. In der ersten Darstellung schuf Gott den Menschen zuletzt und von vornherein männlich und weiblich.40 Im zweiten setzte Gott den Menschen in den Garten Eden und schuf erst danach die Tiere, denen der Mensch Namen geben sollte.41 Zuletzt stellte Gott die Frau aus der Rippe bzw. der Seite des Menschen heraus.42 Indem jedoch die Rabbinen die beiden Schöpfungskapitel im Lichte der Lehre von den „zwei Maßen“ interpretierten, entstand eine Sichtweise, in der sich der Widerspruch gänzlich aufhebt und stattdessen die Schöpfung in einem ganz anderen Sinnzusammenhang erkennbar wird. Der bis in die heutige Zeit die jüdische Lesart der Tora prägende Kommentar von Schlomo ben Isaac (Raschi)43 fasste die rabbinische Exegese zu den zwei Maßen in Bezug auf die Schöpfung zusammen:
‚Bereschit bara Elohim‘ [‚Im Anfang schuf Gott‘ = Elohim]. […] Wenn du den Vers nach dem einfachen Sinn [pschat, siehe unten] erklären willst, erkläre ihn so: ‚Am Anfang der Erschaffung von Himmel und Erde, als die Erde noch wüst und öde und Finsternis war, da sprach Gott, es werde Licht.‘ Der Vers will nicht die Reihenfolge der Schöpfung lehren, um zu sagen, dass diese [Himmel und Erde] zuerst erschaffen wurden. Wollte er das lehren, so müsste er den Ausdruck barischona [als erstes] gebrauchen; denn reschit [grammatikalischer Genitiv, also: ‚Anfang des/der‘] ist in der Schrift immer mit dem nächsten Worte verbunden, so [Jer 26,1], ‚am Anfang der Regierung von Jojakim‘, […] Solltest du aber sagen, der Vers lehrt, dass diese [Himmel und Erde] zuerst erschaffen wurden, und der Sinn wäre, am Anfang von allem erschuf er diese, […] – wenn es so wäre, müsstest du dich fragen, das Wasser war ja zuerst; denn es heißt, ‚der Geist Gottes schwebte über die Fläche des Wassers‘, und der Vers hat uns noch nicht offenbart, wann die Erschaffung des Wassers stattgefunden; aus diesem Vers kannst du entnehmen, dass das Wasser schon vor der Erde erschaffen war; außerdem wurde der Himmel aus Feuer und Wasser gebildet; und du musst zum Schluss gelangen, dass uns der Vers nichts über die Reihenfolge, was früher und was später war, lehrt. – ‚Gott [Elohim = Maß des Gesetzes] erschuf,‘ es heißt nicht, ‚ JHWH [= Maß der Barmherzigkeit] erschuf‘; denn zuerst bestand die Absicht, mit dem Maß des Gesetzes zu erschaffen, da er aber sah, dass die Welt dann nicht bestehen könne, stellte er das Maß der Barmherzigkeit auf und verband es mit dem Gesetz, darum heißt es [Gen 2,4], ‚am Tage, da JHWH-Elohim44 Erde und Himmel erschuf ’.45
Die zwei Schöpfungsberichte erzählen somit keine Reihenfolge, wann was erschaffen wurde, sondern dass erst zwei Maße, das Maß des Gesetzes und das Maß der Barmherzigkeit, miteinander verwoben werden mussten, damit die Schöpfung nachhaltig bestehen könne. Diese Vorstellung hatte jedoch folgenreiche Konsequenzen für die Beziehung Gottes zu den Menschen. Die Rabbinen erkannten, dass ihre Lehre von den zwei Maßen ein göttliches Spannungsverhältnis erzeugte, in dem Gott immer auch mit sich selbst ringt – und sogar betet:
R. Jochanan sagte im Namen R. Joses: Woher, dass der Heilige, er ist gesegnet, betet? – es heißt: ‚ich werde sie in meinem Bethause erfreuen‘ (Jes 56,7). Es heißt nicht ‚ihrem Bethause‘, sondern ‚meinem Bethaus‘, woraus zu entnehmen ist, dass der Heilige, er ist gesegnet, betet. Was betet er? Es möge mein Wille sein, dass meine Barmherzigkeit meinen Zorn bezwinge, dass sich meine Barmherzigkeit über mein Maß [des Gesetzes] wälze, dass ich mit meinen Kindern nach der Eigenschaft der Barmherzigkeit verfahre und dass ich ihrethalben nicht streng urteile.46
Das soll er insbesondere an den jüdischen Festen beten. Das jüdische Neujahrsfest Rosch Haschana, das zugleich der Teschuwa, der Umkehr zu Gott gilt, dauert zwei Tage. Die rabbinische Erklärung für die beiden Tage ist nicht dem Umstand geschuldet, dass man in der Diaspora nicht genau wissen konnte, wann der Neumond über dem Land Israel zu sehen ist – und darum wie auch bei anderen Festen zwei Tage veranschlagte. Vielmehr begründeten die Rabbinen die zweitätige Festdauer des Neujahrsfestes mit der Vorstellung, dass Gott am ersten Tag im Zeichen des strengen Gesetzesmaßes richte, welches aber am zweiten Tag zugunsten seiner Barmherzigkeit weiche.47
In so gut wie allen Geschichten des ersten Buches Mose kommen beide Namen Gottes vor. Wenn etwa Noah „Gnade bei JHWH“ gefunden hat,48 die Sintflut jedoch im Zeichen von Elohim geschieht,49 oder wenn später Abraham seinen Sohn Isaak opfern soll, die Erzählweise mehrfach zwischen Elohim und JHWH wechselt,50 gibt das Anlass zu Deutungen über die jeweilige Beschaffenheit des göttlichen Verhaltens.
Eine gebräuchliche Art des Midrasch ist es, einen Vers der Tora im Lichte eines anderen Schriftverses zu lesen. Die Folge hiervon ist die Gleichzeitigkeit aller Schriftverse.
Ein Anhänger einer anderen Religion sprach zu R. Abahu: Es heißt: ‚ein Loblied Davids, als er vor seinem Sohne Absalom floh‘ (Ps 3,1) und weiter heißt es: ‚ein Lied Davids, als er vor Saul in die Höhle floh.‘ (Ps 57,1) Welches Ereignis geschah zuerst? Das Ereignis mit Saul geschah ja zuerst, somit sollte er doch dieses zuerst geschrieben haben!? Dieser erwiderte: Euch, die ihr das Nebeneinanderstehen [von Schriftstellen und Gesetzen, die nicht zusammengehören, EK] nicht zur Forschung verwendet, ist dies unerklärlich, uns aber, die wir das Nebeneinanderstehen zur Forschung verwenden, ist dies erklärlich. R. Jochanan sagte nämlich: Wo ist das Nebeneinanderstehen aus der Tora zu entnehmen? – es heißt: ‚nebeneinander stehen sie für immer und ewig, gemacht zu Treue und Recht‘ (Ps 111,8).51
Eklatante Widersprüche, etwa über Zeitangaben in der Bibel, können damit gelöst werden. Es gilt: „Es gibt kein Vorher und Nachher in der Tora.“52 In diesem unbedingten Jetzt des Textes löst sich die Linearität des Tanach weitgehend auf. Danach erzählt er keine abgeschlossene Geschichte im Rückblick – beginnend mit der Schöpfung, endend mit der Rückkehr der Exilanten aus Babylonien. Vielmehr wirkt er in einer immerwährenden Gleichzeitigkeit aller Schriftverse auch in der Gegenwart – sind der Auszug aus Ägypten nicht nur eine Erinnerung und die Begegnung mit Gott am Sinai keine Sache der Vergangenheit, sondern vielmehr Momente, die immer wieder geschehen. In diesem nichtlinearen Bewusstsein entsteht die immerwährende Wirkmacht der Tora durch ihre Auslegung.
Den Rabbinen war klar, dass ihr Verständnis der Tora zu Erkenntnissen führte, die sich vorangegangene Generationen niemals vorgestellt hätten. Eine talmudische Erzählung über Moses, der das Lehrhaus besucht und nichts versteht, drückt das rabbinische Bewusstsein über die eigene Originalität aus:
R. Jehuda sagte im Namen Raws: Als Moses in die Höhe stieg, traf er den Heiligen, er ist gesegnet, dasitzen und die Buchstaben [der Tora] mit krönchenhaften Verzierungen [tagim] schmücken. Da sprach er zu ihm: Herr der Welt, wozu ist das nötig [ist die Tora nicht schon vollständig]? Er erwiderte: Es ist ein Mann, der nach vielen Generationen sein wird, namens Akiva ben Josef; er wird dereinst über jedes Häkchen Haufen über Haufen von Lehren vortragen. Da sprach er vor ihm: Herr der Welt, zeige ihn mir. Er erwiderte: Wende dich um. Da wandte er sich um und setzte sich hinter die achte Reihe [der Schüler Rabbi Akivas im Lehrhaus]; er verstand aber ihre Unterhaltung nicht und war darüber bestürzt. Als jener zu einer Sache gelangte, worüber seine Schüler ihn fragten, woher er dies wisse, erwiderte er ihnen, dies sei eine Mose am Sinai überlieferte Lehre. Da wurde er beruhigt.53
Die neue Tora war also noch im Radius der dereinst am Sinai empfangenen Tora; die krönchenhaften Verzierungen an den Buchstaben wiesen schon damals in die zukünftigen mündlichen Lehren. Rabbi Jischmael werden 13 hermeneutische Regeln zugeschrieben, nach denen die Tora ausgelegt werden kann.54 Dass die spekulative Freiheit des Midrasch auch Gefahren birgt, war den talmudischen Rabbinen bewusst. Die berühmte Geschichte über den PaRDeS, das „Paradies der rabbinischen Exegese“, warnt davor, sich zu verlieren. Das Wort PaRDes wird als ein Akronym der vier Möglichkeiten gesehen, nach denen ein Vers oder ein Wort der Tora ausgelegt werden kann. P steht für Pschat/der „einfache Sinn“ – R für Remes/das unverhoffte „Zeichen“ innerhalb einer Formulierung – D für Drasch/die „Auslegung“ – und S für Sod/das „Geheimnis“ eines Wortes oder Satzes.
Die Rabbanan lehrten: Vier traten in den PaRDeS ein, und zwar Ben Asai, Ben Soma, Acher und Rabbi Akiva. Rabbi Akiva sprach zu ihnen: Wenn ihr an die glänzenden Marmorsteine herankommt, so saget nicht: Wasser, Wasser [die Scheide zwischen dem unteren Himmel55 und den oberen Himmeln], denn es heißt: ‚wer Lügen redet, soll vor meinem Angesichte nicht bestehen‘. (Ps 101,7) Ben Asai schaute [d. h. er vertiefte sich zu sehr] und starb. Über ihn spricht die Schrift: ‚kostbar ist in den Augen des Ewigen der Tod seiner Frommen.‘ (Ps 116,15) Ben Soma schaute und kam zu Schaden [er wurde irrsinnig]. Über ihn spricht der Schriftvers: ‚hast du Honig gefunden, so esse, was dir genügt, dass du seiner nicht satt werdest und ihn ausspeiest‘. (Spr 25,16) […] Acher haute junge Triebe nieder [er wurde Atheist]. Über ihn spricht die Schrift: ‚gestatte deinem Munde nicht, deinen Leib in Schuld zu bringen‘. (Eccl 5,5)56 […] Nur Rabbi Akiva stieg in Frieden hinauf und kam in Frieden herunter. Über ihn spricht die Schrift: ‚zieh mich dir nach, lass uns laufen‘ (Hld 1,4).57
Mindestens zwei Stimmen in der halachischen Diskussion
Dem rabbinischen Diskurs kam es offensichtlich nicht darauf an, die eine einzig geoffenbarte Wahrheit herauszufinden. Das gilt nicht nur für die aggadische Exegese, sondern auch für die Diskussion über die Halacha, die jüdische Rechts- und Gesetzestradition.
Warum erwähnt man die Worte Schammais und Hillels auch dann, wenn sie aufgehoben wurden? Um die kommenden Geschlechter zu belehren, dass niemand auf seiner Meinung beharren solle, da doch die größten Lehrer nicht auf ihrer Meinung beharrten. Und warum erwähnt man die Ansicht des Einzelnen gegen die Mehrheit, da doch die Halacha nur nach den Worten der Mehrheit entschieden wird? Damit, wenn einem Gerichte die Ansicht des Einzelnen einleuchtet, es sich darauf stützen könne.58
Noch einmal zur Struktur des rabbinischen Schrifttums: Die „schriftliche Tora“ ist die Basis des Tanach. Ihm zugeordnet sind die Midraschim, die rabbinischen Auslegungen. Die ursprünglich „mündliche Tora“, d. h. die Mischna mit ihren sechs Ordnungen von Gesetzessammlungen, ist wiederum die Basis des Talmuds, auf den im Folgenden noch eingegangen wird. Beide – Midraschim und Talmud – überschneiden sich bis zu einem gewissen Grad und das sowohl in den Diskussionen mit aggadischen, d. h. erzählerischen Beispielen, als auch den Diskussionen über die Halacha, die jüdische Gesetzespraxis.
Der Begriff Halacha kam im Tanach noch nicht vor. Dort ist von chukim u-mischpatim/„Gesetzen und Satzungen“ oder von zedek u-mischpat/„Gerechtigkeit und Recht“ die Rede. Erst im rabbinischen Schrifttum tritt der Begriff Halacha auf. Er enthält den Verbstamm h–l–ch von „gehen“ und ist der Oberbegriff für die jüdischen Gesetze und Normen. Anders als die im Pentateuch von Gott vorgeschriebenen „Gesetze und Satzungen“ ist die Halacha das Ergebnis der rabbinischen Rechtsdebatten.
Es ist die Frage, warum das rabbinische Schrifttum gerade in seiner halachischen Dimension zu einer Form gelangte, in der nicht ein einzelner Autor im Sinne eines durchstrukturierten großen Wurfs das gesamte argumentative Gerüst darstellt, sondern eine generationenübergreifende Autorenschaft von hunderten Rabbinen aus verschiedenen Zeitaltern, Schulen und Argumentationstraditionen mit knappen Statements, argumentativen Verweisen und kurz gehaltenen Zitaten so viel wie möglich Stimmen zu Gehör bringt. Jacob Neusner sieht in der besonderen rabbinischen Dialektik eine ideale Methode, um einen größtmöglichen Radius an Wissen zu erzeugen und es unter den Bedingungen der Diaspora zu erhalten. Es sei auch eine Überlebensstrategie. Das bedeutete jedoch, dass kein Gelehrter allein die Wahrheit ausdrücken könne.
Schon die bereits erwähnten Pirke Avot/„Sprüche der Väter“ präsentieren die jüdischen Gelehrten von vornherein in einer inhaltlichen Spannbreite. Auf den Einstieg, der bis auf Moses zurückführt, folgt ein erster Name – Simon der Gerechte. Mit diesem Namen wird in eine konkrete Zeit verwiesen; von hier ausgehend entfaltet sich eine Liste von weiteren bekannten Protagonisten, die das Feld des rabbinischen Schrifttums bereiteten. „Simon der Gerechte war von den letzten der großen Versammlung. Er pflegte zu sagen: ‚Auf drei Dingen besteht die Welt: auf der Tora, auf gottesdienstlicher Arbeit und auf Liebeswerken.‘“59
Simon war der vermutlich älteste, namentlich bekannte Pharisäer. Der Talmud erzählt über seine Begegnung mit Alexander dem Großen. Auch wenn es sich möglicherweise nur um eine Legende handelt, bekundet sie die große gegenseitige Hochachtung des jüdischen Schriftgelehrten und des immerhin von Aristoteles unterwiesenen Kulturträgers Griechenlands.60 Mancher Talmudforscher sieht in dieser Geschichte eine Reflexion auf die geistige Geburt einer „jüdischgriechischen“ Tradition, die später – vermittelt über das Christentum – Europa gestaltete.61 Der rabbinische Anteil darin entwickelte sich in einer Kultur dialektischen Streitens, was grundsätzlich mindestens zwei verschiedene Positionen voraussetzt. Dementsprechend fährt das Kapitel Pirke Avot fort: Simon überlieferte die Tora an Antigonos, den Gelehrten aus Socho. Auf Antigonos folgen nun die Sugot/die sogenannten Paare – jeweils zwei Protagonisten, zwei Stimmen in einer Generation, mit jeweils zwei unterschiedlichen Einstellungen.62 Jossi, Sohn des Jo’eser, Gelehrter aus Zereda, und Jossi, Sohn des Jochanan, Gelehrter aus Jerusalem, empfingen die Tora von Antigonos:
Jossi, Sohn des Jo’eser, sagt: Dein Haus sei eine Versammlungsstätte für die Weisen, lasse dich vom Staub ihrer Füße bedecken und trinke durstig ihre Worte. Jossi, Sohn des Jochanan, Gelehrter aus Jerusalem, sagt: Dein Haus sei weit offen; Arme sollen deine Hausgenossen sein; mehre kein Geschwätz mit der Frau.63
Als nächstes Paar empfingen Jehoschua, Sohn des Perachja, und Nitai aus Arbel die Tora von ihren Vorgängern:
Jehoschua, Sohn des Perachja, sagt: Bestimme dir einen Lehrer, verschaffe dir einen Freund und beurteile jeden Menschen zum Guten. Nitai aus Arbel sagt: Halte dich fern von einem bösen Nachbarn; verbinde dich nicht mit einem Bösen; meine nicht, dass Böses ungestraft bleibt.64
Hierauf folgen Jehuda, Sohn des Tabai, und Simon, Sohn des Schatach.65 Sodann Schmaja und Awtaljon.66 Die Aufzählung führt auch zu Hillel und Schammai.67 Hillel wird u. a. zitiert mit seinem berühmten Diktum: „Sorge ich nicht für mich, wer wird für mich sorgen? Sorge ich nur für mich allein, was bin ich dann? Wenn nicht jetzt, wann denn?“
Und Schammai: „Mache dir das Torastudium zur Hauptsache; versprich wenig, doch tue viel; empfange jeden Menschen mit freundlichem Gesicht.“
Spätestens mit den Namen von Hillel und Schammai ist die Liste bei den halachischen Disputen angelangt. Wie kein anderes Paar personifizierten sie das rabbinische Ideal der produktiven Streitkultur. Hillel galt als der Nachsichtigere, Schammai als der Rigorosere. Regelmäßig führt der Talmud die beiden Schulen an und verweist damit in die einstigen halachischen Kontroversen. Die Auffassungen der Schule Hillels in Bezug auf die Halacha erhielten autoritative Gültigkeit, trotzdem nennt der Talmud auch die Auffassungen der Schule Schammais:
Drei Jahre stritten die Schule Schammais und die Schule Hillels: eine sagte; die Halacha sei nach ihr zu entscheiden, und eine sagte, die Halacha sei nach ihr zu entscheiden. Da ertönte eine Hallstimme und sprach: Diese und auch diese sind Worte des lebendigen Gottes (elu we-elu diwrei elohim chajim); jedoch ist die Halacha nach der Schule Hillels zu entscheiden. – Wenn aber [die Worte] der einen und der anderen Worte des lebendigen Gottes sind, weshalb war es der Schule Hillels beschieden, dass die Halacha nach ihr entschieden wurde? – Weil sie verträglich und bescheiden war, und sowohl ihre eigene Ansicht als auch die der Schule Schammais studierte; noch mehr, sie setzte sogar die Worte der Schule Schammais vor ihre eigenen.68
Elu we-elu diwrei elohim chajim – „Diese und auch diese sind Worte des lebendigen Gottes“. Auch wenn die Entscheidungen der Schule Hillels Gesetzesgültigkeit erhielten, scheute sich der Talmud nicht, die Entscheidungen Schammais mit aufzuführen.
Auf die Sugot in den Pirke Avot folgte eine immer verzweigtere Mehrstimmigkeit im Talmud. Zugleich setzte sich das Schema der zwei großen Stimmen in jeder Generation bis zuletzt fort.69 Im Babylonischen Talmud sind es die Gelehrten Rav und Samuel, die die großen halachischen Diskussionen im 2. und 3. Jahrhundert bestimmen. Rav, als dem spirituelleren der beiden, folgte die Halacha in kultischen Fragen. Demgegenüber hatte Samuel in gesellschaftspolitischen Fragen die halachische Autorität. Von ihm stammt das berühmte Diktum dina de-malchuta dina – „Das Gesetz des Staates ist das Gesetz [auch für die Juden]“.70 In der nächsten Generation setzten Raba und Abaje zwei verschiedene Akzente. Von Raba als dem Rationaleren, der die Halacha auch auf die neuen ökonomischen Bedingungen abstimmte, stammt ein weiteres berühmtes Diktum. Es stellt logisches Denken, ethisches Verhalten in Wirtschaftsfragen, Optimismus, Liebemachen und Tora-Studium gleichwertig in eine Reihe:
Raba sagte: Wenn man den Menschen zu Gericht bringt, fragt man ihn: Hast du deinen Handel in Redlichkeit betrieben? Hast du Zeiten für die Tora festgesetzt? Hast Du die Fortpflanzung ausgeübt? Hast du auf das Heil gehofft? Hast du über Weisheiten diskutiert? Hast du verstanden, [logisch] Sache aus Sache zu folgern? Aber: ‚der Respekt vor Gott ist sein Schatz‘.71
Talmud-Tora
Nicht lange nach der Redaktion der Mischna unter Jehuda ha-Nasi im 2. Jahrhundert erschien die Tosefta („Hinzufügung“). Sie ist im Stil ähnlich wie die Mischna, indem sie den sechs Ordnungen folgt. Allerdings ist sie im Umfang größer. Teilweise wiederholt sie die Gesetze der Mischna, führt aber noch viele weitere Bestimmungen an, die mitunter im Widerspruch zur Mischna stehen. Gewöhnlich wird die Tosefta als der größere Horizont der Mischna gesehen, mitunter auch als Vorstufe des Talmuds.
Nach der klassischen Definition bilden die Mischna und ihre Kommentierung, d. h. die Gemara, zusammen den Talmud. Gemara bedeutet „Abschluss“. Die Kombination von Mischna und Gemara als Talmud gibt es in zwei Versionen. Im 4.–5. Jahrhundert erschien sie in Palästina als Jerusalemer Talmud72 – etwa zwei Jahrhunderte später erschien unter der Redaktorenschaft der im persischen Sassaniden-Reich lebenden Rabbinen eine erweiterte Version der Gemara zusammen mit der Mischna: der Babylonische Talmud.73 Er enthält viele Auslegungen aus den Midraschim, zitiert aus der Tosefta und führt ganze Argumentationsstränge aus dem Jerusalemer Talmud an. Zugleich gehen seine Diskussionen weit darüber hinaus. Jacob Neusner vergleicht ihn mit einer Enzyklopädie, die alles rabbinische Wissen umfassen sollte.
Aus der schriftlichen Tora in ihrer Einbettung in den Tanach und der Kombination mit den Midraschim, ebenso wie der mündlichen Tora, der Mischna, in der Kombination mit der Gemara – sowie den Überschneidungen zwischen beiden, Midraschim und Talmud, ist ein gigantischer Diskurs geworden – der Jam ha-Talmud, der „talmudische Ozean“. Er entfaltete sich als Talmud-Tora in den Lehrhäusern und Talmud-Akademien, als eine unendliche Auseinandersetzung mit der Bedeutung der heiligen Schriften und ihrer Anwendung. Zugleich schuf er eine Textgemeinschaft, deren diskursiver Stil über die Jahrhunderte die Leser einlud, sich ihr anzuschließen und mitzudiskutieren.74 Empfohlen wird das Talmudstudium zu zweit (Chevruta), um durch die Diskussion über den Text zu tieferen Erkenntnissen zu gelangen. Anfänger, die erstmals in die rabbinische Literatur eintauchen, haben Mühe, nicht unterzugehen. Und doch sind sie meist fasziniert und erleben, wie sie, indem sie die Diskussion zu verstehen versuchen, unverhofft an den Argumenten teilhaben und den Prozess des Talmud-Tora mit ihren eigenen Erwägungen fortsetzen.
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1bShab 31a.
2Rabbi Eleasar sagte: Die Tora ist größtenteils schriftlich und kleinstenteils mündlich verliehen worden, denn es heißt: „Ich schreibe ihm das meiste meines Gesetzes, wie fremd sind sie geachtet“ (Hos 8,12). Rabbi Jochanan sagte: Größtenteils mündlich und kleinstenteils schriftlich, denn es heißt: „Denn durch den Mund dieser Worte“ (Ex 34,27) – bGit. 60b.
3Lischnot (pa’al-Form) = wiederholen; leschanot (pi’el-Form) = verändern.
4Deutsche Übersetzung der Mischna, 6 Bde, übersetzt mit Erklärungen, Basel 31986.
5mBer 1,1.
6Neusner, Jacob: Introduction to Rabbinic Literature, New York; London 1994, S. 5 ff.
7Empfehlenswerte Einführungen in die rabbinische Literatur: Stemberger, Günther: Einleitung in Talmud und Midrasch, München 92011; sowie die Werke von Jacob Neusner, darunter Four Stages of Rabbinic Judaism, London 1999.
8Ordnung Nesikin. Aufgrund des anderen Stils wird vermutet, dass Pirke Avot erst nachträglich in die Mischna eingefügt wurde.
9mAv 1,1.
10Schechina leitet sich von sch–kh–n = „wohnen“ ab. Der Begriff wird auch als Ausdruck für die „Präsenz Gottes“ verwendet.
11„Es wird gelehrt: Rabbi Simon bar Jochai sagte: Komm und sieh, wie beliebt die Israeliten sind beim Heiligen, er ist gesegnet, denn wohin sie auch verbannt wurden, war die Schechina immer bei ihnen. Wurden sie nach Ägypten verbannt, war die Schechina bei ihnen, denn es heißt: ‚Ich habe mich deinem Vaterhause offenbart, als sie in Ägypten waren. (1. Sam. 2,27)‘ Wurden sie nach Babylonien verbannt, war die Schechina bei ihnen, denn es heißt: ‚Um euretwillen wurde ich nach Babel entsendet. (Jes 43,14)‘ Wurden sie nach Edom [Rom] verbannt, war die Schechina bei ihnen, denn es heißt: ‚Wer kommt da aus Edom, in hochroten Kleidern aus Bozra? Usw.‘ Und auch wenn sie dereinst erlöst werden, wird die Schechina bei ihnen sein, denn es heißt: ‚JHWH, dein Gott wird mit deinen Gefangenen zurückkehren. (Dtn 30,3)‘ Es heißt nicht [er wird die Gefangenen] zurückbringen, sondern [mit ihnen] zurückkehren, und dies lehrt, dass der Heilige, er ist gesegnet, mit ihnen aus dem Exil zurückkehren wird.“ – bMeg 29a, siehe auch Jer. Talmud, Taan. 64a.
12Esr, 7,5.
13Esr 7,6.
14Esr 7,11.
15Siehe Friedman, Richard Elliot: Wer schrieb die Bibel? So entstand das alte Testament, Wien; Darmstadt 1989.
16Ein jüdischer Tora-Kommentar, der die historisch-kritische Methode der Bibelwissenschaft berücksichtigt, ist The Jewish Publication Society (Hg.): JPS Torah Commentary Project, Philadelphia 1989: Genesis, Nahum M. Sarna, 1989; Exodus, Nahum M. Sarna, 1991; Leviticus, Baruch A. Levine, 1989; Numbers, Jacob Milgrom 1990; Deuteronomy, Jeffrey H. Tigay 1996.
17Ein markantes Beispiel sind die unterschiedlichen Bestimmungen zur Freilassung der Sklaven. Nach Exodus (21,2) und Deuteronomium (15,12) sollen die hebräischen Sklaven nach sieben Jahren freigelassen werden. In Levitikus (25,10 ff.) hingegen nur alle 50 Jahre. Ein anderes Beispiel ist die unterschiedliche Einstellung zum Fleischverzehr. Nach den Bestimmungen in Levitikus (Kap. 17) musste alles Fleisch, das gegessen wurde, zuvor Gott dargebracht werden. In Deuteronomium ist das nicht erforderlich (12,15). Nur das repräsentative Opfer musste noch im Tempel dargebracht werden (12,14). Aufschlussreich über die unterschiedlichen Bestimmungen sind auch die folgenden anthropologischen Studien: Douglas, Mary: Leviticus as Literature, New York 2000; dies.: In the Wilderness: The Doctrine of Defilement in the Book of Numbers, New York 2004.
18Siehe Dtn 17,14–20; 20,1–9 sowie Ri 8,22–23; 9, 6 ff; 21,25; 1 Sam Kap. 8.
19Num 16,1–18, 32.
20Num 12.
21Zur modernen kritischen Bibelwissenschaft trugen erheblich auch Juden bei – nicht zuletzt Baruch Spinoza, der von manchen als ihr Begründer angesehen wird, vor allem aber die Vertreter der „Wissenschaft des Judentums“ im 19. Jahrhundert.
22Esr 7,10.
23Neh 8,1–3.
24weha-lewiim mewinim et-ha’am la-tora.
25Neh 8,7.
26Neh 8,8.
27Z. B.: „Und sprachen zu Moses: Rede du mit uns und wir wollen hören, und nicht möge Gott mit uns reden, dass wir nicht sterben.“ (Ex 20,16) „Als nun Moses kam und dem Volke erzählte alle Worte des Ewigen und alle die Rechte, da antwortete das ganze Volk mit einer Stimme und sprachen: Alle Worte, die der Ewige geredet, wollen wir tun!“ (Ex 24,3) „Und nahm das Buch des Bundes (sefer ha-brit), und las es vor den Ohren des Volkes, und sie sprachen: Alles, was der Ewige geredet, wollen wir tun und hören (na’asse wenischma)“ (Ex 24,7).
28Neh 10,1.
29„Was soll mir die Menge eurer Opfer? spricht der Ewige. Ich bin satt der Ganzopfer von Widdern und des Fettes der Masttiere, und das Blut der Farren, und Lämmer und Böcke begehre ich nicht.“ – Jes 1,11.
30Zum Beispiel heißt es gegen das Tora-Gebot, an Jom Kipur zu fasten: „Nennst du das ein Fasten und einen Tag, der dem Ewigen gefällt? Vielmehr ist dies ein Fasten, wie ich es wünsche: Auflösen ruchloser Fesseln, die Seile des Jochholzes freigeben, Unterdrückte frei entlassen, und dass du jedes Jochholz zerbrichst; ferner dass du dem Hungrigen dein Brot brichst und Arme, Obdachlose in dein Haus führst, wenn du eine Nackten siehst, ihn bekleidest und vor deinem Bruder dich nicht verbirgst.“ Jes 58,5–7.
31Ez, Kap. 40 ff.
32Zu den Diskussionen siehe bShab 30b und mYad 3,5.
33Empfehlenswert Herford, Robert Travers: Die Pharisäer, Köln 1961 sowie Baeck, Leo: Die Pharisäer. Ein Kapitel jüdischer Geschichte, Berlin 1934.
34Stemberger, Günter (Hg. und Übers.): Mekhilta de-Rabbi Jischmael. Ein früher Midrasch zum Buch Exodus, Berlin 2010.
35Wünsche, August (Hg. und Übers.): Midrasch Raba. Eine Sammlung alter Midraschim, Bde. 1–5, Leipzig 1880, ND Hildesheim 1993. Sie enthält auch Pessikta de Raw Kahana und Pessikta Rabbati.
36Bietenhart, Hans (Hg.): Midrasch Tanhuma (Jelammedenu), 2. Bde., Bern; Frankfurt/Main 1980.
37Sifra zu Levitikus, Sifre zu Numeri, übers. u. erklärt v. Dagmar Börner-Klein, Stuttgart usw. 1997; Sifre Deuteronomium, übers. u. erklärt v. Hans Bietenhard, Bern; Frankfurt/Main et al. 1994.
38Gen 1,1.
39Gen 2,4.
40Gen 1,27.
41Gen 2,8; 2,15; 2,19–20.
42Gen 2,21–22; das hebräische Wort für „Rippe“ (zela) heißt auch „Seite“.
43Raschi ist das Akronym für Schlomo ben Isaac. Er lebte 1040–1105 vorwiegend in Troyes, vorübergehend auch in Worms.
44Im zweiten Schöpfungsbericht stehen beide Gottesbezeichnungen zusammen: JHWH und Elohim direkt hintereinander, rabbinisch gelesen: das Attribut der Barmherzigkeit verbunden mit dem Attribut der Gesetzgebung.
45Raschi zum ersten Satz in der Bibel: Gen 1,1. Siehe Bamberger, Selig: Raschis Pentateuchkommentar, Basel 1994.
46bBer 7a.
47Siehe die Diskussion über die Schofar-Töne an den beiden Tagen, bRH 33b–34a in Verbindung mit Sohar III, 231b.
48Gen 6,8.
49Gen 7,12 ff.
50Gen, Kap. 22.
51bBer 10a.
52Sifre zu Num 9,1.
53bMen 29b.
54Zusammen mit Hillels sieben Regeln leiten sie den Midrasch Sifre ein und stehen auch im jüdischen Gebetbuch für den Morgengottesdienst.
55Nach der rabbinischen Vorstellung ist die Substanz des Himmels Wasser.
56Acher war ursprünglich Elischa ben Awuja, der Schüler von Rabbi Meir. An verschiedenen Stellen, u. a. hier in bChag 15a–b, setzt sich der Talmud damit auseinander, wie es zu seinem Abfall kommen konnte.
57bChag 14b–15b.
58mEd 1,4–5.
59mAv 1,2.
60Der Kontext ist ein Streit zwischen Samaritanern und Juden. Der Talmud erzählt: „An diesem Tage erbaten die Samaritaner von Alexander dem Mazedonier die Zerstörung unseres Gotteshauses, und sie wurde ihnen gewährt. Da meldete man es Simon dem Gerechten. Was tat er? Er legte die priesterlichen Amtskleider an und hüllte sich in diese. Vornehme Israels schlossen sich ihm an, und mit Fackeln in den Händen wanderten sie die ganze Nacht, die einen auf der einen Seite und die anderen auf der anderen Seite, bis die Morgenröte anbrach. Als die Morgenröte aufgegangen war, fragte [Alexander]: Wer sind diese? Jene erwiderten: Es sind die Juden, die sich gegen dich aufgelehnt haben. Als sie Antipatris erreichten, die Sonne hatte bereits geschienen, begegneten sie einander, und als er Simon den Gerechten sah, stieg er von seinem Wagen und bückte sich vor ihm. Da sprachen sie zu ihm: Ein mächtiger König, wie du es bist, bückt sich vor diesem Juden! Dieser erwiderte: Es ist die Bildgestalt von diesem, die vor mir bei meinen Kriegszügen siegt. Hierauf fragte er sie: Weshalb seid ihr gekommen? Sie erwiderten: Sollte es denn möglich sein, dass jene Nichtjuden dich verleiten konnten, das Haus zu zerstören, in dem man für dich betet und für dein Reich, dass es nicht zerstört werde!? Er fragte: Wer sind es? Sie erwiderten: Diese Samaritaner, die vor dir sehen. Da sprach er: Sie sind euch ausgeliefert.“ bYo 69a.
61Siehe hierzu Neusner, Jacob: Jerusalem and Athens: The Congruity of Talmudic and Classical Philosophy, Leiden; Boston 1997; auch Fromer, Jakob: Der Talmud. Geschichte, Wesen und Zukunft, Berlin 1920.
62„Antigonos, der Gelehrte aus Socho, empfing [die Tora] von Simon dem Gerechten. Er pflegte zu sagen: Seid nicht wie Diener, die ihrem Herrn dienen, um Lohn zu erhalten, sondern seid wie Diener, die ihrem Herrn (aus Liebe) dienen, nicht um Lohn zu erhalten, habt aber Ehrfurcht vor dem Himmel. Jossi, Sohn des Jo’eser, Gelehrter aus Zereda, und Jossi, Sohn des Jochanan, Gelehrter aus Jerusalem, [empfingen die Tora] von Antigonos.“ mAv 3–4.
63mAv 4–5.
64mAv 6–7.
65„Jehuda, Sohn des Tabai, sagt: Sei [du als Richter] kein Rechtsanwalt; stehen die beiden Gerichtsparteien vor dir, betrachte beide als Frevler, gehen sie [nach dem Urteil] von dir weg, betrachte sie als Schuldlose, falls sie das Urteil akzeptiert haben. Simon, Sohn des Schatach, sagt: Frage vermehrt die Zeugen aus, sei aber vorsichtig mit deinen Worten, damit sie [die Zeugen] daraus nicht etwas zum Lügen entnehmen können.“ mAv 8–9.
66„Schemaja sagt: Liebe die Arbeit und hasse das Herrschen, mache dich nicht bekannt mit den Herrschenden. Awtaljon sagt: Ihr Weisen, seid vorsichtig mit euren Worten, ihr könntet zur Verbannung verurteilt und an einen Ort mit schlechtem Wasser [Sitten] verbannt werden; die Schüler, die euch nachfolgen, würden dieses Wasser trinken und sterben, damit wäre der Gottesname entweiht.“ mAv 10–11.
67Ganze Textstelle: „Hillel und Schammai empfingen die Tora von ihnen. Hillel sagt: Sei von den Schülern Aharons, der Frieden liebt und ihm nachjagt, die Menschen liebt und sie der Tora näherbringt. Er pflegte zu sagen: Wer seinen Namen hervorhebt, verliert seinen Namen. Lernt man nichts dazu so nimmt [auch das bereits Gelernte] ab. Wer nicht lernt, macht sich todesschuldig. Wer sich der Tora-Krone [zum Eigennutz] bedient, schwindet dahin. Sorge ich nicht für mich, wer wird für mich sorgen? Sorge ich nur für mich allein, was bin ich dann? Wenn nicht jetzt, wann denn? Schammai sagt: Mache dir das Torastudium zur Hauptsache; versprich wenig, doch tue viel; empfange jeden Menschen mit freundlichem Gesicht.“ mAv 12–15.
68bEr 13b.
69Siehe Steinsaltz, Adin: Persönlichkeiten aus dem Talmud, Basel 1996.
70bNed 28a, Git 10b; BQ 113a; BB 54b–55a.
71bShab 31a.
72Jerusalemer Talmud in dt. Übersetzung, Tübingen, seit 1975.
73Babylonischer Talmud, ins Deutsche übertragen von Lazarus Goldschmidt, Frankfurt/Main 1996 (1967).
74Siehe Neusner, Jacob: Talmud Torah: Ways To God’s Presence Through Learning. An Exercise in Practical Theology, New York; Oxford 2002.