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Patricia Koelle
ОглавлениеDie Wunschkerzen
Die Schatten, die alltags in den Ecken des weitläufigen hundertjährigen Hauses wohnten, hatten sich zur Mitte der Räume hin ausgebreitet. Nun herrschte tiefe, reglose Dunkelheit bis auf die Flamme der einen Kerze, an der unsere Blicke hingen, und den hellen Fleck, den die Gaslaterne von draußen an den Vorhang malte. Das Kerzenlicht warf die langgezogenen Schatten der Tannenzweige so wirr an die Wände, dass es wirkte, als wäre unser Weihnachtsbaum nur der Beginn eines tiefen Waldes, der sich bei jedem Flackern im Wind bewegte und in den wir nur einen Schritt hineinzutun bräuchten, um in eine größere, ungewissere Welt einzutreten.
Wir hatten ebenso wie die Freunde und Nachbarn eine fröhlich bunte Lichterkette an unserem Weihnachtsbaum, die die Tage zwischen den Jahren zu etwas Besonderem machte. Doch an Heiligabend gab es echte Kerzen, auch wenn Freunde und Nachbarn die Hände über dem Kopf zusammenschlugen und ausriefen: „Wie kann man nur so leichtsinnig sein!“ Mein Vater aber blickte ungerührt von seinen beruhigenden einsfünfundachtzig herab und sagte: „Es steht immer ein Wassereimer daneben.“ Seitdem er im Krieg zweimal mit seinem Flugzeug abgeschossen worden war, konnte ihn außer einem Schnupfen nichts mehr erschüttern. Mit strategischer Sorgfalt setzte er die Kerzenhalter auf die Zweige – weit außen und nur dort, wo er sicher war, dass kein anderer Zweig und kein Lametta dicht über der Flamme hängen würden. Auch der Abstand zur Zimmerdecke musste gewahrt bleiben. Bei unseren hohen Altbaudecken wäre das kein Problem gewesen, hätten wir nicht jedes Jahr wieder auf einem Baum bestanden, der vom Boden bis zur Decke reichte. Drei Meter sechzig. Mindestens! Sicherheitshalber wurde der Baum noch mit einer unauffälligen Schnur an der Wand festgebunden. Die Kerzen besorgte meine Mutter schon, wenn noch die letzten Herbstblätter an den Bäumen hingen, denn es mussten echte Honigkerzen sein, hundert Prozent Bienenwachs, und die gab es später oft nicht mehr. Nur diese Kerzen hatten das warme Licht und den Geruch von Geborgenheit, Sommerwärme und friedvoller Zukunft, den wir gewohnt waren. Mit dem blassen, künstlichen Stearin konnten wir nichts anfangen. Und außerdem hielten sie länger.
Als wir klein waren, brannten die Kerzen bereits, wenn sich nach dem Glockenläuten endlich die große Flügeltür öffnete. In späteren Jahren durften wir zusehen, wie Vater mit einer Kerze, die an einem langen Kochlöffel festgebunden war, eine nach der anderen anzündete wie ein Magier mit dem Zauberstab. Ich stand dann mit offenem Mund unter dem Baum und staunte die Lichter an, die sich pyramidenartig bis zur Decke türmten, für mich damals so unerreichbar wie der Himmel selbst. Obwohl ich kurz zuvor noch fast vor Stolz geplatzt war über mein Festtagskleid aus Resten eines Brokatstoffs, in dem Silberfäden blitzten, fühlte ich mich winzig und demütig bei diesem Anblick. Während die elektrische Lichterkette, diskret um den Stamm gewickelt, den Baum von innen erhellte – an Heiligabend war sie natürlich ausgeschaltet und damit unsichtbar – ließen die Honigkerzen, die am Ende der Zweige thronten, den Baum noch gewaltiger erscheinen, als er war. Sie betonten seinen Umriss, während in der Mitte duftende Dunkelheit hing. Und die feierliche Stille.
Als meine Eltern jünger waren, gab es häufiger Musik im Haus; ich sehe noch einen Plattenspieler vor mir, dem man einen ganzen Stapel Platten gleichzeitig anvertrauen konnte, von dem dann eine nach der anderen herunterfiel und abgespielt wurde. Mit der Zeit, als sich immer mehr Erinnerungen aus erfüllten Jahren ansammelten, war es, als nähmen diese den Raum ein, der der Musik gehört hatte. An Heiligabend erklang nur noch die Spieluhr, die einmal „Stille Nacht, heilige Nacht“ abspielte, anfangs im Eiltempo und am Ende in Zeitlupe bis, wie von dem Lied heraufbeschworen, Stille herrschte.
Mir war, als hinge das bodenlose, erschreckende und doch göttliche Schweigen des ganzen Weltalls feierlich im Dunkel zwischen den Ästen, des Alls, durch das sich unser Planet bewegte, während der Weihnachtsbaum in ungerührter Würde darauf stand und die Kerzen ruhig brannten. Nur gelegentlich flackerten sie leicht, wenn von draußen ein Windstoß den Weg durch die alten Fensterläden fand, wenn Vater nieste oder Oma eine Geschichte erzählte: aus dem Krieg, wie sie in der Not aus dem Fell einer toten Katze eine Mütze für ihre Tochter genäht oder in ihrer Kindheit auf dem Gut in Ostpreußen Lehmziegel gebrannt und ihre neuen Schuhe auf den Stoppelfeldern ruiniert hatte. Es wurden viele Geschichten erzählt und Menschen heraufbeschworen, die es längst nicht mehr gab, die wir Kinder nie gekannt hatten. Hier unter dem Licht des Baumes aber wurden sie plötzlich für Augenblicke lebendig, als träten sie jeden Moment aus den Schatten in den Kerzenschein, als könnte man ihr Lachen durch die Stille huschen hören, so wie das Lametta gelegentlich dort aufglänzte, wo man im nächsten Augenblick nichts mehr sah.
Meine Oma erzählte die besten Geschichten, vielleicht weil sie in ihren vielen Jahren das meiste erlebt hatte. Ihr Besuch gehörte unverrückbar zu Weihnachten. Sie bereitete die Gans zu, sie hängte das Lametta auf ganz bestimmte Weise an den Baum, half beim künstlerischen Plätzchenbemalen und jagte selbst mit neunzig noch meinen Vater um die Tischtennisplatte. Auf Spaziergängen im Park räumte sie die Äste vom Weg, „damit die alten Leute nicht stolpern“. Weihnachten ohne Oma Rena war undenkbar: Weihnachten fing an, wenn sie aus dem Zug stieg.
Das Geschichtenerzählen begann nach der Bescherung. Sämtliche elektrischen Lichtquellen im Haus wurden ausgeschaltet, selbst das Aquarium und die Küchenlampe, die sonst durch den Flur geschimmert hätte. Dann suchte sich jeder eine Kerze aus, von der er glaubte, dass sie als Letzte verlöschen würde. Meine Eltern, Oma Rena, die eine oder andere Tante, mein Bruder, meine Schwestern, jeder traf seine Wahl mit Bedacht. Ich machte es mir am leichtesten; irgendeine bestimmte Kerze schien mich jedes Mal anzuzwinkern, als gäbe es eine geheime Absprache zwischen uns. Allerdings habe ich nie gewonnen.
Nach etwa zwei Stunden waren die ersten Kerzen aus, aber es dauerte stets noch eine weitere Stunde, bis auch die letzte Flamme das Wachs aufgebraucht hatte. Mit jeder, die das Dunkel verschluckte, mehrten sich die Schatten und die Geschichten wirkten geheimnisvoller, bis sich auch das Erzählen verlor und wir nur noch mit fast angehaltenem Atem auf die tapfersten Kerzen blickten. Es war jedes Mal ein spannendes Rennen, umso dramatischer durch seine Lautlosigkeit, und wer sich zunächst als Sieger wähnte, konnte im nächsten Augenblick verloren haben. Manche verlöschten ruckartig, wenn der Docht umfiel, andere wurden früh zu kleinen Funken und hielten dann sozusagen auf Sparflamme viel länger durch als die, welche so unbeirrbar geleuchtet hatten. Wieder andere wuchsen am Ende noch einmal über sich selbst hinaus und wurden so groß und hell, dass Vater aufstand und nachsah, ob der Wassereimer gebraucht würde, was aber nie der Fall war. Niemand durfte mehr hinausgehen, weil das einen Luftzug auslösen würde, welcher der einen oder anderen Kerze gefährlich werden konnte.
Wenn der letzte Funken schließlich verlöschte, durften sich alle etwas wünschen. Wie bei Sternschnuppen sollte man diesen Wunsch aber nicht aussprechen. Ich erfuhr die Wünsche meiner Familie nie. Aber in meine eigenen setzte ich eine Menge Hoffnung.
Danach schaltete irgendjemand eine kleine Lampe an. Wir blinzelten in die plötzliche Helligkeit und stürzten uns auf den bunten Teller; die Stille und die Feierlichkeit verflogen wie eilige Zugvögel bis zum nächsten Jahr.
Damit alle Kerzen dieselbe Chance hatten, legte meine Mutter nach Weihnachten die Kerzenhalter in den Backofen, bis alles Wachs von ihnen abgeschmolzen war und nicht etwa irgendwelche Reste einer nächstjährigen Kerze einen Vorteil verschaffen könnten. Aus demselben Grunde achtete sie darauf, dass die Kerzen aus derselben Packung kamen und nicht etwa von Bienen, die Unterschiedliches genascht haben könnten. Die Ungleichheiten, die dennoch blieben, erklärte Vater wissenschaftlich mit Temperaturunterschieden, Luftströmungen und unterschiedlicher Dicke.
Bis auf dieses eine Mal: das erste Weihnachten ohne Oma Rena.
An ihrem zweiundneunzigsten Geburtstag hatte sie ein wenig müder gewirkt als sonst. Aber das stand ihr in ihrem Alter schließlich zu. Ein paar Tage später fuhr sie zum Bahnhof, um ihren Freund zu treffen, der auf der Durchreise war.
Von Oma Renas Ehe mit meinem Großvater wusste ich nicht viel. Sie erzählte oft, sie habe ihn sozusagen aus Versehen geheiratet, weil man ihr als Kind beigebracht hatte, sie dürfe nie „Nein“ sagen, wenn sie um etwas gebeten werde. Gelegentlich hatten sie Meinungsverschiedenheiten, und wenn er dann ausrief: „Ich lasse mich scheiden!“, antwortete sie friedfertig: „Ja, wenn du meinst …“, womit sie ihm allen Wind aus den Segeln nahm. Lange nach seinem Tod fand Oma Rena ein spätes Glück, als sie sich in bester Schwarzwaldklinikmanier in den leitenden Arzt ihrer Kurklinik verliebte, in die sie jährlich fuhr. Natürlich hatten sämtliche weiblichen Patienten eine Schwäche für ihn, und außerdem war er um einiges jünger als Oma Rena. Doch sie war bis zuletzt eine elegante, heitere und auf ganz besondere Weise liebenswürdige Frau, und ich glaube, zwischen den beiden war tatsächlich etwas Besonderes. – An jenem Tag kurz vor Weihnachten also wollte sie ihm nur kurz auf dem Bahnhof guten Tag sagen. Stattdessen stieg sie spontan und ohne Gepäck zu ihm in den Zug, fuhr in angeregter Unterhaltung mit bis in seine Heimatstadt und am nächsten Tag wieder zurück. Dieser Ausflug muss wohl zu viel für sie gewesen sein, denn einen Tag vor Heiligabend, kurz bevor mein Vater sie abholen wollte, erreichte uns ein Anruf. Man hatte Oma Rena mit dem gepackten Koffer neben sich auf dem Boden gefunden. Ich stellte mir später vor, wie der Tod zu ihr sagte: „Es ist Zeit“, und sie antwortete: „Ja, wenn du meinst“, und nicht viel dagegen hatte, als er sie, anders als Großvater, beim Wort nahm.
Das Schweigen war diesmal tiefer um den Baum und keine Geschichten wagten es, eine Lücke hineinzureißen. Bis mein Bruder Tom entschlossen auf eine Kerze deutete. „Das da – das ist Omas Kerze!“ Es war eine der Kerzen ganz oben, eine von jenen, die meist zuerst ausgingen, wegen der Wärme, die sich unter der Zimmerdecke sammelte. Aber alle nickten zustimmend und setzten sich ein wenig gerader in ihren Sesseln.
Und dann begannen wir, Geschichten zu erzählen, Geschichten von Oma Rena. Es gab viele. Währenddessen sank eine Flamme nach der anderen in sich zusammen. Mit dem verschwindenden Licht verstummten schließlich auch die Worte. Wir sahen auf Omas Kerze, die manchmal im Luftzug tanzte wie ein kleines Winken. Irgendwann erlosch die zweitletzte Flamme. Niemand sagte mehr ein Wort. Eine ganze halbe Stunde später brannte Omas Kerze immer noch. Und selbst Vater, der sonst nie so lange stillsitzen konnte, stand nicht auf und sah nach, was die wissenschaftliche Erklärung dafür war. Er blickte auf Omas Kerze, und in seinen Mundwinkeln saß sein seltenes, weiches Schmunzeln.
Es war, als huschten Oma Renas muntere Schritte und ihr leises Lachen durch den Raum, so wie Lametta manchmal für einen Augenblick ein flüchtiges silbernes Glänzen in die Dunkelheit zaubert.