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Julia Buettner
ОглавлениеDas Haus der alten Dame
Ich erinnere mich noch genau – gerade so, als wäre es erst gestern gewesen. Es war der 24. Dezember 1998. Ich verließ gegen Mittag meine Wohnung, stieg in mein Auto und fuhr in die Stadt. Ich hatte keine Besorgungen zu erledigen, keine Geschenke einzukaufen, denn ich wohnte allein und meine Angehörigen waren weit verstreut.
Ja, ich weiß, das Wort „Angehörige“ hört sich komisch an, steif und unpersönlich, ich muss jedoch sagen, eine richtige Familie kannte ich nicht – nicht mehr. Meine Mutter war nach Vaters Tod in ein Altersheim gezogen – auf mein und meines Bruders Drängen hin. Mein Bruder lebte seit Jahren im Ausland und ich verspürte wenig Lust, ihn zu besuchen, denn seine ständig wechselnden Bekanntschaften nervten mich.
Die Besuche bei meiner Mutter spulte ich pflichtschuldig ab – ein sich ständig wiederholendes Programm, wie ein Film, den man sich wieder und wieder ansieht. Sie lebte in einer Traumwelt, hatte sich aus dem realen Leben verabschiedet, sprach mit Verstorbenen, meinem Vater und ihrer anderen Tochter, die mit fünf Jahren bei einem tragischen Unfall auf einer Bootsfahrt ertrunken war. Damals war ich noch klein und habe deshalb keine Erinnerung daran. Ich versuchte, die Zusammentreffen mit meiner Mutter auf das Notwendigste zu reduzieren.
Wegen Geschenken fuhr ich also nicht in die Stadt. Weihnachten hatte ich gedanklich abgehakt, für mich war der 24. Dezember ein Tag wie jeder andere. Manchmal nutzte ich die Feiertage für einen Kurztrip in die Sonne oder auch, um Arbeit aus der Kanzlei nachzuholen, die ich aktenweise mit nach Hause schleppte.
Doch an diesem Tag trieb mich eine seltsame Unruhe um, sodass ich die Wohnung verließ, um mich in das vorweihnachtliche Gewühl der Stadt zu stürzen. Wahllos fuhr ich einige Straßen auf und ab, um mich herum das hektische Verkehrschaos, welches einen an manchen Tagen in den Wahnsinn treibt. Ich jedoch hatte keine Eile, und nur der Wunsch, ein wenig in dieser Menschenmasse mitzuschwimmen, einzutauchen in das Gewusel, veranlasste mich, zu parken und auszusteigen.
Es war kalt und es roch nach Schnee. Weiße Weihnachten? Die hatte es hier schon seit Jahren nicht mehr gegeben …
Eine ganze Weile musste ich umhergestreift sein – von Geschäft zu Geschäft, von Schaufenster zu Schaufenster. Ich ließ mich treiben, schieben, ziehen von der Menschenmasse, die geschäftig auf und ab wogte. Welche wichtigen Dinge mochten sie wohl alle noch zu erledigen haben? Eine tiefe Traurigkeit stieg plötzlich in mir auf und drohte mich wie eine große Welle zu überrollen, eine Leere, die ich so vorher noch nie verspürt hatte.
Mit einem Ruck wischte ich mein Selbstmitleid beiseite. Ich fror. Des Umherstreifens müde beschloss ich, nach einem Café Ausschau zu halten. Ohne wählerisch zu sein, trat ich in das erstbeste. Dunst und Rauch schlugen mir entgegen. Der kleine, mit allerlei altmodischen Gegenständen dekorierte Raum hatte seine besten Zeiten wohl schon seit vielen Jahren hinter sich. Verstaubte Kaffeemühlen und gusseiserne Bügeleisen standen auf Borden aufgereiht, und unzählige Pendeluhren tickten an den Wänden, sodass man eher den Eindruck eines Trödelladens bekam. Nichtsdestotrotz war das kleine Café voll besetzt – fast, denn ganz hinten in der Ecke erspähte ich noch einen freien Platz. Ich legte Jacke, Schal und Mütze wohlbedacht auf den letzten freien Stuhl, damit niemand auf die Idee käme, sich zu mir an den Tisch zu setzen.
Ich mochte wohl schon eine ganze Weile so dagesessen sein, als sich eine alte Frau zwischen den engen Tischen und Stühlen ihren Weg bahnte – genau auf mich zu. Sie war mit unzähligen Tüten beladen und hinter sich zog sie eines von diesen karierten Wägelchen, das von Kartons und Tüten überquoll.
Erwartungsvoll lächelte sie mich an. „Ist hier noch frei?“
„Ja, also eigentlich …“, setzte ich an, aber ehe ich meinen Satz beenden konnte, schob sie mir meine Sachen zu und ließ sich mit einem tiefen Seufzer nieder. „Ah, ist das nicht eine wunderbare Zeit, das Fest der Liebe und des Gebens!“ Dabei richtete sie ihre Tüten und Päckchen um sich herum. „Alles für meine Lieben! Sie müssen wissen, ich lebe alleine in meinem großen Haus, aber Weihnachten – ach, da gibt es ein großes Fest – jedes Jahr! Meine zwei Söhne und meine Tochter – sie kommen mit ihren Familien. Das ist für mich die schönste Zeit im ganzen Jahr – glauben Sie mir, das Haus lebt dann richtig!“
Sie nahm die altmodische Pelzmütze ab, die sie mit Haarnadeln befestigt haben musste. Ihr Haar war schlohweiß und am Hinterkopf zu einem Dutt zusammengesteckt. Wie ich sie so beobachtete, fielen mir ihre feinen, aristokratisch wirkenden Züge auf. Sie wirkte klein und zerbrechlich, war aber gleichzeitig von einem so fröhlichen, unbekümmerten Charme, dass sie mich in ihren Bann zog.
„Wie steht es denn mit Ihnen, feiern Sie auch mit Ihrer Familie?“ Sie sah mich aus ihren grauen Augen an und ich bemerkte die vielen kleinen Fältchen, die ihr Gesicht gestalteten wie eine Landschaft. Sie hatte so etwas Verschmitztes in ihrem Blick und irgendwie bekam ich plötzlich das Gefühl, sie wüsste mehr über mich. In knappen Sätzen schilderte ich ihr meine Situation.
„Oh, wie schade!“ Bedauernd schüttelte sie den Kopf. „Dann ist ja heute gar kein besonderer Tag für Sie! Aber wissen Sie was? Wenn Sie sich einsam fühlen – warum kommen Sie nicht zu mir? Sie würden mir ein ganz besondere Freude machen!“
Ich antwortete, ihr Angebot sei zwar sehr freundlich, aber ich wolle auf keinen Fall eine private Familienfestlichkeit stören.
„Ach, da stören Sie doch überhaupt nicht! Wissen Sie, in meiner Familie ist es Tradition, zu Festen liebe Freunde als Gäste zu haben.“ Sie nahm aus ihrer Tasche ein kleines in Leder gebundenes Notizbuch heraus und schrieb auf eine der Seiten eine Adresse. „So“, sagte sie und riss das Blatt heraus, „hier wohne ich, bitte überlegen Sie es sich.“ Sie trank ihren Kaffee aus und begann, ihre Tüten und Pakete zusammenzuraffen.
Meine Gedanken kreisten noch eine ganze Weile um diese freundliche alte Dame – aber natürlich verwarf ich ihre Einladung. Also zerriss ich den Zettel und warf ihn in den Aschenbecher. Dann nahm ich Schal, Jacke und Mütze – und entdeckte, dass unter dem Tisch noch eine kleine Tüte lag. Offenbar hatte meine Tischnachbarin sie dort übersehen. Ich sah hinein. Ein Päckchen, bereits in Geschenkpapier eingepackt, lag darin. Das Band war mit einem Aufkleber am Geschenk festgeklebt, darauf stand:
JUWELIER ZIRS Für Christa
Es schien sich also um ein wertvolles Geschenk zu handeln. Seltsam, denn zufällig war Christa auch mein Name. Ich nahm die Tüte und verließ das Café. Auf dem Weg zum Auto beschloss ich, das Päckchen doch noch schnell bei der alten Dame vorbeizubringen. Die Straße wusste ich noch – Konrad-Oettinger-Straße 17. Es handelte sich um eine noble Villengegend in der Nähe des Zentrums mit vielen zum Teil sehr schön renovierten Patrizierhäusern.
Inzwischen war es draußen dämmrig geworden. Die Straßen und Gehwege waren jetzt wie leergefegt, im krassen Gegensatz zu dem Treiben noch vor einer knappen Stunde. Die Geschäfte hatten geschlossen und auch die letzten Geschenkeinkäufer waren heimgekehrt.
Als ich das Auto erreichte, begann es erst vereinzelt, dann in immer dichter werdenden Flocken zu schneien. Langsam fuhr ich die besagte Straße entlang und hielt Ausschau nach der Nummer 17. Nummer 15, eine prächtige Villa aus der Gründerzeit, dann die Nummer 19, ein großes Messingschild verwies auf eine Anwaltskanzlei. Hatte ich die 17 übersehen? Vor der Nummer 21 erspähte ich einen freien Parkplatz.
Ich stieg aus und lief das kleine Stück zurück. Inzwischen schneite es dichte, dicke Flocken und der Schnee begann bereits, den Bürgersteig und die Straße zu überzuckern. Zwischen Nummer 15 und 19 befand sich eine schmale Zufahrt mit einem hohen Messingtor – das Haus lag also nach hinten versetzt. Das Tor war nur angelehnt, und da ich keine Klingel entdecken konnte, trat ich ein.
Die schmale Zufahrt erweiterte sich nach wenigen Metern zu einem parkähnlichen Garten mit mächtigen, alten Bäumen. Dann, ein paar Meter weiter, sah ich ein stattliches Herrenhaus mit einer steinernen Vortreppe, und als ich näher kam, hörte ich Stimmen und Gelächter. Zögernd blieb ich stehen. Links vom Eingang befand sich ein hell erleuchteter Salon. Am Fenster stand ein gewaltiger Christbaum, bestimmt mehr als drei Meter hoch. Im riesigen, offenen Kamin brannte ein Feuer und mitten im Zimmer hockten mehrere Kinder in ein Brettspiel vertieft. Am Tisch saßen zwei Männer und unterhielten sich. Rechts lag ebenfalls ein großer, erleuchteter Raum. Darin stand eine gewaltige Tafel aus dunklem Holz, drum herum waren schwere Holzstühle mit Schnitzereien angeordnet. Eben trat eine junge Schönheit mit dunklen, glatten, langen Haaren durch die Tür. Sie trug ein schwer beladenes Tablett und stellte es auf einem Sideboard ab. Aus einer Schublade nahm sie eine Tischdecke und breitete sie mit Schwung über die Tafel.
Plötzlich schämte ich mich, dass ich draußen wie eine Voyeurin stand und etwas beobachtete, was mich gar nichts anging. Doch das Bild, welches sich mir bot, erschien mir so friedlich und harmonisch, eigentlich genau so, wie ich mir als Kind Weihnachten immer gewünscht hatte.
Das Weihnachten meiner Kindheit hatte immer etwas Beklommenes an sich gehabt. Die endlosen Streitereien meiner Eltern, die so ihrer Verbitterung um ihr verlorenes Kind – meine Schwester – Ausdruck verliehen, die freudlosen Abendessen, immer mit Blick auf den fünften – leeren – Platz, all das hatte dazu geführt, dass ich mich stets früh auf mein Zimmer verkroch und mein eigenes kleines Fest mit meinen Stofftieren und Puppen feierte. Erst später, in der Pubertät, hatte ich meine Verweigerungshaltung entwickelt, die mich auch heute noch beherrschte. Schnell wischte ich die trüben Erinnerungen beiseite und stieg die Treppe zum Portal hinauf. Dort hing ein Messingschild mit der Aufschrift
von Stetten Muñoz Marin
Ich griff zu dem Seilstrang der altmodischen Messingglocke und erschrak ein wenig vor dem durchdringenden Ton, den mein Läuten verursachte. Dann hörte ich eine mir aus dem Café bekannte Stimme rufen: „Frieda, kannst du bitte an die Tür gehen? Ich habe gerade die Hände voller Teig!“ Schritte näherten sich. Die Tür ging mit einem leichten Knarzen auf. Vor mir stand die Schönheit von eben. Frieda.
„Guten Abend, es tut mir leid dass ich störe, ich wollte nur eben etwas abgeben – für Frau …“, ich stockte. Ich wusste ja gar nicht, wie die Dame hieß, die ich getroffen hatte! „… Frau von Stetten?“, versuchte ich es auf gut Glück.
„Buenas tardes … Guten Abend, Frau …?“
„Oh, entschuldigen Sie bitte, ich heiße Christa Wagner.“
„Bitte kommen Sie doch herein, Frau Wagner. Ich hole meine Mutter.“
Ich trat in die Halle.
„Ah, Christa, wie schön, dass Sie da sind! Kommen Sie doch herein!“
Ich schluckte. „Ich wollte Ihnen eigentlich nur schnell dies hier vorbeibringen“, ich hob die Tüte hoch. „Sie haben es im Café vergessen. Ich muss gleich weiter. Leider.“
„Oh, wie lieb von Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben! Vielen Dank! Sehen Sie, ich habe es noch gar nicht vermisst. Haben Sie es denn sehr eilig? Es gibt gleich Tee und Plätzchen, setzen Sie sich doch einen Augenblick zu uns …“
In diesem Moment kam der eine der beiden Männer aus dem Salon. „Ah José, gut, dass du kommst, das ist Christa, von der ich dir vorhin erzählt habe.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Würdest du ihr bitte den Mantel abnehmen? Ich muss schnell wieder in die Küche, die Plätzchen sind noch im Ofen.“
José gab mir die Hand. „Mamacita hat Sie schon angekündigt.“ Galant nahm er mir den Mantel ab und hängte ihn in die Garderobe.
Etwas hilflos stand ich da. Jetzt war es zu spät, den Rückzug anzutreten.
Dann begleitete er mich in die Küche. „Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, mit in die Küche zu kommen. Unsere Küche ist der Mittelpunkt des Hauses, wissen Sie.“ In der Küche wuselten drei Frauen hin und her.
„Darf ich Ihnen vorstellen, meine Frau Maria, meine Mutter und meine Schwester kennen Sie ja bereits.“
Während ich auf einem der Barhocker an der Frühstückstheke saß, beobachtete ich, wie die drei Frauen in der Küche wahrhaft zauberten. Greta, die alte Dame, holte ein Backblech nach dem anderen mit Plätzchen aus dem Ofen. Zwischendurch kamen die Kinder hereingelaufen und schwatzten ihrer Oma ein paar Kekse ab. Mir lief das Wasser im Munde zusammen und irgendwie dachte ich jetzt gar nicht mehr daran, schnell nach Hause zu fahren. Frieda hatte inzwischen den Tisch fertig gedeckt und ich half ihr, die Plätzchenteller und den Bûche de Noёl in das Speisezimmer zu tragen. Die Kinder stürmten ins Zimmer. „Oma, wir haben mit Onkel Luis den Baum fertig geschmückt, weiß denn das Christkind auch, dass es jetzt kommen kann?“
Greta lächelte geheimnisvoll: „Ihr müsst jetzt ganz leise sein und horchen, ob ihr ein Glöckchen klingeln hört. Das trägt das Eselchen um den Hals, das dem Christkind beim Verteilen der Geschenke hilft.“
Wir saßen an der großen Tafel und tranken Tee und aßen Plätzchen und ich genoss es ganz einfach, mit dabei zu sein. Es war fast so, als hätte ich schon immer dazugehört. Luis, Gretas zweiter Sohn, erkundigte sich eingehend nach meinem Job und erzählte, dass er in Erwägung ziehe, in Frankfurt eine Kanzlei zu eröffnen.
Ich erfuhr aus ihren Erzählungen, dass Greta mit ihren Eltern nach dem Krieg nach Puerto Rico ausgewandert war und dort ihren späteren Mann kennengelernt hatte. Ihre gemeinsamen Kinder Frieda, José und Luis waren dort aufgewachsen und nach dem Tode ihres Mannes war Greta wieder nach Deutschland zurückgekehrt.
Später, als dann tatsächlich ein Glöckchen klingelte, gab es für die Kinder kein Halten mehr. Der Baum war mit altem, wunderschönem Glasschmuck behängt und Luis entzündete die Kerzen. Wir sangen zusammen alte, deutsche Weihnachtslieder, die José auf einem Steinway-Flügel begleitete.
Die Kinder packten ihre Geschenke aus und bald begann auf dem Boden ein emsiges Aufbauen. Eine große Holzeisenbahn war dabei, wie ich sie auch noch aus meiner Kindheit kannte, ein Puppenwagen und ein schöner, alter Kaufladen.
Auch die Erwachsenen beschenkten sich.
Nach einer Weile kam das jüngere der Mädchen mit einem kleinen Päckchen und reichte es Greta. „Oma, da ist noch ein Geschenk übrig, das niemandem gehört, kann ich es aufmachen?“
Es war das Päckchen, das ich aus dem Café mitgebracht hatte.
„Das hätten wir ja fast vergessen, es ist für Christa!“
Völlig überrascht nahm ich das Geschenk entgegen.
„Christa, ich glaube, ich muss Ihnen etwas erklären“, hob Greta an. „Dass wir uns heute im Café begegnet sind, war kein Zufall. Ich hatte Sie kurz vorher die Straße entlanggehen sehen und dann sind Sie geradewegs in mein Lieblingscafé eingebogen, da dachte ich, diesen Wink des Schicksals muss ich einfach ausnützen!“
„Aber wir kannten uns doch vorher gar nicht?“
„Nun ja, ich kannte Sie schon, ich hatte Sie ein paarmal bei Ihrer Mutter im Antoniusheim gesehen. Aber ich glaube, da muss ich ein bisschen weiter ausholen. Ihre Mutter wohnte doch eine Weile mit Erna Friedrichs in einem Zimmer.“
Ich erinnerte mich. Die alte Dame war vor einem halben Jahr verstorben.
„Nun ja, Erna war eine ganz alte Freundin von mir, wir kannten uns schon aus der Schule und ich habe sie oft besucht. So lernte ich auch Ihre Mutter kennen. Sie hat mir von Ihnen erzählt und es hat ihr sehr leid getan, dass Sie sich so sehr von ihr zurückgezogen haben. Sie hat mich gebeten, dies hier für Sie reparieren zu lassen. Bitte machen Sie es auf, ja?“
Zögernd wickelte ich das Geschenk aus und öffnete das kleine Döschen. Ich traute meinen Augen nicht, als ich sah, was da zum Vorschein kam. Es war ein kunstvoll gearbeitetes silbernes Medaillon an einem silbernen Kettchen.
„Ich kenne dieses Medaillon“, stammelte ich. „Ich habe einmal so eines besessen, aber ich habe es verloren!“
„Ja, Ihre Mutter wusste, dass Sie sehr an diesem Medaillon gehangen haben, darin war ein Bild von Ihnen und Ihrer Schwester, als Sie noch kleine Kinder waren. Dieses hier ist aber das Medaillon, das Ihrer Schwester gehört hatte, und Ihre Mutter hatte es mir gegeben, damit ich es zum Reparieren bringe. Sie sollten es bekommen. Ich hatte es gerade beim Juwelier abgeholt, als Sie mir zufällig auf der Straße entgegenkamen. Den Rest der Geschichte kennen Sie ja …“
„Dann haben Sie es also mit Absicht unter dem Tisch liegen lassen?“
„Ja – Christa, seien Sie mir nicht böse wegen dieser kleinen List, aber wie sonst hätte ich Sie hierher locken können? Sie waren doch drauf und dran, wieder Weihnachten alleine in Ihrer einsamen Wohnung zu verbringen, oder?“ Sie lächelte mich entwaffnend an.
Ich lächelte zurück und dann umarmte ich sie spontan. „Ich danke Ihnen, Frau von Stetten! Ich danke Ihnen für dieses Geschenk. Ich danke Ihnen allen, dass ich hier bei Ihnen sein darf!“ Ich war so bewegt, dass mir Tränen über die Wangen liefen. Etwas beschämt wendete ich mich ab. Ich hatte seit Ewigkeiten nicht mehr geweint. Als ich mich wieder gefangen hatte, öffnete ich das Medaillon und betrachtete das Bild im Inneren. Meine Mutter war darauf zu sehen, als junge Frau, und sie hielt mich in ihrem Arm. Es war eine Nachricht an mich. Ein Friedensangebot. Ich musste in Ruhe darüber nachdenken.
Luis nahm seine Mutter in den Arm. „Da hast du ja wieder schön die Fäden gezogen, Mamacita, das sieht dir ähnlich, dass du die Schicksalsfee spielst!“
Greta lächelte und sah zu mir herüber. „Ja, und wie du dir denken kannst, auch nicht ganz uneigennützig. Christa ist eine sehr erfolgreiche Anwältin und hat in Frankfurt viele Kontakte. Du solltest dich an sie halten, wenn es dir mit der Kanzlei hier wirklich ernst ist.“
„Nun ja, ich denke schon, dass ich Ihnen behilflich sein könnte, wenn Sie hier Fuß fassen möchten.“
„Das ist ja wunderbar“, freute sich Luis, „vielen Dank!“
Es war schon sehr spät, als ich mich verabschiedete, und ich versicherte Greta, dass ich gleich am nächsten Tag meine Mutter besuchen gehen wollte.
Als ich aber am nächsten Tag im Antoniusheim ankam, fühlte ich mich wieder unwohl, wie jedes Mal. Das Medaillon hatte ich um den Hals hängen und ich saß lange Zeit neben meiner Mutter im Aufenthaltsraum und wusste nicht so recht, wie ich dieses – für uns beide so wichtige – Gespräch beginnen sollte. Da schob sie langsam und heimlich, wie ein kleines Mädchen, ihre Hand in meine und ich sah, wie ihr eine Träne über die Wangen lief. Plötzlich sah sie mich direkt an und lächelte. „Weißt du noch, wie wir damals zusammen in Wien auf den Stephansdom gestiegen sind? Papa und Melissa haben unten gewartet, weil ihnen immer so schwindelig wurde. Aber du bist mit mir all diese Stufen hinaufgestiegen und oben haben wir gelacht über die Menschen, die wie kleine Ameisen unten herumkrochen … Das Bild in dem Medaillon ist von diesem Ausflug …“ Sie machte eine Pause. Dann, ganz leise, fügte sie hinzu: „Christa, kannst du mir verzeihen? Ich habe mich die ganzen Jahre so sehr in meinen Schmerz versenkt, dass ich dich einfach nicht mehr wahrgenommen habe. Ich habe mir selbst nie verziehen, was Melissa passiert ist, und dann habe ich mit dir auch noch alles verkehrt gemacht …“
Ich nahm sie in die Arme und wiegte sie hin und her, wie ein kleines Kind, das man tröstet. „Ich habe dir schon verziehen, Mama. Aber du musst dir auch selbst verzeihen. Melissa ist aus unserem Leben gegangen und niemand hätte es verhindern können. Aber unser Leben geht weiter, dein Leben geht weiter …“
Und dann sprachen wir noch lange über die Dinge, über die wir die ganzen Jahre nie hatten sprechen können.
Meine Mutter ist vor ein paar Monaten gestorben, aber die letzten Jahre ihres Lebens haben wir intensiv genutzt, um an unserer zerrütteten Beziehung zu arbeiten. Es war für uns beide nicht immer leicht, aber sie kehrte mehr und mehr in die Gegenwart zurück und machte schließlich Frieden mit ihrem Schicksal.
Greta und Luis kamen zur Beerdigung und trösteten mich in meiner Trauer. Jetzt bin ich fast täglich in der Konrad-Oettinger-Straße 17, denn Luis hat im Seitentrakt des Hauses eine Kanzlei für ihn und mich eingerichtet. Heute kann ich sagen, dass es mir so gut geht wie nie zuvor; und das verdanke ich dieser kleinen alten Dame und unserer schicksalhaften Begegnung Weihnachten 1998.