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Wiebke Dickfeld
ОглавлениеBratwurst auf dem Weihnachtsmarkt
Die Nacht hatte sich über die Stadt gelegt, alle Straßen schliefen im fahlen Mondlicht unter einer Schneedecke. Kalter Wind zog seine Runden um die Häuser und es waren nur noch wenige Menschen, die sich ihren Weg durch die vom Himmel fallenden Flocken suchten. Ein Platz war jedoch hell erleuchtet, Menschenmassen tummelten sich dort, mitten in der Stadt. Es war der Weihnachtsmarkt, der die Leute jedes Jahr von Neuem anzog, und niemand ließ es sich entgehen, einmal darüberzuschlendern. Trotz der Kälte bestaunten die Menschen jeden einzelnen Stand, genossen die herrlichen Düfte, die in der Luft lagen, und mit jedem Moment rückte Weihnachten ein wenig tiefer in die fast ausgekühlten Herzen.
Jener Tag war sehr anstrengend für Herrn Ernik gewesen. Seine Arbeit hatte ihn erschöpft und er wollte nur noch einmal kurz Luft schnappen nach der langen Zeit im Büro, nur schnell über den Weihnachtsmarkt gehen, vielleicht noch ein kleines Geschenk besorgen und eventuell eine Bratwurst essen. Herr Ernik drängte sich durch die Menge, auf der Suche nach einem interessanten Stand, und bereute schon, hergekommen zu sein. War sein Tag doch auch ohne diese Menschenmasse betäubend genug gewesen. Der herrliche Geruch führte ihn schließlich zum Bratwurststand, wo er sich einreihte und in seinem Portemonnaie nach zwei Euro kramte.
Als Herr Ernik die Münze endlich gefunden hatte, wurde er von hinten angerempelt. Mit leisem Klimpern fiel das Geldstück zu Boden. Mit einer unfreundlichen Bemerkung herrschte er die junge Frau hinter sich an. Er bückte sich und suchte den nassen und schmutzigen Boden ab, bis sein Blick auf den Mann fiel, der unmittelbar vor ihm stand. Der Mann war nicht sehr groß, alt, trug dreckige, zerrissene Kleider und hielt drei Plastiktüten, in denen sein gesamtes Hab und Gut verstaut war. „Ein ganz normaler Obdachloser“, kam es Herrn Ernik in den Sinn, doch etwas verwunderte ihn: Der Mann lächelte, nein, er lächelte nicht nur, er strahlte über das ganze Gesicht. Der Alte bückte sich, hob die zwei Euro auf. Er drehte und wendete das Geldstück, als wäre es etwas ganz Besonderes.
„Entschuldigung, aber die zwei Euro gehören mir.“ Herr Ernik hatte sich gefasst und keine Zeit, sich von einem Obdachlosen aufhalten zu lassen.
Der alte Mann machte keine Anstalten, das Geldstück zurückzugeben.
Herr Ernik wurde ungeduldig. Es war kalt und er wollte so schnell wie möglich nach Hause.
Der Alte aber hatte keine Eile, es gab nichts, was ihn drängte.
„Geben Sie mir jetzt bitte das Geld!“ Herr Ernik wurde wütend, der Obdachlose wollte ihn bestimmt provozieren und dafür hatte er jetzt wirklich keinen Nerv. Er setzte zum Kampf an: „Finden Sie das lustig, was Sie da machen? Ist das so eine neue Art des Bettelns? Also wirklich; ich möchte jetzt die zwei Euro haben, sie gehören mir, ich habe sie mir ehrlich verdient! Und ich habe nicht so unbegrenzt viel Geld, dass ich es einfach wegschmeißen könnte.“
Der Blick des alten Mannes ruhte auf Herrn Ernik, sein Lächeln blieb unverändert. Er setzte zum Sprechen an. „Die Menschen“, sagte er, „sind blind geworden, ihre Ohren taub und ihre Münder wurden zu Maschinen.“
Herr Ernik starrte den Alten an. Er begriff nicht, worauf er hinauswollte. „Ich verstehe nicht, was Sie meinen, aber wissen Sie, ich habe keine Zeit, mir irgendwelche Storys anzuhören, wissen Sie, ich habe Kinder, meine Frau wartet sicher auf mich zu Hause. Und in dieser chaotischen Weihnachtszeit sind wir sowieso nur im Stress. Ich habe noch keinen Urlaub. Und Weihnachtsgeschenke auch nicht. Und alles geht drunter und drüber. Jetzt geben Sie mir endlich mein Geld!“ Herr Ernik war zufrieden, er hatte seine Meinung gesagt. „Aber“, fügte er noch etwas gehässig hinzu, „Sie wissen ja gar nicht, wie das ist. Tja, da kann man nix machen. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die Bettlern gerne etwas geben. Und wissen Sie auch, warum? Weil sie an ihrem Unglück selbst schuld sind.“
Der alte Mann schien nicht überrascht, wie Herr Ernik erwartet hatte, ganz im Gegenteil, er strahlte noch breiter als zuvor. „Ich bin um einiges reicher als Sie, da bin ich mir sicher ...“ Mit einer Handbewegung brachte er Herrn Ernik dazu, nicht zu widersprechen. „Nicht, dass ich mehr Geld hätte. Nein, gewiss nicht, aber ich habe etwas Kostbareres. Etwas, das viele Menschen nicht würdigen, nicht verstehen.“
„Was meinen Sie?“, warf Herr Ernik ein.
„Zeit zum Leben“, war die Antwort des Alten.
„Wollen Sie mich veralbern? Ich lebe doch!“
„Sehen Sie“, sagte der Alte im gleichen ruhigen Ton, „Sie verstehen es nicht. Aber ich will es Ihnen erklären. Die Zeit läuft immer, man kann sie nicht anhalten oder verlangsamen, auch wenn viele Menschen das gerne täten. Doch Zeit ist nicht immer gleich Zeit. Wenn Sie sagen, ich habe keine Zeit, was wollen Sie damit ausdrücken? Wissen Sie, für jeden auf dieser Welt ist die Zeit begrenzt, daher sollten Sie wirklich leben, solange Sie noch Zeit dazu haben.“
Herr Ernik schaute den Mann verdutzt an, der jedoch redete unbeirrt weiter. „Sie leben und ich lebe auch, aber wirklich leben werden wir nur, wenn wir glücklich sind, die tickende Uhr vergessen. Ein erfülltes Leben bedeutet nicht, alles gesehen, gemacht und geschafft zu haben, sondern etwas erlebt zu haben. Mit allen Sinnen, Zeit gefunden zu haben, etwas wirklich wahrzunehmen und nicht einfach nur daran vorbeizurennen. Viele Menschen können das heutzutage nicht mehr, sie sagen, dass sie keine Zeit hätten, ohne zu wissen, was Zeit eigentlich ist. Sie urteilen, ohne die Bedeutung zu kennen.“
Herr Ernik konnte dem Blick des Mannes nicht weiter standhalten.
„Menschen laufen über diesen Weihnachtsmarkt auf der Suche nach Geschenken oder Ähnlichem, doch niemand nimmt all das hier wahr, die Gerüche, die Farben, die Gefühle. Weihnachten bedeutet für sie nur Stress. Einzig und allein die Kinder, sie erleben Weihnachten, denn sie haben noch nicht das falsche Bild der Zeit kennengelernt. Sie erleben mit allen Sinnen und sie fühlen und freuen sich auf Weihnachten.“
Der Alte schaute wieder in seine Hand und endlich reichte er Herrn Ernik das Geldstück. Wortlos nahm dieser es an, er wusste keine Antwort, er wusste nur, dass der Mann etwas hatte, worum er ihn beneidete.
„Hören Sie“, Herr Ernik hatte die Sprache wiedergefunden, „ich lade Sie ein, Sie können doch bestimmt auch eine heiße Bratwurst vertragen.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, kaufte er zwei Bratwürste und gab eine davon dem Mann. Herr Ernik schaute sich um, atmete tief durch.
„Sie lernen dazu. Zeit zum Leben zu finden, ist eine Kunst“, sagte der Alte. „Frohe Weihnachten“, fügte er noch hinzu, bevor er sich umdrehte und ging.
Herr Ernik schaute ihm hinterher, seine Gedanken waren weit weg. Er sah den Alten durch die Menge laufen. Auch Herr Ernik bahnte sich seinen Weg. Er ließ den Weihnachtsmarkt hinter sich, stapfte durch den Schnee zu seinem Auto. Er hatte kein Geschenk gekauft, er hatte eines bekommen.
Noch immer hielt Herr Ernik die Bratwurst in der Hand.