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Karl-Heinz Ganser

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Der geklaute Weihnachtsbaum

In zwei Wochen war Weihnachten. Das erste Fest nach dem schrecklichen Krieg.

Ich war damals gerade elf Jahre alt und hoffte insgeheim, dass es nun richtige und große Geschenke geben würde. Aber als ich meiner Mutter den Zettel mit meinen Wünschen zusteckte, sah sie mich traurig an und schüttelte nur ihren Kopf. Der Krieg war zwar zu Ende, aber ich ahnte, dass sich für mich doch nicht viel geändert hatte.

Eines Abends unterhielten sich meine Eltern darüber, dass dieses Jahr wohl kein Weihnachtsbaum aufgestellt werden könnte. Rund um unser Dorf waren alle Wälder vermint und es war zu gefährlich, einen Baum zu schlagen.

Ich konnte mir aber nicht vorstellen, dass wir Weihnachten ohne einen Tannenbaum feiern sollten.

Mein Vater hatte mir einmal gesagt, dass Minen hochgehen, wenn man drauftritt. Daraus folgerte ich, dass ich mit meinem Gewicht als Elfjähriger bestimmt keine Mine zur Explosion bringen würde.

Ohne zu Hause etwas zu sagen, schlich ich mich einige Tage vor Heiligabend mit einer kleinen Säge in den nahe gelegenen Wald. Als ich von einem Seitenweg aus in eine zerschossene Schonung hineinging, sah ich zwar das große Schild mit der Aufschrift „Achtung Minengefahr!“, aber als ich ein wunderschönes kleines Fichtenbäumchen vor mir entdeckte, empfand ich keine Angst mehr. Vorsichtig kroch ich auf allen Vieren hin und sägte es ab.

Stolz wollte ich es gerade aufheben, da spürte ich plötzlich, wie eine harte Hand mich von hinten packte.

Erschrocken drehte ich mich um und blickte in das wütende Gesicht eines amerikanischen Soldaten. Er schimpfte und schrie in einer Sprache, die ich nicht verstand. Immer wieder zeigte er auf das Minenhinweisschild und redete ununterbrochen auf mich ein.

Heute weiß ich noch ganz genau, welche Todesangst ich damals ausgestanden habe. Ich stand regungslos da und starrte den Mann nur an. Als der Soldat schließlich zu seinem Jeep zurückging, dachte ich nur noch: „Jetzt holt er eine Knarre und erschießt dich.“

Doch wie verblüfft war ich, als er mit vier riesig großen Tafeln Schokolade zurückkam. Ich konnte es nicht fassen, was er jetzt tat. Mit Kordel band er die Schokolade an die Äste des Bäumchens. Schmunzelnd drückte er mir dann den geschmückten kleinen Baum in die Arme. Bevor er mit dem Geländewagen davonbrauste, hörte ich ihn noch in gebrochenem Deutsch „Frohe Weihnachten!“ rufen.

Wir haben zu Hause in den folgenden Jahren viele und herrliche Weihnachtsbäume gehabt. Das geklaute Bäumchen von Weihnachten 1945 aber wird für immer etwas Einmaliges bleiben.

Alle Jahre wieder

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