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Eleonore Nickolay
ОглавлениеDer Mantel
Als Kalle vom Klo kam, sah er den roten Mantel am Rande der Waschbeckenreihe auf der schmalen, gefliesten Ablage liegen, sorgfältig in der Hüfte gefaltet, so dass er nicht mit dem verdreckten Boden in Berührung kam. Draußen hatte sich der makellose Neuschnee bereits in klumpigen Matsch verwandelt, der in den tiefen Rillen der Wintersohlen festpappte, um schließlich in Räumen wie diesem hier schmutzigbraune Lachen zu hinterlassen.
Der Gedanke, den Mantel zu klauen, kam ihm augenblicklich. Sofort meldete sich eine innere Stimme, die er für die seiner Mutter hielt, obwohl er schon lange nicht mehr wusste, wie ihre Stimme klang. Sie sagte energisch, es sei doch völliger Unsinn, was er da vorhabe, konnte ihn aber nicht davon abhalten, sich in den folgenden Minuten so zu benehmen, als gehöre Diebstahl zu seinem Tagwerk. Vorsichtig begab er sich zum letzten Becken. Beim Händewaschen schielte er mit gesenktem Kopf mal nach rechts, um sich zu vergewissern, dass der Mantelbesitzer nicht erschien, mal nach links, um den Mantel genauer zu betrachten.
Es war keines dieser dünnen Filzexemplare, wie es sie zur Weihnachtszeit in jedem Billigladen zu kaufen gab. Nein, dieser hier war von bester Qualität, ein dicker, flauschiger Mantel; und der weiße Pelz an Kapuze und Ärmeln sah echt aus. Wem gehörte er bloß?
Der Besitzer könnte hinter einer der verschlossenen Türen sitzen. Kalle drehte sich zum Handtuchspender und zog ein sauberes Stück Tuch von der Rolle. Während er sich die Hände abtrocknete, lauschte er angestrengt nach typischen Toilettengeräuschen. Er konnte kaum glauben, dass jemand solch einen Mantel einfach vergessen konnte oder gar absichtlich liegen gelassen hatte. Unschlüssig schaute er in den Spiegel, als könnte sein Konterfei ihm Antwort geben. Kalle sah heute Morgen gut aus. Ausgeschlafen und rasiert wirkte er jünger, wenn auch nicht so jung, wie er tatsächlich war. Das Leben auf der Straße hatte ihn schneller altern lassen und es würde ihn, das wusste Kalle, auch früher sterben lassen. Aber die letzte Nacht hatte er in einer der Notunterkünfte zugebracht, hatte geduscht und gefrühstückt.
Wieder schielte er zum Mantel. Es wurde Zeit, sich zu entscheiden: Abwarten, ob der Mantelbesitzer tatsächlich nicht auf dem Klo war, oder das Stück jetzt schnappen und sofort verschwinden. Er entschied sich für Letzteres, schulterte seinen Rucksack und griff nach dem Mantel.
Wieder hörte Kalle eine Stimme, dieses Mal die seines Kumpels, da war er sich sicher. „Du Spinner!“, hörte er ihn sagen. Wäre Tom jetzt hier, er hätte brüllend gelacht. Aber er war letztes Jahr gestorben. Aus lauter Verzweiflung hatte Kalle sich damals der Winterkälte aussetzen wollen. Sich besaufen, einschlafen und nicht mehr aufwachen. Ein einfacher, ein sanfter Tod. Aber dann hatte Tauwetter eingesetzt und als später wieder lebensgefährliche Kälte herrschte, hatte ihn längst der Mut verlassen.
Als Kalle den Mantel an sich nahm, entdeckte er den dazugehörigen weißen Bart. „Wenn schon, denn schon“, dachte er und schlug ihn in den Mantel ein. Wieder hörte er das schallende Lachen seines toten Kumpels und musste selber grinsen. Dann stieg er mit dem roten Bündel unter dem Arm hinauf in die Fußgängerzone. Es war nach elf, zwei Tage vor Weihnachten und emsiger Betrieb. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Kalle stellte sich unter das vorstehende Dach eines Ladens und ließ die Menschen an sich vorbeiziehen. Die meisten sahen schlecht gelaunt aus. Kalle begriff das nicht. Sie waren unterwegs um Geschenke zu kaufen, hatten also genug Geld, eine Arbeit, ein Dach über dem Kopf, hatten Familie und Freunde.
Eine Verkäuferin trat aus dem Laden, hängte ein paar Herrenjacketts zu anderen auf einen Ständer und blickte streng zu ihm herüber. Lange konnte Kalle nicht mehr hier bleiben. Er kannte das. In ein paar Minuten würde der Herrenausstatter persönlich vor die Tür treten und ihn leise, aber bestimmt zum Gehen auffordern.
Diese Aussicht störte Kalle heute einmal nicht. Ihm war eine Idee gekommen. Er würde sich ein ruhiges Plätzchen suchen, am besten in der nächsten U-Bahn-Station, wo er den Mantel überziehen und den Bart anlegen würde. In einer solchen Verkleidung konnte er sich den ganzen Tag unbehelligt in einem warmen Kaufhaus aufhalten. Und sollte wirklich einer merken, dass er nicht dahin gehörte, würde er kurzerhand das Kaufhaus wechseln. Es gab ja genug davon in der Stadt.
Er war schon lange nicht mehr in einem Kaufhaus gewesen. Und jetzt fiel ihm auf, dass es viele solcher verschlossenen Orte für ihn gab. In kindlicher Vorfreude betrat Kalle das Kaufhaus. Die Wärme, die ihm entgegenschlug, überraschte ihn. Es war nicht die abgestandene Wärme aus den U-Bahn-Wagen, nicht die aus seinem Schlafsack, die seiner eigenen Ausdünstungen und es war nicht die sparsame Wärme aus der Notunterkunft. Die Wärme im Kauftempel mutete Kalle üppig an, verschwenderisch; und obwohl es von Menschen wimmelte, roch sie sauber, nach einem Hauch von guter Seife. Kalle kamen Erinnerungen aus der Kindheit. Das heiße Bad am Samstagnachmittag, die Wärmflasche unter der Bettdecke, der warme, weiche Druck der Lippen seiner Mutter, wenn sie ihm den Gute-Nacht-Kuss gab. „Jetzt nur keine Sentimentalitäten“, dachte Kalle, „die führen zu nichts außer zu einem Besäufnis.“
„Zur Verlosung, dritte Etage, Spielwarenabteilung“, säuselte plötzlich eine Verkäuferin neben ihm. Kalle erschrak. Offenbar hatte er schon viel zu lange dagestanden. Er machte eine linkische Handbewegung, die der Verkäuferin so etwas wie ein Danke signalisieren sollte und trottete brav in Richtung Rolltreppe. Wenn er nicht auffallen wollte, musste er in Bewegung bleiben, den Eindruck vermitteln, nach irgendwohin unterwegs zu sein. Er fuhr bis zur ersten Etage und fand sich in der Damenoberbekleidung wieder. Er ging vorbei an Röcken und Blusen, Westen und Mänteln, Hosen und Hüten. Er wusste ja, dass die Auswahl groß war. Er kannte das aus Schaufenstern und aus den Zeitschriften, die er bisweilen aus dem Abfall fischte. Aber so mittendrin zu stehen, verwirrte ihn nun doch. Die Frauen, die mit Kennerblick an den Ständern entlanggingen, lächelten ihm zu. Kalle war froh, dass der Bart den größten Teil seines Gesichtes verdeckte und niemand sah, wie er rot wurde. Seit Jahren hatten Fremde ihn nicht angelächelt. Zwei Mädchen kicherten, als sie ihn sahen. „Der Weihnachtsmann hat sich verlaufen“, meinte die eine zur anderen.
Kalle musste hier weg. „Die Spielwarenabteilung wäre vielleicht doch das Richtige“, dachte er und steuerte auf die Rolltreppe zu. Mütter mit Kindern kamen ihm entgegengefahren. Ein Kind winkte ihm zu und andere taten es ihm gleich. Kalle musste zurückwinken, wenn er nicht auffallen wollte. Die Freundlichkeit der Menschen machte ihn genauso sentimental wie die Wärme. „Kalle ist ein lieber Junge“, hörte er seine Mutter. „Er lebt, wie es ihm gefällt, aber er ist nie kriminell geworden.“ Das war ihre große Erleichterung gewesen. Mit dieser Tatsache hatte sie ihr Gesicht wahren können vor den Freundinnen und vor der Familie und vor allem vor der Familie ihres jüngeren, ihres gut geratenen Sohnes, der sein Studium nicht abgebrochen hatte.
Kalle betrat die Spielwarenabteilung. Vor ihm war ein Plüschtierafrika aufgebaut mit einem lebensgroßen Löwen, der als König der Tiere zwischen Giraffen, Elefanten, Tigern und Nashörnern thronte. Fotograf werden, die Welt bereisen und mit seinen Bildern berühmt werden. Kalles Träume waren groß gewesen. Jetzt stand er da, zwischen Kindern, die vielleicht genauso träumten wie er früher. Safari-Jäger, Rennfahrer, Geheimagent, Astronaut ... Als könnte man das Leben kaufen, wie man ein Spielzeug kauft.
Kalle erschrak. Jemand zupfte an seinem Mantel.
„Hast du Geschenke in deinem Sack?“, fragte ein kleines Mädchen und zum ersten Mal erntete er im Kaufhaus einen strengen Blick.
„Sei nicht so neugierig“, antwortete Kalle mit verstellter, tiefer Stimme. Er spürte, wie die Herumstehenden nach ihm schauten. Er hatte zu laut gesprochen und vielleicht auch zu böse geklungen. Ein Verkäufer bewegte sich aufs Plüschland zu. Es wurde Zeit, dass Kalle verschwand. Er drehte sich um und nahm die Rolltreppe nach oben.
In der vierten Etage roch es nach Essen. In der Cafeteria hatte sich eine kleine Schlange gebildet. Kalle sah, wie die Leute lässig ihre Tabletts weiterschoben, fast gelangweilt die Plexiglasdeckel hochklappten um sich ein Schälchen von diesem und ein Tellerchen von jenem zu nehmen. Das Essen war so bunt und einfallsreich angerichtet, als müssten die Leute zum Essen gelockt werden, wie sie zum Kaufen gelockt wurden. Kalle hatte Hunger und überlegte, ob er sich nicht wenigstens einen Kaffee gönnen sollte. Aber das wäre die reinste Verschwendung gewesen, konnte er doch in der Tagesstätte der Obdachlosen einen großen Becher Kaffee für 40 Cent bekommen. Noch dringlicher aber war, sich endlich einmal hinzusetzen. Kalle war es nicht gewohnt, so lange auf den Beinen zu sein.
Mutter und Kumpel Tom hatten recht gehabt. Es war eine verrückte Idee gewesen, den Mantel zu klauen. Nicht einmal betteln konnte er in dieser Verkleidung. Er könnte jetzt höchstens noch eine Gaudi bei den Kumpels draußen auf der Straße veranstalten. Wäre doch ein gutes Werk, so kurz vor Weihnachten die Kerle zum Lachen zu bringen. Aber die saßen in der Kälte und Kalle stand im Warmen und das wollte er nicht so schnell aufgeben. Es musste doch irgendwo ein Eckchen geben, wo er sich unbehelligt hinsetzen könnte. Er konnte ja nicht den ganzen Tag Rolltreppe fahren. Vielleicht sollte er es in der Schuhabteilung versuchen. Er könnte so tun, als ob er Schuhe anprobierte, aber er verwarf die Idee gleich wieder. Er hätte sich zu sehr geschämt, seine Schuhe auszuziehen. Und Bücher? Laut Anzeigentafel neben der Rolltreppe gab es Bücher und Zeitschriften in der dritten Etage. „Ab zu den Büchern!“, dachte Kalle, froh endlich ein Ziel zu haben.
In der dritten Etage war es inzwischen so voll, dass jeder damit beschäftigt war, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, und niemand auf den Weihnachtsmann achtete. Da stieß Kalle plötzlich mit einem „Kollegen“ zusammen.
„Mann, ich warte schon auf die Ablösung!“, fuhr er Kalle an.
„Ich muss noch aufs Klo“, war das Einzige, was Kalle als Erwiderung einfiel.
„Da, im Treppenhaus links, aber mach schnell, der Abteilungsleiter wird sauer“, antwortete der „Kollege“.
Gehorsam ging Kalle in die angegebene Richtung, fand das Treppenhaus und betrat den Toilettenraum. Er war allein. Müde setzte er den Rucksack ab und betrachtete sein Weihnachtsmanngesicht im Spiegel. Welcher Teufel hatte ihn geritten? Er zog die Kapuze herunter. Lächerlich sah er aus mit seinem grauen Borstenhaar und dem weißen Löckchenbart. Er nahm ihn ab und legte ihn auf die Ablage. Dann zog er den Mantel aus, legte ihn dazu, schulterte seinen Rucksack und verließ den Raum.