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Anne Frisch

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Die Bräute von Tobago

Ich war schon ziemlich erledigt, als wir eincheckten. Mit diesem Trubel hatte ich an einem 23. Dezember nicht gerechnet. Zu Hunderten tummelten sich die Reisewilligen in der Abflughalle; es brummte und summte wie in einem Insektenstaat und ich hatte alle Mühe, den Kleinen im Gedränge nicht zu verlieren.

Wenigstens waren wir jetzt unser Gepäck los. Noch drei Stunden bis zum Abflug, es hatte noch keine Eile, die Kontrollen zu passieren. Ich würde drei Kreuze schlagen, wenn der Flieger endlich abhob und Kurs auf die Karibik nahm.

Joschi entpuppte sich allerdings als Klotz am Bein. In dem Bemühen, sich im Gedränge möglichst dicht bei mir zu halten, klammerte er sich an meinem Rucksack fest, den ich nur locker über der Schulter trug. Dabei riss er ihn herunter und ich stolperte vor Schreck, weil ich dachte, jemand versuche ihn zu klauen.

„Lass das!“, schnauzte ich und Joschi blieb erschrocken stehen, womit er sofort einen Menschenstau hinter uns auslöste. Natürlich fuhr mir auch noch einer mit dem Gepäckwagen in die Hacken. Ich packte Joschi ziemlich unsanft am Arm, schubste ihn auf eine Bank, ließ mich auf den Platz neben ihm fallen und stellte mir einen seligen Augenblick lang vor, jetzt in einem Sessel der Business Class über den Wolken zu schweben. Alleine.

Allerdings musste ich zugeben, dass ich ohne Joschi vermutlich jetzt in meiner Stammkneipe auf ein paar Bier abhinge und nicht einmal wüsste, wo Tobago liegt, geschweige denn zwei Flugtickets nach dorthin in der Tasche hätte. Genauer betrachtet, hatte ich den spontanen Entschluss zu dieser Reise seiner Mutter zu verdanken, die mich vor einer Woche vor die vollendete Tatsache gestellt hatte, dass ich die Weihnachtstage mit unserem Sohn verbringen musste. Das war seit unserer Trennung noch nie der Fall gewesen, und damals war Joschi noch ein Baby. In den Jahren danach hatte Bille ihn über Weihnachten regelmäßig zu den Großeltern nach Bayern gebracht, wo er besser aufgehoben war als bei seinen Eltern, die ohnehin ein, sagen wir mal vorsichtig, gespaltenes Verhältnis zu den Festtagen hatten.

In diesem Jahr hatten Billes alte Herrschaften jedoch überraschend beschlossen, über Weihnachten mit einer Reisegruppe den Nil hinaufzuschippern. Bille ihrerseits war im Begriff nach Schweden abzureisen, wo sie sich mit ihrem neuen Typen fern jeder Zivilisation in die Einsamkeit verschneiter Wälder zurückziehen wollte. Diese Weihnachtsflucht gehörte bei ihr zum jährlichen Programm und ich hatte die Vermutung, dass es sich dabei einfach nur um eine Art alternativer Umgestaltung der Festtagstradition handelte. Letztlich hatte sie mit ihren Trips mindestens so viel Stress wie alle anderen, die auf konventionelle Weise feierten.

Heute Morgen stand sie auch schon ungeduldig an ihrem Auto, als ich eine halbe Stunde verspätet antrabte, um Joschi abzuholen. Sie verzichtete dieses Mal auf das übliche Gekeife wegen meiner Unpünktlichkeit, was dem Umstand zu verdanken war, dass der Neue bereits im Auto saß und hören konnte, was wir sprachen. Ich warf einen kurzen Blick hinein und sagte Hallo. Er trug eine dicke Lammfellweste mit Fransen, die strähnigen blonden Haare im Nacken zusammengebunden. Er hatte ohne Zweifel was von Kurt Cobain, wie Bille schwärmte, aber er schien mir doch ziemlich jung, zumindest etwas zu jung für sie.

Der Wagen war randvoll gepackt. Auf dem Rücksitz stapelten sich etliche Wolldecken. Ich dachte an die sonnigen 27 Grad Celsius, die mich erwarteten, und wünschte ihnen ohne jede Falschheit viel Vergnügen. Der alte Golf lag gefährlich tief, als sie um die Ecke bogen.

Schließlich wandte ich mich Joschi zu, der die ganze Zeit wortlos an der Haustür gestanden hatte und erst jetzt fiel mir auf, dass Bille sich nicht von ihm verabschiedet hatte. Er wirkte etwas verloren in seinem dünnen Anorak, ein wenig gelber Rotz zierte seine rot gefrorene Nase, als er unsicher zu mir hochsah. Ich boxte ihn zur Aufmunterung ein paarmal gegen die Schulter, schnappte mir seine kleine Reisetasche und zog ihn auf der Straße hinter mir her zur U-Bahn wie ein weiteres Gepäckstück.

Auf dem Weg zum Flughafen versuchte ich, ihn mit allerlei rosigen Aussichten auf die kommenden Tage aufzumuntern. Eingezwängt zwischen Menschen mit abgehetzten Gesichtern, die mit Händen und Füßen bemüht waren, ihre Tüten und Taschen festzuhalten, redete ich auf Joschi ein. Wir würden Schnorcheln in Wasser, so klar und blau wie der karibische Himmel, unter uns riesige Korallenriffe. Ich versprach ihm eine neue Taucherbrille und Flossen. Und natürlich eine Fahrt mit einem Glasbodenboot, wo wir Meeresschildkröten sehen würden, mit etwas Glück sogar Delfine oder kleine Haie.

Joschi begleitete meine Ausführungen mit eifrigem Nicken, als versuche er, bei einem entfernten Verwandten einen guten Eindruck zu hinterlassen. Seine Begeisterung schien gleich null zu sein. Ich beschloss, ihm etwas Zeit zu geben.

Auch jetzt saß er still neben mir auf der Bank und zog gedankenverloren den Reißverschluss seines Anoraks auf und zu.

„Lass das, Joschi“, sagte ich, „das Ding wird noch kaputtgehen.“

Er sah mich mit großen Augen an, überrascht über den autoritären Ton, den er von mir nicht gewöhnt war. Um ehrlich zu sein, er war kaum an Töne von mir gewöhnt, denn von den sechs Jahren, die er inzwischen auf diesem Planeten weilte, hatte er nur den geringsten Teil mit mir verbracht.

Bille und ich zogen es vor, uns aus dem Weg zu gehen. Die Idee mit der gemeinsamen Wohnung und dem Kind war ziemlich kurzlebig gewesen, entstanden im Rausch unserer Verliebtheit. Schon kurz nach Joschis Geburt hatten wir nur noch Streit.

Bille war ständig unausgeschlafen und zickig, meckerte wegen jeder herumliegenden Socke, verbot mir fernzusehen, weil das angeblich dem Kind schaden würde. Sie hatte aufgehört zu rauchen und ernährte sich von Weizengrütze und Milch bildendem Tee. Den ganzen Tag schleppte sie Joschi in einem Beutel vor ihrer Brust mit sich herum und jedes Mal wenn er schrie, und das tat er anfangs oft, sah sie mich vorwurfsvoll an und sagte: „Siehst du!“

Bis heute weiß ich nicht, was sie damit gemeint hat. Vielleicht die bloße Tatsache, dass ich sein Vater war und dies Grund genug zum Weinen war – ich zog jedenfalls noch vor Joschis erstem Geburtstag aus und Bille machte seither ihr Ding mit dem Kind alleine. Ab und zu holte ich Joschi ab und ging mit ihm auf Spielplätze oder ins Schwimmbad. Dort schaute ich mit leisem Neid den schreienden und tobenden Kindern zu, während er still neben mir auf der Parkbank saß und die Füße baumeln ließ. Kam er zu mir nach Hause, setzte er sich artig auf mein Bett und sah mich erwartungsvoll an. Ich schätze mal, als Vater war ich eine ziemliche Enttäuschung für ihn. Ich wusste einfach nicht, was ich mit ihm anfangen sollte. Nicht einmal fernsehen konnte ich mit ihm, denn Bille hätte mir den Kopf abgerissen, wenn sie es erfahren hätte. Fernsehen war ihrer Meinung nach geistige Vermüllung und kam in ihrer Liste der Erziehungsverbrechen wahrscheinlich noch vor Fastfood und Elektrospielzeug. Ich fühlte mich nach diesen Vatertagen stets als völliger Versager, und seit Joschi ganztags in den Kindergarten ging, waren sie immer seltener geworden.

Von plötzlicher Reue erfasst, sah ich jetzt auf den stummen Joschi herunter.

„Kumpel“, sagte ich milder „hör mal zu, es ist jetzt ein bisschen langweilig, aber bald sind wir in der Luft und dann“, ich pfiff leise durch die Lippen und machte dazu mit den Händen Flugbewegungen in der Luft, „landen wir auf Tobago und dann wirst du was sehen, was du noch nie gesehen hast. Weiße Strände, Palmen, braunhäutige, bunt gekleidete Menschen. Die singen und tanzen dort den ganzen Tag, das liegt ihnen im Blut, yeah, siehst du, so“, und ich trommelte mit beiden Händen auf meinen Schenkeln einen heißen Rhythmus, „yeah, yeah, dschubi du, yeah, dschubi du.“

Langsam kam ich wieder in Stimmung. Ich durfte mich von Joschis Spielverderbermiene nicht runterziehen lassen. Ich dachte an die scharfen Frauen, die ich auf den Fotos im Reisebüro gesehen hatte. Mann, es würde hoffentlich Gelegenheiten geben, die oft zitierte karibische Heißblütigkeit persönlich zu testen! Der Kleine war einerseits ein Hindernis, andererseits …

„Die Bräute in Tobago werden ganz heiß auf uns sein, Joschi“, sagte ich, die Hoffnung nicht aufgebend, ein Funken meiner Begeisterung würde überspringen, „die haben nur auf uns gewartet. Die sind doch ganz verrückt nach Kindern. Und wie sie dann erst auf den Papi stehen werden …“

Ich schwelgte eine Weile in der Vorstellung der Aufmerksamkeit, die ich als alleinreisender Vater bei Tobagos Frauenwelt erregen würde.

„Ich muss Pipi“, sagte Joschi.

Aus meinen Träumen gerissen, stand ich widerstrebend auf und kämpfte mich mit ihm ein weiteres Mal durch die Massen. Im Korridor bei den Toiletten angekommen, strebte Joschi zu meinem Erstaunen zielstrebig Richtung Damentoilette. Vor der Tür musste ich ihm erst erklären, dass ich dort nicht einfach hineinmarschieren konnte. Er verschwand schließlich ohne mich.

Ich seufzte. Klar, dass Bille mit ihrem Putzfimmel einen Sitzpinkler erzogen hatte. Bei der nächsten Gelegenheit warf ich einen kurzen Blick in die geöffnete Toilettentür. Was ich sah, war eine Ansammlung von Frauen, die vor den Kabinen Schlange standen und ebenso viele, die sich vor den Waschbecken und Spiegeln drängten und mittels unterschiedlicher Stifte und Pinsel an ihren Gesichtern herumretuschierten. Weiber! Und mittendrin mein Sohn. Es wurde wirklich höchste Zeit, dass ich mich mehr um die männlichen Belange seiner Erziehung kümmerte. Die erste Lektion würde sein, ihm das Pinkeln im Stehen beizubringen.

Es dauerte ziemlich lange. Mein Magen fühlte sich leer an, schließlich war es inzwischen später Nachmittag. Ich musste gähnen. Die diversen Düfte, die in regelmäßigen Abständen aus den Toiletten wehten, wirkten wie eine leichte Narkose. Ich lehnte mich gegen die Wand und schloss die Augen. Über mir schwebte ein Klangteppich aus Lautsprecherstimmen wie ein neuzeitlicher Himmelschor. Noch gut zwei Stunden bis zum planmäßigen Abflug. Ich versuchte, wieder an die karibischen Verlockungen zu denken.

Als Joschi endlich an meinem Hosenbein zupfte, war er noch blasser um die Nase als zuvor. Wir fuhren mit der Rolltreppe eine Etage höher zu den Ladenpassagen, um uns die Zeit zu vertreiben. Oben lehnten wir uns über das Geländer und sahen zu, wie unter uns die Menschen an den Check-in-Schaltern Schlange standen. Mich überkam die Lust zu winken. Wir bummelten weiter, betrachteten andächtig einen gewaltigen Weihnachtsbaum, dessen bunte Lichter in einem nervösen Stakkato zuckten. In meiner Schläfe begann ein leichter Schmerz rhythmisch mitzupochen. Draußen vor den riesigen Fenstern peitschte ein heftiger Wind Schneeregen durch das graue Licht der Dämmerung.

Joschi flüsterte etwas, was ich nicht auf Anhieb verstand. Ein Blick in sein grünes Gesicht aber genügte, um den Weg zu den nächsten Toiletten in Sekundenschnelle zurückzulegen. Dieses Mal bremste ich nicht vor der Tür ab, sondern quetschte mich hinter meinem Sohn in die drangvolle Damentoilette, wo dieser sich würgend über das erstbeste Waschbecken beugte. Unzählige Frauenhände mit gezückter Wimperntusche hielten irritiert inne, als Joschi ziemlich hässlich rülpsend ein grüngelbes Rinnsal ausspuckte. Ich stand neben ihm, unfähig mich zu rühren.

Als er mit tränennassen Augen den Kopf hob, herrschte ratlose Stille, bis eine grauhaarige Dame beherzt den Wasserhahn öffnete, das Becken säuberte und dem zitternden Kind den Mund mit kaltem Wasser abwusch.

Ich versuchte gar nicht mehr, einen kompetent väterlichen Eindruck zu hinterlassen, sondern schnappte Joschi am Arm und floh wortlos mit ihm hinaus in die Halle, wo wir nach einigem Herumirren zwei freie Sitzplätze ergattern konnten. Er war noch immer grau im Gesicht, aber wenigstens nicht mehr grün. Unter seinen Augen lagen schwarze Schatten, auf seiner kleinen Stirn standen Schweißperlen. Er knetete ein Papierhandtuch zwischen den feuchten Händen und zupfte geistesabwesend Fetzen davon ab, die zu Boden segelten wie lautlose Hilferufe. Ich zog ein Sweatshirt aus dem Rucksack, das ich mir für den nächtlichen Flug eingepackt hatte, und er ließ es sich widerstandslos über den Kopf ziehen.

„Joschi“, fragte ich, „was hast du heute Morgen gegessen?“

Er zupfte weiter ohne zu antworten.

„Joschi“, sagte ich noch einmal etwas eindringlicher und beugte mich näher zu ihm hin, „sag mir bitte, was du heute gegessen hast.“

„Nichts“, flüsterte er heiser, „es war nichts mehr da, weil Mama meinte, dass es verdirbt, wenn wir weg sind. Und dass du dich um mein Essen kümmerst.“

Es waren die längsten zusammenhängenden Worte, die er an diesem Tag gesagt hatte.

Ich erhob mich und ging ein wenig auf und ab. Mit dem knielangen Gewand sah Joschi aus wie ein rumänisches Bettelkind. Gleich würden die ersten Geldstücke vor seinen Füßen liegen.

Ich versuchte nach draußen zu sehen, erblickte aber in der Scheibe nur einen schlaksigen Mann mit Rucksack und Dreitagebart. Ich dachte daran, dass Joschis Mutter auf dem Weg war in ein Land, das er noch nicht mal auf der Landkarte finden würde, ebenso wenig wie das, in dem seine Großeltern auf einem Schiff herumfuhren und auf Kamelen reitend Weltwunder bestaunten. Und sein Vater war mit ihm auf dem Weg auf eine Insel, die ihm so fern sein musste wie der Mond.

Ich hatte ihn gar nicht gefragt, ob er nach Tobago fliegen wollte. Ich war einfach davon ausgegangen, weil ich es cool fand. Tobago war mir eigentlich egal, ich wollte nur weg, weil ich nicht der Verlierer sein wollte, der sich Weihnachten zu Hause mit seinem Kind langweilte.

Dabei hatte ich nicht mal daran gedacht, dass er etwas zu essen brauchte. Meinem Sohn war schlecht, er hatte Hunger und er fror. Und morgen war Weihnachten.

Ich war wirklich ein krasser Fall für die Super Nanny.

Der Entschluss fiel dann so leicht wie die dicken Schneeflocken, die inzwischen vor dem Gebäude tanzten. Okay, zwei Taschen würden jetzt ohne ihre Besitzer Kurs auf die Karibik nehmen. Auf diese Weise kamen wenigstens unsere Badehosen dorthin.

„Joschi“, sagte ich, „ich hab’s mir überlegt. Ich glaube, ich möchte Weihnachten doch lieber zu Hause feiern.“

Sein Blick war ziemlich verwirrt, als ich ihn vom Sitz hochzog und zügig mit ihm Richtung Ausgang steuerte. Ehe wir das Gebäude verließen, ging ich in die Knie und zog ihm die Kapuze seines Anoraks sorgfältig über den Kopf, während ich auf ihn einredete.

„Was hältst du von einem richtigen Weihnachtsabend? Nur wir zwei. Wir können uns etwas kochen, meine selbst gemachte Pizza ist geradezu berühmt. Wir können uns einen Film ausleihen und nach der Bescherung einen gemütlichen Fernsehabend machen. Und einen Baum gehen wir kaufen, einen richtigen Weihnachtsbaum. Gleich morgen nach dem Frühstück. Aber jetzt besorgen wir uns erst einmal etwas Ordentliches zu essen, okay?“

Joschi krächzte noch immer ein wenig vom Würgen.

„Aber was ist mit den Frauen in den weißen Kleidern, die auf uns warten?“, fragte er bang und ich stand erst mal kurz auf der Leitung, ehe ich begriff.

„Ach so, diiieee“, sagte ich locker, „vergiss sie. Vergiss die Bräute von Tobago. Die können warten, bis du groß bist.“

Wir rannten durch das Schneetreiben zum nächsten Taxi und als wir durch die abendlichen Straßen der Stadt fuhren, hatte Joschi schon wieder etwas Farbe auf den Wangen. Vielleicht war es auch nur der Widerschein des weihnachtlichen Lichterglanzes, aber sein Lächeln, das sah ich deutlich, das war echt.

Alle Jahre wieder

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