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8 Ist das Asperger-Syndrom eine Krankheit? Hajo Seng
ОглавлениеIn diesem Kapitel wird die bereits an mehreren Stellen des Buches aufgeworfene Frage, ob das Asperger-Syndrom als Krankheit begriffen werden sollte oder nicht, aus der Perspektive eines autistischen Menschens thematisiert.
Es gibt durchaus Zeiten, in denen ich mich krank fühle; aber die meiste Zeit fühle ich mich gesund. Daher stoße ich mich regelmäßig an einem Sprachgebrauch, der suggeriert, dass ich krank wäre, weil ich autistisch bin. Und zwar zu jeder Zeit, weil ich ja auch zu jeder Zeit autistisch bin. Tatsächlich wird der Krankheitsbegriff in unterschiedlicher Weise gebraucht. So wird er bisweilen im Sinne einer Abweichung von einer Norm verwendet. Eigentlich aber bezeichnet Krankheit eine Normabweichung, die auf Veränderungen des körperlichen oder geistigen (Norm-)Zustandes zurückzuführen ist; etwa in dem gängigen medizinischen Referenzlexikon Pschyrembel. Das heißt, wer krank ist, muss schon einmal gesund gewesen sein oder – zumindest hypothetisch – gesund werden können. Ansonsten wäre Behinderung und nicht Krankheit die richtige Bezeichnung.
Ist Autismus ist nach diesem Verständnis als Krankheit anzusehen? Ist es zumindest hypothetisch möglich, von Autismus zu gesunden? Dass Autismus sich nicht erst im Lauf eines Lebens entwickelt, ergibt sich aus den Diagnosekriterien. Die Beantwortung einer solchen Frage wird sich vermutlich deutlich unterscheiden, je nachdem, ob sie aus einer autistischen oder einer nicht-autistischen Perspektive heraus beantwortet wird. Meine Perspektive ist eine autistische und hieraus stellt sich auch gleich die folgende Frage:
Ist Autismus etwas, was zur eigenen Persönlichkeit hinzukommt, oder etwas, was mit ihr von vornherein untrennbar verbunden ist?
Mitte der 1990er-Jahre verdichtete sich in mir sozusagen ein Berg von Puzzle-Teilen, die ich bis dahin mein Leben lang angesammelt hatte, zu einem Bild mit einem Titel: Autismus. Bereits als Kind war mir klar, dass in meinem Leben irgendetwas grundlegend nicht stimmte, und ich begab mich schon früh auf die Suche danach, was dies wohl sein könnte. Das Thema Autismus begegnete mir in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre in zweierlei Hinsicht: Als (schwerstbehinderte) autistische Kinder, die ich auf Freizeiten betreute, und als Rückmeldung, die ich von einigen meiner Arbeitskolleginnen und Bekannten erhalten hatte: „Du kommst mir irgendwie autistisch vor“. Als ich das auf mich beziehen konnte, hatte ich mit einem Mal eine Erklärung für viele Fragen, die ich an mich und mein Leben stellte – im Alter von 32 Jahren. Dass ich so lange brauchte, um dies zu erkennen, hat nicht nur damit zu tun, dass ich mich erst zu dieser Zeit mit dem Thema Autismus befasste.
Es hat auch damit zu tun, dass „mein Autismus“ meine sämtlichen Lebensbereiche betrifft und prägt: Mein Denken und Fühlen genauso wie meine Wahrnehmungen, meine Erinnerungen und überhaupt die Art und Weise, wie ich in dieser Welt lebe. Das Asperger-Syndrom ist als Behinderung auch für Asperger-Autisten nahezu unsichtbar. Es ist ein Anders-Sein, das aber so tief greifend und erklärungsbedürftig ist, dass ich als Kind bereits die Vorstellung hatte, ich müsste einer anderen, nicht menschlichen, Spezies angehören und mich versehentlich auf einem „falschen Planeten“ befinden. Meine Überraschung war groß, als ich erfuhr, dass Janet Norman-Bain in den 1990er-Jahren den Ausdruck „Wrong Planet Syndrome“ für das Asperger-Syndrom bekannt gemacht hat. Sich wie auf einem falschen Planeten gestrandet zu fühlen, scheint geradezu charakteristisch für das Asperger-Syndrom zu sein.
Überhaupt war es für mich eine gewöhnungsbedürftige Erkenntnis, dass im Grunde genommen alles, was mich ausmacht, davon geprägt ist, autistisch zu sein. Das zeigte sich vor allen Dingen darin, wie viele unauffällige, alltägliche Eigenheiten ich mit anderen autistischen Menschen gemeinsam habe. Ende 1995, zu einer Zeit, als ich gerade erst angefangen hatte, mich mit dem Thema Autismus zu befassen, schrieb ich:
„Autismus ist absolut. Es ist kein Merkmal, kein irgendwie anderes, das in mich eingetreten wäre, was mich befallen hätte, keine Krankheit, kein Zustand: Es bin ich.“
Genau das ist es, was ich mit dem Kriterium „tief greifende Entwicklungsstörung“ verbinde, tief greifend in dem Sinne, dass es nahezu alle Bereiche und Aspekte des eigenen Daseins betrifft.
Mir ist zwar seit meiner Kindheit klar, dass in meinem Leben etwas nicht stimmt, aber es ist für mich auch schon immer klar gewesen, dass es dabei um mein Verhältnis zu meiner Umwelt geht. Und dies lässt sich in zwei Richtungen auflösen: Dass der Fehler bei mir liegt, oder eben in meiner Umwelt; es kann natürlich auch beides der Fall sein.
In meiner Jugendzeit war ich mir sicher, dass es an meiner Umwelt liegen musste; erst später, nachdem ich die Erfahrung gemacht habe, dass in sehr verschiedenen sozialen Umgebungen immer wieder ähnliche Probleme auftauchten, begann ich, den Fehler bei mir zu suchen. Ich habe mich selbst nie als in irgendeiner Weise defekt wahrgenommen. Im Gegenteil: Der Umstand, dass ich über offensichtlich überdurchschnittlich ausgeprägte kognitive Fähigkeiten verfüge, ist nur schwer mit dem Bild einer geistigen Behinderung in Einklang zu bringen. Am Ende war es das Bild einer überwiegend als soziale Behinderung in Erscheinung tretenden geistigen Behinderung, die mit überdurchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten einhergeht, das mich Mitte der 1990er-Jahre zu meiner „Selbstdiagnose“ als autistisch brachte.
Als Fazit meiner Erfahrungen mit meinem Autismus lassen sich also zwei grundlegende Aspekte darstellen: Zum einen ist Autismus untrennbar mit meiner Persönlichkeit und meinem Leben verbunden – ein Leben ohne ist für mich überhaupt nicht vorstellbar – zum anderen ist ein autistisches Erleben der Welt in sich stimmig und funktionierend. Die Probleme treten fast nur im Kontakt mit anderen (nicht-autistischen) Menschen auf; sie werden vor allen Dingen ausschließlich in solchen sozialen Situationen für mich selbst erkennbar.
Einige Jahre nach meiner „Selbstdiagnose“, die inzwischen von einem Psychologen als Verdachtsdiagnose bestätigt wurde (eine qualifizierte Diagnose erhielt ich erst einige Jahre später), begegnete ich anderen Asperger-Autisten. Beim Austausch meiner Erfahrungen mit ihnen fielen mir nicht nur die vielen Gemeinsamkeiten auf, die wir miteinander teilten. Mir fiel auch auf, dass ich in einem autistischen Umfeld die Kommunikation anders wahrnahm und auch selbst darin anders kommunizierte. Die Kommunikation mit anderen autistischen Menschen erlebe ich als deutlich barrierereduziert im Vergleich zum Gewohnten. Diese Erfahrung, die auch andere autistische Menschen in ähnlicher Weise erleben, verleitet nicht Wenige zu dem Gedanken, dass Autismus in einer autistischen Welt womöglich gar nicht als Behinderung in Erscheinung treten würde. In meiner 2021 erschienenen Dissertation konnte ich gut herausarbeiten, dass autistische Menschen nicht selten vergleichbare Erfahrungen mit ihresgleichen machen.
Autismus zwischen Behinderung und Begabung
Um sich der Frage zu nähern, was Autismus eigentlich ist, empfinde ich es als hilfreich, sich sozusagen den Wurzeln zuzuwenden und nachzuvollziehen, was Leo Kanner und Hans Asperger in ihren Texten aus den 1940er-Jahren unter Autismus verstanden haben. Hier gibt es insbesondere zwei Aspekte, die keineswegs trivial erscheinen: Zum einen beschreiben – aller Unterschiedlichkeiten zum Trotz – beide weitgehend dasselbe, was inzwischen dazu geführt hat, dass die Trennung zwischen Kanner- und Asperger-Syndrom nicht mehr als sinnvoll angesehen wird. Die Unterschiede in den Fallbeschreibungen der beiden Autoren scheinen vielmehr darauf zurückzuführen zu sein, dass beide ihre Fälle auf unterschiedliche Weise gefunden hatten: Leo Kanner als Kinder, deren Eltern sie im frühkindlichen Alter aufgrund von deutlichen Bindungsstörungen zu einem Psychiater gebracht hatten, Hans Asperger als Kinder mit deutlichen Problemen bei der Einschulung und in der Schule. Zum anderen ist es auch keineswegs einfach einzusehen, dass die unterschiedlichen Symptome zusammen tatsächlich ein Ganzes, ein Syndrom, darstellen. Für das Asperger-Syndrom hat dies Uta Frith in ihrer Anfang der 1980er-Jahre erschienenen Monografie erörtert.
Dennoch fassen beide Autoren mit erstaunlicher Sicherheit die von ihnen beschriebenen Symptome zu etwas zusammen, das sie mit dem Begriff autistisch belegen. Beide ließen sich dabei im Wesentlichen von vier Aspekten leiten:
grundlegende Störungen der Kommunikation und sozialen Interaktion,
auffällige und ungewöhnliche Fähigkeiten und Interessen,
ein mehr oder weniger ausgeprägter Hang zu Routinen und stereotypen Handlungen und
eine gute Prognose (in einem günstigen sozialen Umfeld)
Es hat sich in den nachfolgenden Jahrzehnten gezeigt, dass diese vier Aspekte tatsächlich hinreichen, Autismus zu charakterisieren.
Allerdings haben sich die Forschungen und auch Diagnosemanuale weitgehend an den Störungen der Kommunikation und Interaktion und an den Routinen und Stereotypien orientiert, was aber zu einer Unschärfe des Autismusbegriffs geführt hat, die inzwischen zu einem echten Problem sowohl in der Forschung als auch in der Diagnostik geworden ist. Dabei spielten sowohl für Leo Kanner als auch für Hans Asperger die Fähigkeiten und Interessen, sowie auch eine gute Prognose über die Lebensspanne, eine mindestens ebenso wichtige Rolle – die Prognose insbesondere, um Autismus von psychischen Störungen abzugrenzen, die ähnliche Symptome aufweisen können, etwa aus dem schizophrenen Formenkreis.
Diese Spannung zwischen (sozialer) Behinderung und ungewöhnlicher Befähigung durchzieht nicht nur das gesamte Autismus-Spektrum, von Menschen, die aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten eine echte Chance auf einen Platz in der Gesellschaft jenseits von Behinderteneinrichtungen haben, bis zu denen, bei denen nicht ansatzweise an eine solche Integration zu denken ist. Diese Spannung durchzieht auch jeden autistischen Menschen selbst: den intellektuell Begabten, der sich immer wieder sozusagen am Abgrund zu einer unselbstständigen Existenz als „Behinderter“ wiederfindet, ebenso wie den Schwerstbehinderten, nicht Sprechenden, der sich aufgrund seiner – oft von außen gar nicht wahrgenommenen – Intellektualität durchaus etwas anderes vorstellen könnte, als von anderen Menschen abhängig zu sein.
Ich habe bis zu einem Alter von etwa zehn Jahren sehr in meiner eigenen Welt gelebt, in der ich ganz für mich war, in der es keine anderen Menschen gab und in der ich daher mein Anders-Sein auch nicht wirklich wahrgenommen habe: Wie konnte ich „anders“ sein, wenn ich der einzige war? Das hat auch dazu geführt, dass ich bei meiner Einschulung als nicht schulfähig galt und zunächst in eine Sonderschule kam – obwohl ich zu dieser Zeit nicht nur lesen und schreiben konnte, sondern auch bereits eine Vorliebe für das Rechnen entwickelt hatte. Auch aufgrund dieser frühen Fähigkeiten wechselte ich dann in die Regelgrundschule. Die gesamte Grundschulzeit war davon geprägt, dass ich mit den inhaltlichen Anforderungen keine Probleme hatte (abgesehen vom Sport), dafür aber mit dem Rahmen: Die Klassenräume zu finden, Lehrer wie Schüler wiederzuerkennen, Unterrichtszeiten einzuhalten, Pausen, Freundschaften etc. – das funktionierte alles nicht richtig.
Erst als ich mit etwa zehn bis zwölf Jahren begann, Menschen wahrzunehmen und Kontakt mit ihnen aufzunehmen, fiel mir mein eigenes Isoliert-Sein auf. Interessanterweise ahnte ich zu jener Zeit schon, dass es einen Zusammenhang geben musste zwischen dieser Isolation und dem Umstand, dass ich mir mühelos die schulischen Inhalte aneignen konnte. Schließlich unterschied auch das mich von den anderen, dass mir sozusagen „zuflog“, wofür andere hart arbeiten und lernen mussten. Dieser Zusammenhang zwischen sozialer Behinderung und Begabung entschlüsselte sich mir aber erst, als mir klar wurde, dass ich autistisch bin. Zu dieser Zeit, mit Anfang Dreißig, hatte ich dieses Spannungsverhältnis auch gelebt, indem ich Mathematik studierte und das Studium durch heilpädagogische Arbeit finanzierte, bei der ich es auch mit autistischen Kindern und Jugendlichen zu tun hatte. Mit Kindern und Jugendlichen allerdings, die nicht sprachen, mit denen ich mich aber – ohne Ausnahme – ausgesprochen gut verstand.
Behinderung besteht immer als Behinderung in Bezug auf ein bestimmtes Umfeld, eine bestimmte Umgebung oder Situation. Dieses Umfeld kann durchaus die gesamte Gesellschaft sein, aber es sind oft konkrete Umgebungen und Situationen, die Menschen ihre Behinderungen mehr oder weniger deutlich spüren lassen. Soziale Behinderungen treten dabei insbesondere in sozialen Situationen in Erscheinung. Autistische Menschen haben durch die Wahl ihres Umfelds eine nicht zu unterschätzende Möglichkeit, ihren Autismus eher als Begabung als als Behinderung erscheinen zu lassen – sofern sie dazu in der Lage sind, ihr Umfeld zu wählen. In der Praxis geht man auch als „klassischer“ Asperger-Autist zahlreiche Kompromisse ein. So kann ich mich manchmal als außerordentlich begabt erleben und nur kurze Zeit später, in einer anderen Situation, als deutlich behindert.
Hier schließt sich eine recht grundlegende Fragestellung an:
Stellt Autismus eine Abweichung von einer Norm dar oder ist er vielmehr Teil einer (natürlichen) Streuung des „Menschlichen“?
In meiner Dissertation kann ich nicht nur zeigen, dass viele autistische Menschen sich selbst eher als Variation wahrnehmen. Es wird auch deutlich, dass Autismus durch ein Spektrum spezifischer Denkstile charakterisiert ist, deren Entwicklung stark von biografischen Faktoren abhängt. Aber auch neurobiologische und genetische Befunde legen nahe, Autismus als einen Aspekt des Menschseins zu verstehen.
Wie diese Frage am Ende beantwortet wird, hängt stark von dem zugrunde liegenden Menschenbild ab: Wie wird Menschsein im Hinblick auf seine Vielfältigkeit verstanden? Die Auseinandersetzung mit Autismus und autistischen Menschen kann dabei durchaus als eine Herausforderung verstanden werden, gängige Vorstellungen darüber, was Menschen sind oder sein sollten, zu überdenken. Auf autistischer Seite würde es zumindest für eine gewisse Entspannung sorgen, gäbe es eine allgemeine Anerkennung eines Rechts auf Autistisch-Sein.