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TOD BEI GAIS

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FELIX METTLER

Schleierwolken bedeckten den Himmel, dennoch hatte Valerie eine dunkle Brille auf. Sie ging der Hauptstrasse entlang – in der rechten Hand fünf weisse Rosen. Mit der linken strich sie immer wieder ihr langes schwarzes Haar zur Seite, das ihr der Fahrtwind der vorbeibrausenden Autos ins Gesicht wehte. Das Ortsschild von Gais hatte sie vor wenigen Minuten passiert, als sie bei der gesuchten Stelle ankam. Diese war nicht zu übersehen: Zwei Laternenmasten waren geknickt, das Geländer der schmalen Brücke, die zu einem Bauernhof führte, teilweise weggerissen. Hinunterschauen zum Rotbach, wo sich der zerschellte Wagen möglicherweise immer noch befand, mochte Valerie nicht. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie ihren Strauss zu den bereits vorbeigebrachten Blumen legte. Auch zwei rote Kerzen standen da. Von wem sie wohl stammen?, fragte sich Valerie. Kennengelernt hatte sie Philipp vor zwei Jahren in Teufen bei einem morgendlichen Kaffee. Da keine Zeitung mehr verfügbar gewesen war, hatten sie sich eine geteilt. Das war der Beginn ihrer Freundschaft gewesen. Obwohl nie eine nähere Beziehung zwischen ihnen entstanden war, hatten sie vertrauensvoll auch über private Dinge gesprochen. Sie waren einfach füreinander dagewesen. Dass dies nun Vergangenheit war, wollte Valerie nicht wahrhaben.

Einem Bericht der Appenzeller Zeitung war zu entnehmen, dass man rätselte, weshalb der Wagen von der Strasse abgekommen sei. Es hatten gute Verhältnisse geherrscht, und nach der Aussage des nachfolgenden Fahrers habe es an jener Stelle keinen entgegenkommenden Verkehr gegeben. Auch soll der Mann – Philipp Angerer – nicht gerast sein, seit Bühler sei der Abstand zwischen ihnen gleich geblieben. So wurde ein technischer Defekt in Betracht gezogen, doch auch eine Fehlmanipulation des Fahrers konnte nicht ausgeschlossen werden. Für unwahrscheinlich hielt man einen Sekundenschlaf, zumal der Unfall am Morgen auf dem Arbeitsweg nach Appenzell – Angerer lebte in Teufen – geschehen war.

Er könnte einer Katze ausgewichen sein, dachte Valerie. Sie wusste um Philipps Tierliebe. Dass er, wie sie in der Zeitung gelesen hatte, nicht angeschnallt war, verwunderte sie nicht. Bei gemeinsamen Fahrten hatte sie ihn gelegentlich auf die Gurten aufmerksam gemacht.

Kurz nachdem sich Valerie auf den Rückweg nach Gais gemacht hatte, fuhr ein Polizeiwagen langsam an der Unglücksstelle vorbei. Wachtmeister Pirmin Köchli, seit zwölf Jahren im Polizeidienst, schüttelte den Kopf. «Unverständlich», murmelte er vor sich hin. Köchli war vor kurzem vierzig geworden. Er hatte einen kantigen Kopf mit kurzem, dunklem Haar und war von sportlicher Gestalt.

«Hast du ihn gekannt?», fragte sein Kollege, Gefreiter Edi Tobler, der neben ihm sass. Er war jünger, rotgesichtig, untersetzt und mit deutlichem Bauchansatz.

«Wir haben uns gelegentlich im Fitness-Center getroffen und auch mal in der Garderobe miteinander geplaudert.» Nach kurzem Schweigen fügte Köchli hinzu: «War ein feiner Kerl.» Es klang wie ein Seufzer.

«Er soll Arzt gewesen sein.»

«Ja! Er hat an der Privatklinik Schönbüchel in Appenzell gearbeitet. Vor drei Jahren ist er aus Afrika zurückgekehrt, wie er mir erzählt hat. War in Äthiopien für die Organisation ‹Ärzte ohne Grenzen› tätig. Kürzlich hat er im Lindensaal einen Vortrag über das Land und seine Arbeit dort gehalten.»

«Ein eigenartiger Unfall. Und keine Gurten. Man muss sich fragen, ob es nicht Absicht gewesen sein könnte.»

«Kann ich mir nicht vorstellen. Wenn schon, dann gäbe es doch gerade für einen Arzt andere Möglichkeiten. Oder glaubst du, er würde auf diese Art ein Leben im Rollstuhl riskieren?»

«Warum sind denn keine Spuren zu sehen? Er hat gar nicht gebremst», wandte Tobler ein.

«Wahrscheinlich ging alles zu schnell. Es braucht nur Bruchteile einer Sekunde, wenn er …»

«Kennst du die Frau, die da geht?», unterbrach ihn Tobler. «Sie scheint von der Unfallstelle zu kommen.»

«Ich hab sie schon gesehen.» Köchli runzelte die Stirn, kniff die Augen zusammen. «Genau. Im Café neben unserem Posten. Ich glaube gar, dass sie mit Doktor Angerer dort war. Eine attraktive Frau.»

«Sie muss ihn gut gekannt haben, dass sie zur Unfallstelle gekommen ist. Sollen wir sie …?»

«Nein», sagte Köchli schnell, «nicht jetzt. Warten wir mal, was die weiteren Untersuchungen der Gerichtsmedizin und der Kriminaltechnik ergeben. Zudem steht die Besichtigung von Angerers Wohnung noch aus. Man wartet auf seinen Bruder. Soll im Tessin leben.»

«Wohin geht’s nun?», fragte Tobler.

«Zurück zum Posten. Gern würde ich mich am Arbeitsplatz des Toten umsehen, um mir ein besseres Bild von ihm zu machen. Doch das müssen die Innerrhoder übernehmen. Leider. Und für ein Rechtshilfegesuch reicht die Begründung kaum.»

«Das heisst, du schliesst Fremdverschulden nicht aus?» Und auf Köchlis Schulterzucken hin: «Denkst du wirklich, es könnte eine Manipulation vorliegen?»

«Nicht eigentlich. Trotzdem würde ich gern mehr über das Umfeld des Arztes erfahren. Ich kann ja versuchen, einen Kollegen anzuspitzen. Ich denke da an einen Sportsfreund aus Appenzell.»

«Zuletzt wird man das Ganze als Selbstunfall abhaken müssen», sagte Tobler. Mit einer Handbewegung tat er kund, dass ihm das vertiefte Interesse für den Fall fehlte.

«Für jeden Unfall gibt es einen Grund.» Köchli klang bestimmt. «Auch wenn es nur eine Unaufmerksamkeit war, irgendeine. Vielleicht wegen einer Wespe im Wagen. Wer weiss das schon?»

«Und wie will man so etwas je beweisen können?»

«Da hast du recht.»

Drei Tage vergingen, ohne dass der Fall irgendwelche Klärung erfuhr. Am Wagen, einem VW Golf, wurde kein technischer Defekt festgestellt, und im Blut des Verunglückten fanden sich keine verdächtigen Spuren. Zudem meldete Tobias Kaufmann – der Innerrhoder Kollege, den Köchli um Beistand gebeten hatte –, der Verunglückte habe keine Probleme am Arbeitsplatz gehabt. Der Chefarzt der Klinik Schönbüchel habe jegliche fachliche oder persönliche Unstimmigkeit verneint.

Dann aber folgte eine Überraschung. Was ihnen Samuel Angerer übermittelte, entbehrte nicht einer gewissen Brisanz: Eine Immobilien-AG habe den Eingang eines Briefes bestätigt, worin sein Bruder die Kündigung der Wohnung eingereicht habe. Auf den nächstmöglichen Termin. In Philipps Unterlagen habe er zudem die Bestätigung der Post für einen zweiten eingeschriebenen Brief gefunden, berichtete Samuel Angerer weiter. Dieser sei gleichzeitig abgesandt worden und an einen Doktor Rudolf Hiestand in Appenzell gerichtet gewesen.

Pirmin Köchli schluckte leer. So hiess der Chefarzt der Klinik, wie er von Tobias Kaufmann vernommen hatte. Da Köchli zudem von seinem Innerrhoder Kollegen erfahren hatte, dass Doktor Hiestand seit kurzem in Stein wohnte und demnach in seine Zuständigkeit fiel, fühlte er sich geradezu zur Detektivarbeit gedrängt. Was lag näher, als dass es sich auch bei jenem Brief um eine Kündigung handelte? Köchli lächelte bei dem Gedanken, wie er das Gespräch mit dem Arzt beginnen würde, ohne zu einer Lüge Zuflucht suchen zu müssen. Es bliebe diesem nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen. Und sollte Köchlis Vermutung zutreffen, hätte Hiestand auch zu erklären, weshalb er Kaufmann gegenüber Angerers Kündigung verschwiegen hatte.

Zur vereinbarten Zeit – es war früher Nachmittag – läutete Wachtmeister Köchli an der Tür des Einfamilienhauses in Stein. Offensichtlich war es gerade erst fertiggestellt worden, die Gartenarbeiten waren noch im Gang. Drinnen begann ein Hund zu bellen, und kurz darauf öffnete Frau Hiestand die Tür, begrüsste Köchli und liess ihn eintreten. Dabei hielt sie den heftig wedelnden Tibet Terrier – Köchli hielt ihn für einen Mischling – am Halsband zurück. Gewiss der Einzige, der hier Freude über mein Kommen zeigt, ging es dem Wachtmeister durch den Kopf. Einen Moment später trat der Hausherr hinzu. Doktor Hiestand, eher kleingewachsen, mit Stirnglatze und Brille – Köchli schätzte ihn auf fünfzig –, bat den Polizeibeamten ins Zimmer, aus dem er gerade gekommen war. Die Bücherwand wies es als Arbeitsraum aus.

«Bring uns doch bitte einen Kaffee», sagte er zu seiner Frau. Und zu Köchli gewandt: «Sie nehmen doch auch einen?»

«Gern.»

«Kommen wir also zur Sache», begann der Arzt, nachdem er dem Gast einen Stuhl angeboten hatte. «Wie ich Sie verstehe, geht es nochmals um den Unfall von Philipp Angerer.»

«Als wir seine Wohnung durchgesehen haben, sind wir auf ein Kündigungsschreiben gestossen.» Das betretene Schweigen seines Gegenübers bestätigte Köchli in seiner Vermutung.

«So ist es.» Nach einer weiteren Pause fügte Doktor Hiestand hinzu: «Dann wissen Sie auch, dass er in dem Brief keinen Grund für die Kündigung genannt hat.»

Köchli überlegte schnell, ob er zugeben sollte, dass er den Inhalt des Briefes nicht kannte. Er verzichtete darauf. «Sie haben doch gewiss mit ihm über den Grund seines Entschlusses gesprochen?»

«Noch nicht.»

«Das wundert mich aber. Er war schliesslich …»

Ein Klopfen an der Tür liess Köchli innehalten. Frau Hiestand brachte ein Tablett mit dem Kaffee. Sie stellte es zwischen den Männern ab. «Bitte bedienen Sie sich», sagte sie zu Köchli, «hier sind Rahm und Zucker.»

Während der Polizeibeamte etwas Rahm in seinen Kaffee goss, sagte der Chefarzt: «Natürlich hatte ich vor, mit Philipp zu sprechen, doch die Gelegenheit dazu hat sich noch nicht ergeben. Und jetzt …» Hiestand zuckte die Schultern.

… ist es zu spät, vervollständigte Köchli in Gedanken den abgebrochenen Satz. «Ist etwas Bestimmtes vorgefallen, das Doktor Angerer zur Kündigung veranlasst haben könnte?»

«Nichts, das mir bekannt ist.»

Nach einer Pause, in der beide ihre Tassen zum Mund führten, sagte Köchli: «Mich erstaunt nur, dass Sie meinem Kollegen Kaufmann gegenüber diese Kündigung nicht erwähnt haben.»

«Ich kann mir keinen Zusammenhang mit dem Unfall vorstellen», entgegnete Doktor Hiestand kopfschüttelnd.

«So kennen wir also weder den Grund für seine Kündigung noch den für seinen Unfall.» Köchli sprach dies leise vor sich hin, so, als wäre es nur ein ausgesprochener Gedanke.

«Philipp Angerer soll kürzlich gesagt haben, er wäre wohl besser in Afrika geblieben. Ich musste demnach in Betracht ziehen, dass er vorhatte, dorthin zurückzukehren.»

«Den Grund für diese Bemerkung kennen Sie nicht.»

«Nein!»

«Ich verstehe, und Sie verstehen gewiss, dass ich jeder Spur nachgehe. Und dass Doktor Angerer bei dem Unfall einem Tier ausgewichen ist, wie auch schon vermutet wurde, ziehe ich erst in Betracht, wenn alle andern möglichen Ursachen ausgeschlossen sind.»

Auf der Rückfahrt machte sich Köchli Gedanken über das, was er von Doktor Hiestand erfahren hatte. Dass dieser nach der Kündigung nicht gleich mit seinem Mitarbeiter gesprochen hatte, machte ihn stutzig. Und die Vermutung, dieser könnte nach Afrika zurückkehren wollen, klang für ihn doch zu sehr nach Ausrede. Beim Posten in Teufen angekommen, erhielt Köchli den Bescheid, Kollege Kaufmann aus Appenzell habe ihn gesucht und um Rückruf gebeten.

Gleich nach der Begrüssung kam Kaufmann zur Sache. «Es dürfte dich interessieren, was ich gerade von meiner Nichte erfahren habe. Pia macht eine Ausbildung zur Physiotherapeutin und arbeitet zurzeit in der Klinik Schönbüchel.»

«Oh! Insiderwissen kann immer nützlich sein.» Köchlis Interesse war nicht zu überhören.

«Sie hat mich angerufen, nachdem sie, zufällig, wie sie sagt, von meinem Besuch gehört hat. Und nach einer Bemerkung der Chefsekretärin wusste sie auch, in welcher Angelegenheit ich dort war.»

«Ich höre.»

«Pia hat mir mitgeteilt, es gebe seit kurzem ein Gerücht, das Doktor Angerer betrifft. Er soll sich der Krankengymnastin gegenüber ungebührlich verhalten haben. Nach Pia sind die beiden zuvor freundschaftlich miteinander umgegangen, auch privat. Sie selbst habe sie einmal zusammen in einem asiatischen Lokal in St. Gallen gesehen, wo sie sich offensichtlich sehr gut unterhalten hätten.»

«Weisst du, wie diese Frau heisst?»

«Moment», sagte Kaufmann. «Ich habe mir den Namen notiert.» Und nach einigen Augenblicken: «Da. Ich hab’s: Anina Wagner.»

Köchli wiederholte den Namen leise, während er ihn notierte.

«Sie soll zwei Wochen in der Toskana zugebracht haben. Auf Einladung eines reichen Patienten, wie gemunkelt wird, der dort eine Villa besitzt. Nach ihrer Rückkehr sei sie Doktor Angerer ausgewichen, ja, sie habe ihn kaum mehr gegrüsst. Und daraufhin sei das erwähnte Gerücht aufgekommen.»

«Ein Gerücht nennt es Pia. Das heisst, sie selbst zweifelt an der Anschuldigung?»

«So ist es. Sie schliesst ein solches Verhalten des Arztes aus, und dabei sei sie nicht die einzige. Doktor Angerer habe sich jedem gegenüber stets zuvorkommend gezeigt. Die Art dieser Frau Wagner dagegen sei von überschwenglicher Freundlichkeit, wobei, wie Pia es sieht, viel Schauspielerei dabei sein muss, denn hintenherum töne es oft anders. Ihre Unterstellung habe den Doktor ernst werden lassen. Seine üblichen lustigen Bemerkungen seien danach ausgeblieben.»

«Das heisst nichts anderes, als dass die Atmosphäre im Haus vergiftet war», warf Köchli ein.

«Kann man wohl sagen. Auf meine Frage, ob Doktor Hiestand diese Verstimmung mitbekommen habe, meinte Pia, dass sie das annehme. Zumal er kürzlich bei der Klinikfeier keinen Grund für Angerers Abwesenheit angegeben habe. Sie fand das sonderbar.»

«Passt irgendwie ins Bild. Denn nicht nur das hat der Chefarzt verschwiegen. Seit einer Stunde weiss ich, dass er dir gegenüber auch Angerers Kündigung unerwähnt liess.»

«Was!» Erstaunen lag in Kaufmanns Ausruf. «Aha, so ist das!»

«Ja, so ist das. Er hat wohl geglaubt, dass diese Angelegenheit mit dem Tod des Kollegen vom Tisch ist.»

«Und weisst du, warum Angerer gekündigt hat?»

«Eben nicht. Doch was du gerade berichtet hast, stimmt mich nachdenklich. An der ganzen Geschichte scheint etwas faul zu sein. Warum in aller Welt verheimlicht dieser Doktor Hiestand solch klare Fakten?»

«Könnte das mit dieser Anina Wagner zu tun haben? Übrigens hat Pia gesagt, sie könne mir ein Foto von der Frau geben, falls ich es wünsche.»

«Könnte nützlich sein», meinte Köchli. «Wer weiss?»

«Du kriegst das Bild in den nächsten Tagen zugesandt. Es ist deine Sache.»

«Gewiss. Du weisst, der Todesfall bei Gais wurde inzwischen als Unfall mit unbekannter Ursache klassiert. Und es gehört nicht zu meinen Pflichten herauszufinden, was genau dahintersteckt. Doch es interessiert mich nun mal persönlich, da ich den Mann gekannt habe. Für deine Information bin ich dir jedenfalls dankbar. Ich habe keine Ahnung, ob ich der Sache damit auf die Spur komme. Sollte sich aber etwas ergeben, was über eine Vermutung hinausgeht, werde ich dich informieren. Ich würde es übrigens schätzen, wenn du unser Gespräch vertraulich behandeltest.»

«Aber klar. Übrigens, beim nächsten Fussballturnier stehe ich wieder auf der Gegenseite.»

Lächelnd ob dieser Bemerkung legte Pirmin Köchli den Hörer auf. Und während er sich einige Notizen machte, fragte er sich, ob er Kollege Tobler in die neuesten Entwicklungen einweihen sollte. Da er Zweifel an dessen Verschwiegenheit hegte, liess er es. Er wollte nicht, dass seine Ermittlungen in dieser Sache bekannt wurden.

Es war eine schlichte Feier auf dem Friedhof von Teufen. Viel mehr als zwei Dutzend Leute hatten sich nicht eingefunden. Wohl weil der Verstorbene noch nicht lange in der Gemeinde ansässig war, legte sich Köchli zurecht, der in sicherem Abstand die Menschen am Grab beobachtete. Er wollte das Aufkommen eines weiteren Gerüchts vermeiden. Der Bruder des Verstorbenen hielt gerade eine Ansprache. Einige Anwesende mochten Mitarbeitende der Privatklinik sein – er sah das Ehepaar Hiestand –, Anina Wagner befand sich, wie erwartet, nicht unter ihnen. Sie wäre Köchli aufgefallen. Er hatte inzwischen jene Aufnahme erhalten, die sie an Angerers Seite zeigte. Vermutlich aufgenommen bei einer früheren Klinikfeier, zu einer Zeit, in der sie sich sichtlich gut verstanden hatten: Die blauäugige Blondine suchte auf dem Bild unübersehbar die Nähe des Arztes.

Unter den Trauernden war auch jene Frau, die sich vor Tagen von der Unfallstelle entfernt hatte. Köchli erhoffte sich von einem Gespräch mit ihr, mehr über Philipp Angerers Wesen zu erfahren. Ein zweites Mal mit Doktor Hiestand zu sprechen, hielt er trotz dessen fragwürdigem Verhalten für zwecklos. Offensichtlich war es dem Chefarzt entgegengekommen, dass sein Kollege beabsichtigt hatte, die Klinik zu verlassen. Dieses Wissen genügte Köchli vorerst.

Am Samstagnachmittag der folgenden Woche kam es in einem Modegeschäft in der St. Galler Altstadt zu einer überraschenden Begegnung. Jene Frau, die Pirmin Köchli gern gesprochen hätte, deren Namen er aber nicht kannte, kam auf ihn zu, um nach seinem Wunsch zu fragen. Er hatte den Laden betreten, um sich nach einem Geburtstagsgeschenk für seine Frau umzuschauen. Während ihn Frau Heller – wie er auf ihrem Namensschild las – freundlich bediente und ihm nach einigen Fragen zu einem seidenen Halstuch riet, überlegte sich Köchli, wie er ihr nach dem Kauf auf zurückhaltende Weise sein Anliegen unterbreiten könnte.

«Darf ich Sie noch etwas Persönliches fragen, Frau Heller», versuchte es Köchli, als sie das Geschenk einpackte, für das er etwas mehr ausgelegt hatte als geplant.

«Wie Sie möchten», sagte Valerie Heller mit einem fragenden Lächeln.

«Sie haben Doktor Angerer gut gekannt, nicht wahr?» Köchli sah, wie die Fröhlichkeit augenblicklich aus ihrem Gesicht wich. «Ich habe Sie an der Unfallstelle gesehen.»

«Ja», sagte sie leise, «ziemlich gut.»

Pirmin Köchli tat es leid, mit seiner Frage Traurigkeit in ihre dunklen Augen gebracht zu haben. «Köchli ist mein Name. Ich bin Polizeibeamter in Teufen und hatte mit dem Unfall zu tun. Eigentlich habe ich es noch immer. Daher möchte ich gern mit Ihnen über Philipp Angerer sprechen.»

«Aber nicht hier.» Sie nahm ein weisses Taschentuch hervor – eines mit Spitzen, wie Köchli auffiel –, um die feucht gewordenen Augen abzutupfen.

«Nein, natürlich nicht. Entschuldigen Sie bitte meine direkte Frage.»

«Schon gut. Sie können mich anrufen. Ich wohne in Gais.»

«Ich danke Ihnen.» Köchli streckte ihr zum Abschied die Hand hin.

Mein Abstecher in die Stadt hat sich gelohnt, sagte sich der Polizeibeamte auf der Rückfahrt nach Teufen, und zwar in jeglicher Hinsicht. Und zum Bild, das man sich zwangsläufig von einem Menschen macht, kam die Erkenntnis, dass sich Doktor Angerer offensichtlich gern mit gutaussehenden Frauen abgegeben hatte.

Am folgenden Donnerstagmorgen traf sich Köchli mit Valerie Heller zur vereinbarten Zeit im Café beim Gaiser Bahnhof. Sie setzten sich an einen Ecktisch, um ausser Hörweite der anderen Gäste zu sein.

«Ich danke Ihnen, dass Sie bereit sind, mir Auskunft zu geben», begann Köchli das Gespräch.

«Gern, wenn ich Ihnen damit behilflich sein kann.»

Die junge Frau schien ihm gefasst. «Sie sind meine letzte Hoffnung, etwas Licht in diese unglückselige Angelegenheit zu bringen.»

«Was möchten Sie denn wissen?»

«Können Sie mir sagen, ob sich das Verhalten von Doktor Angerer in letzter Zeit verändert hat?»

«Das kann man wohl so ausdrücken. Er litt sichtlich unter dem, was sich um ihn herum abspielte.»

«Sie meinen die üble Nachrede, die, wie ich vernommen habe, von einer Klinik-Mitarbeiterin ausgegangen ist.» Auf ihr Nicken hin fragte Köchli: «Kennen Sie diese Frau Wagner?»

«Nein, nicht wirklich. Ich habe sie mal kurz mit Philipp getroffen, als sie zusammen im ‹Falken› beim Essen waren.»

«War sie seine Freundin?»

«Nicht eigentlich. Sie hätten sich einfach gut verstanden, hat mir Philipp gesagt. Sie hätten die gleichen Interessen und deshalb gelegentlich etwas zusammen unternommen. Ich weiss von Theaterbesuchen. Weiter aber ging die Freundschaft nicht. Und wie ich Philipp verstand, war es beiden recht so.»

«Konnte er sich erklären, was die Frau veranlasst hatte, plötzlich schlecht über ihn zu sprechen?»

«Nein. Philipp meinte, sie müsse ein riesengrosses Problem mit sich herumtragen. Ein Problem mit sich selbst. Und nun könnte etwas vorgefallen sein, das sie nicht mehr habe verkraften können. Weil es aber nicht ihre Art sei, je die Schuld bei sich selbst zu suchen, sagte Philipp, müsse er wohl als Sündenbock herhalten. Dafür sprechen auch Unterstellungen, die offenbar weit zurückreichen, in eine Zeit, in der alles noch in Ordnung schien.»

«Könnte das mit jenem Mann zu tun haben, der sie in die Toskana eingeladen hat?»

«Das wissen Sie also auch schon. Es war Philipps Vermutung. Genaueres aber wollte er gar nicht wissen.»

«Warum hat er nicht Klage wegen Rufschädigung eingereicht?»

«Philipp meinte, das sei sinnlos, da Aussage gegen Aussage stände. Und wie er sie kannte, gehörte Ehrlichkeit nicht gerade zu ihren Stärken.»

«Ich verstehe. Können Sie mir mehr über Doktor Angerer erzählen, über sein Wesen?»

«Er war zuvorkommend. Zu jedermann. Immer hilfsbereit.»

Als Valerie ihr Taschentuch hervornahm, das nach Köchli so gut zu ihrer eleganten Erscheinung passte, dachte er sich, dass sich so auch Angerers Einsatz in Äthiopien erklären liess.

«Er war ein angenehmer Unterhalter», fuhr Valerie fort, nachdem sie sich eine Träne weggewischt hatte, «liebenswürdig, immer einen flotten Spruch auf den Lippen, der meist geistreich war, manchmal ironisch, aber gewiss nie verletzend. Nein, es ergibt einfach keinen Sinn, dass er dieser Frau gegenüber ausfällig geworden sein soll.»

«Sie glaubten ihm vorbehaltlos?»

«Absolut. Zudem hat diese Anina seine eindringlichen Bitten, sich doch mit ihm auszusprechen, ignoriert. Philipp ging immer von einem Missverständnis aus. Ihr Verhalten sagt doch genug aus?»

«Wie ich Sie verstehe, haben diese Vorkommnisse Doktor Angerer zu schaffen gemacht.»

«Er hat es zu überspielen versucht, doch die Folgen konnte er nur schwer ertragen. Solche Wunden heilen langsam, wenn überhaupt, weil sie immer wieder aufgerissen werden. Zumal Anina …»

«Die Folgen?», fragte Köchli, als Valerie Heller innehielt. «Heisst das, dass ihn weniger das Ende der Freundschaft mitnahm, als vielmehr die Schädigung seines Rufs?»

«Ihn bedrückte, dass sich Leute wegen dieser Anwürfe von ihm abgewendet haben, selbst Leute, mit denen er zuvor freundschaftlichen Umgang pflegte. Er schloss daraus, dass ihm diese Menschen ein solch hässliches Verhalten zutrauten. Über diese Enttäuschung kam er nur schwer hinweg.»

Köchli nickte, als wollte er sagen: Das passt ins Bild.

Als Valerie auf die Uhr schaute – sie fuhr mit der Bahn zur Arbeit –, rief Köchli nach der Bedienung. «Noch etwas», sagte er, bevor sie weggingen. «Was ich von Ihnen erfahren habe, ist für mich so etwas wie eine Bestätigung. Einiges aber wird dennoch rätselhaft bleiben.» Er dachte an die Aussagen von Doktor Hiestand oder vielmehr an das, was dieser verschwiegen hatte.

«Und was für mich bleibt», sagte Valerie beim Abschied, «ist die Überzeugung, dass Philipp einer Katze ausgewichen ist.»

Köchli schaute ihr nach, wie sie leichten Schrittes zum Bahnhof ging. In dieser Vorstellung mag ein wenig Trost stecken, sagte er sich. Wahrscheinlich aber ist es eine andere Katze, der er ausgewichen ist. Eine falsche Katze! Bei diesem Gedanken hatte er das Bild vor Augen, das er aus Appenzell erhalten hatte.

Köchli war in der folgenden Woche mit seinem Kollegen Edi Tobler unterwegs, um auf der Strecke nach Haslen einen Sachschaden aufzunehmen, als vor ihnen zwei Frauen mit Walkingstöcken die Strasse überquerten.

«Aha!», entfuhr es Köchli.

«Was ist?» Tobler schaute ihn fragend an.

«Nichts weiter», wich Köchli aus. «Ich bin nur überrascht, die Damen zusammen unterwegs zu sehen.»

«Kennst du die beiden denn?»

«Ja und nein. Ich hatte vor gewisser Zeit mit ihnen zu tun», antwortete Köchli, «in einer eher banalen Angelegenheit.»

«Immer diese verdammten Baustellen», schimpfte Tobler, als sie kurz danach vor einem Rotlicht warten mussten.

Kaum von der Arbeit zurück, rief Pirmin Köchli seinen Kollegen Kaufmann an.

«Hallo, Tobias. Ich glaube, nun den Grund zu kennen, warum Doktor Hiestand seinem Kollegen Angerer in der Klinik nicht beigestanden ist und warum er dir die Vorkommnisse in der Klinik verschwiegen hat.»

«Da bin ich aber gespannt.»

«Die Frau des Chefarztes scheint mit dieser Anina Wagner befreundet zu sein. Ich habe sie zusammen beim Walking gesehen. Was meinst du dazu?»

«Was soll ich dazu sagen?»

«Für mich schliesst sich damit ein Kreis. Ich denke mir, dass sich Doktor Hiestand in einer Zwickmühle befunden hat. Er stand vor der Entscheidung, wer in dieser unseligen Angelegenheit Täter und wer Opfer ist. Das heisst, er hatte Stellung zu nehmen für die eine oder den andern. Und so, wie es jetzt aussieht, ist er bei seinem Richterspruch unter häuslichem Einfluss gestanden.»

«Glaubst du wirklich, dass dies etwas mit dem Unfall zu tun hat?», fragte Tobias Kaufmann mit hörbarer Verwunderung.

«Ich stelle mir das so vor: Angerer ist während seiner Fahrt zur Arbeit all das, was ihm widerfahren ist, hochgekommen. Auch seine Kündigungen, die ihm nun voreilig erschienen. Gemäss der Aussage einer Frau, die ihn gut gekannt hat, war Doktor Angerer ein anständiger und empfindsamer Mensch. Die Verletzung, die ihm durch das Gerücht zugefügt wurde, hatte ihm arg zugesetzt. Während der Fahrt zur Arbeit könnte er die Situation pötzlich als unlösbar empfunden haben. Und so kam es zu einer Kurzschlussreaktion.»

«Also doch Selbstmord!»

«Nein», entgegnete Pirmin Köchli bestimmt. «Einen Selbstmord hätte Angerer gewiss anders geplant. Das muss eine spontane Aktion gewesen sein. Schon zehn Sekunden später wäre es vielleicht nicht mehr dazu gekommen. Nein! Nach allen Indizien ist das für mich im wahrsten Sinn des Wortes: ein Rufmord.»

Mord in Switzerland

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