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ERZÄHLEN ALS SUCHE UND UNTERSUCHUNG

EDGAR MARSCH

«Mord in Switzerland» bietet einen faszinierenden Einblick in die Schweiz und ihre Kriminalliteratur. In jeder Geschichte wird eine Landschaft vorgestellt mit ihren Menschen, deren Mentalität, Problemen und Schwächen, den regionaltypischen Orts- und Eigennamen, den Sitten, den sprachlichen Eigenheiten.

Die hier von Mitra Devi und Petra Ivanov vorgelegte Sammlung zeigt – für den literarischen Werkplatz Schweiz – einen auffallend hohen Pegelstand, in Qualität wie in Zahlen. Die Produktion von Kriminalerzählungen ist vom bescheidenen Rinnsal beinahe zur Flut angeschwollen, ohne dass dieses gewaltige Wachstum der Qualität einen Abbruch getan hätte. Der neuere literarische Kriminalroman der Schweiz setzte in den 1970er-Jahren ein und gewann in den 80er-Jahren an Kraft mit Autoren wie Alexander Heimann, Sam Jaun, Ulrich Knellwolf, Werner Schmidli, Hansjörg Schneider, Martin Suter und Peter Zeindler. Die Gattung boomt heute regelrecht.

Zartbesaitete versus Hartgesottene, schichtenspezifisches Publikum und gattungsspezifische Leserinnen und Leser – solche Sortierungen gelten längst nicht mehr. Es ist bemerkenswert, dass – auch und vor allem in der Schweiz – viele Frauen als Autorinnen in die Fussstapfen von Dorothy L. Sayers und Agatha Christie getreten sind. Dabei steht längst nicht mehr ausschliesslich das Verbrechen im Mittelpunkt. Genauso wichtig sind heute die Frage nach der Gerechtigkeit und das Schicksal von Menschen, die durch Ausbeutung, Misshandlung und Unterdrückung in Bedrängnis oder sonst an den Rand der Gesellschaft geraten sind, wie beispielsweise in den Geschichten von Anne Cuneo oder Jutta Motz.

Das Vorurteil gegenüber Krimis als typisch «männliche Literatur» ist längst widerlegt worden. Genauso ist auch das mit dem einfachen Schema zusammenhängende Vorurteil minderwertiger Unterhaltungsliteratur nicht mehr aktuell, das ungefähr 100 Jahre lang, bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts, in der Literaturkritik bestimmend war. Längst ist die Kriminalerzählung aus dem löchrigen Mantel eines Clochards der seichten Literatur herausgeschlüpft, hat sich unter den respektierten Gattungen Rang und Ansehen erkämpft und ist seriöser Forschungsgegenstand an den Hochschulen geworden.

Erfahrene Krimileserinnen und -leser werden in Peter Hännis «Dinosauriersteak» das klassische Modell erkennen: Ganz am Anfang ereignet sich der Mord, der Täter ist unbekannt. Ein Detektivduo nimmt die Ermittlungen auf. Die Detektive sammeln Informationen, kombinieren sie und erörtern die Ergebnisse. Leserinnen und Leser werden als Zeugen der Dialoge am Aufklärungsprozess beteiligt. In Karin Bachmanns «Fokus» stehen nicht Detektive, sondern Jugendliche im Mittelpunkt. In Philipp Probsts «Tod im 36er» wird zu Beginn ebenfalls eine Leiche gefunden. Hier ist es eine Journalistin, die Anhaltspunkte sammelt, bis die Tat geklärt ist. Probst nimmt die Geschichte als Anlass, um aktuelle Probleme in der Gesellschaft zu erörtern: Rassismus, Hooliganismus, Bankdatendiebstahl. Genauso ist in Christina Casanovas Geschichte «Der Flachwichser» nicht die Tat selbst das Kernthema; zentral sind die Konflikte, Abgründe und Untiefen im sozialen Beziehungsnetz rund um das Opfer. In Sam Jauns und Alice Gabathulers Erzählungen hingegen spielen die Familienbeziehungen eine wichtige Rolle.

Ein anderes Schema weisen die Geschichten auf, in denen die Täter als Menschen zugänglich werden. In Michael Herzigs «Tschingg» sowie Petra Ivanovs «Späte Rache» kommt die Steuerung der Leser-Sympathie fast einer Umpolung gleich: Die Täter sind nicht mehr die Bösewichte, die von den Guten eliminiert werden, damit die Welt wieder in Ordnung ist. Mitleid entkräftet das Sühnebedürfnis. Am Schluss wird das Opfer verurteilt. Auf ironische Art und Weise wird diese Tendenz zur «Entschuldung» der Täter auch in Susy Schmids «Heute abend in F.» deutlich.

Neuere Kriminalerzählungen setzen zunehmend auf die Frage, was denn Schuld eigentlich sei und wer der oder die eigentlich Schuldige. Dort, wo Täterbiographien im Erzählen berücksichtigt werden, findet eine Art «Humanisierung» der Gattung statt. Auf die «Entmenschlichung» der Täter und Täterinnen wird verzichtet und dafür ihr Schicksal beschrieben. Dabei kann sich die für den klassischen Krimi zentrale Frage «Who dunnit?» (Wer hat die Tat begangen?) völlig verflüchtigen. Emil Zopfis lyrisch-melancholische Erzählung «Tod am Tödi» setzt sogar bei einem Unglücksfall an.

Die wahrscheinlich wichtigste Abweichung gegenüber früheren Kriminalromanen stellt der veränderte Blickwinkel in vielen Geschichten dar: Parallel zur Aufklärungsgeschichte oder mit ihr verwoben findet ein sozialgeschichtlicher oder sozialpolitischer Diskurs statt. Die neueren Autoren und Autorinnen sind bei der Konzeption ihrer Geschichten nicht durch einen engen Tunnelblick bestimmt, sondern öffnen den Blickwinkel und schauen «nach links und nach rechts». Sie loten Umstände, Untiefen, gesellschaftliche Ungereimtheiten, soziale Konflikte, Ungerechtigkeiten, Ausbeutung und Missbrauch aus und befreien so die Verbrechenserzählungen aus der abgeschotteten Laborsituation. Sie stellen sie in einen greifbaren und begreifbaren gesellschaftlichen Rahmen. Die meisten Erzählungen dieser Anthologie folgen diesem neuen Trend, den übrigens Friedrich Glauser schon vorexerziert hat.

Herzigs Pankratius Föhn ist ein abschreckendes Beispiel modernen Unternehmertums. Die Figur ist bestimmt durch ein Übel, das verbreitet auftritt: Ressentiments gegenüber ausländischen Arbeitnehmern, aggressive Fremdenfeindlichkeit, ja Fremdenhass, mit einer Neigung zu sexueller Ausbeutung von Abhängigen. Andrea Weibels berührende Geschichte «Helm – in Blau» handelt von Alma aus Wien, die als Altenpflegerin in der Fremde unterwegs ist und nun in Stans arbeitet. Die ansässige Bevölkerung unterstellt der «kleinen Wienerin», dass sie zu viel trinke, alte Menschen ausnütze, beraube, beerbe und dass diese ihr dann «unter den Händen wegsterben». In Felix Mettlers «Tod bei Gais» wird ein junger Arzt psychisch unter Druck gesetzt.

Einige der Geschichten der Sammlung geben sich verschmitzt, augenzwinkernd. Das kann beim Blick in die Abgründe des Bösen befreiend und entlastend wirken. Wenn die Darstellung dessen, was in der Kriminalerzählung abstösst, ängstigt, erschreckt oder erschüttert, durch die ironische Haltung des Erzählers entkräftet wird, dann gewinnen auch die Leserinnen und Leser gegenüber dem Erzählten befreiende Distanz. Der melodramatische Racheakt, den eine Opernsängerin in Peter Zeindlers «Königin der Nacht» plant, endet ganz anders als erwartet. Auch die Pläne des Täters in Helmut Maiers «Reinfall am Rheinfall» entwickeln sich in eine andere Richtung. In Mitra Devis «Luzern – Chicago» kommt Ironie schon im Gegeneinander der beiden Schauplätze zum Ausdruck. Ironisch wirkt auch der distanziert beobachtende Erzähler. Von Anfang an weiss er alles über das Missgeschick der Hauptfigur. Die Erzählung beginnt mit den Worten: «Zwei Stunden vor dem ersten und letzten Mord, den Julia je in ihrem Leben begehen würde …» In Milena Mosers «Wie-ein-Mensch» setzt die Geschichte mit den überraschenden Worten einer Frau ein, die von ihrem Ehemann daheim in Aarau umgebracht worden sein soll. In Susy Schmids «Heute abend in F.» entlädt sich ironisches Potenzial nicht im Erzählten, sondern in der Beziehung zwischen der Erzählerin und dem Leser. Die Spannung, die in der Geschichte zum Ende hin aufgebaut wird, löst sich in einem befreienden Lachen.

Bei manchen Erzählungen wird sich die Leserin, der Leser die Frage stellen: Ist das noch eine Kriminalerzählung? Sind das noch Kriminalgeschichten? Sie sind es. Sie legen ein Zeugnis dafür ab, wie wandlungsfähig die Gattung ist. Und diese Wandlungsfähigkeit ist auch ein Garant ihrer langen Lebensdauer.

Mord in Switzerland

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