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WIE-EIN-MENSCH

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MILENA MOSER

Vancouver Island, heute

«Das darf doch nicht wahr sein! Der Idiot hat mich umgebracht!» Amanda liess die Zeitung sinken. Sie war über eine Woche alt. Die Meldung stand auf der Aufschlagseite des Lokalteils: «Fatales Ehedrama in Aarauer Kunstszene».

Aarau, vor über einer Woche

«Was meinst du, was die Häuser hier kosten?» Markovic schaute aus dem Fenster. Das Villenviertel lag im Dunkeln. Gisiger antwortete nicht. Er versuchte, auf dem Bildschirm des neu installierten Navigationssystems die Strasse zu finden, aus der der Notruf gekommen war.

«Meine Frau ist tot!»

Meine leider nicht, hatte Gisiger gedacht, sich aber sofort für diesen Gedanken geschämt. Wer dachte so etwas. Und noch dazu ein Polizist! Gisiger fand es in letzter Zeit immer schwieriger, seine Gedanken zu kontrollieren.

«Ich glaub, ich weiss, wo es ist», sagte Markovic jetzt. «Ich geh hier oben im Wald immer joggen.»

Die Strasse endete in einem Kehrplatz. Gisiger wendete den Wagen und fuhr langsam zurück. Joggen könnte helfen, dachte er. Den Kopf leeren beim Laufen. Manche schwören ja darauf.

«Landhausweg, wenn das kein Euphemismus ist», sagte Markovic, der jeden Tag ein neues Wort lernte. «Protzvillenweg wäre passender!»

Gisiger war nicht sicher, ob «Euphemismus» das richtige Wort dafür war. Doch er wusste auch kein besseres. Und als die Strasse nach der nächsten scharfen Kurve wieder im Nichts endete, fiel ihm dazu nur «Scheisse!» ein.

«Fahr nochmal zurück, die Strasse teilt sich da vorne.» Markovic hatte es irgendwie geschafft, das Display des Navigationssystems zu vergrössern, und fuhr mit dem Finger dem Strassenverlauf nach.

«Scheisse», sagte Gisiger noch einmal.

«Kein Stress. Die Frau ist tot, der Mann läuft nicht davon. Da vorne links, und dann zum Waldrand hoch.»

Ein -ic bei der Kantonspolizei, dachte Gisiger. Das hätte es früher auch nicht gegeben. Wieder ein Gedanke, der nicht zu ihm passte. Gisiger hielt sich für grosszügig, für tolerant. Doch in den letzten Jahren war er bitter geworden. Und er wusste nicht einmal warum.

Markovic war ausserdem der grösste Bünzli, den Gisiger je kennengelernt hatte, schweizerischer als jeder Schweizer. Fleissig, pünktlich, zuverlässig. Dauernd gab er mit seinem Fünfjahresplan an: Beförderung, Heirat, Hausbau, Kinder, in dieser Reihenfolge. Dass man sein Leben planen könnte, wäre Gisiger nie in den Sinn gekommen. Doch er zweifelte nicht daran, dass Markovic seine selbstgesteckten Ziele erreichen würde.

Gisiger war das fremd. Er war eher zufällig zur Polizei gekommen. Eines frühen Morgens nach dem Ausgang war er mit seinen Kollegen vor einem Plakat stehengeblieben, auf dem die Kantonspolizei für Anwärter warb. Die anderen hatten gegrölt: «Hey, Gisi, das wär doch was für dich!» Sie hatten ihn damals schon «Schmieri» genannt, Schmierlappen, Polizist. Er war immer der, der die letzte Runde ablehnte, zum Aufbruch drängte, der die anderen ermahnte, ruhig zu sein, sie daran erinnerte, dass die Nachbarn schon schliefen. Er hatte mit ihnen mitgelacht, aber ein paar Tage später hatte er sich zum nächsten Ausbildungsgang angemeldet. Die Polizeiarbeit gefiel ihm besser, als er erwartet hätte. Sie entsprach seinem Bewusstsein, Teil eines grösseren Ganzen zu sein, Verantwortung zu tragen. Das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun … Wann hatte er das verloren?

«Hier ist es.» Markovic stieg aus und drückte einen in der Mauer versteckten Knopf. Ein Tor öffnete sich nach innen, es sah aus, als würde ein Efeuvorhang aufgezogen. Dornröschen, dachte Gisiger. Vielleicht ist die Frau gar nicht tot, vielleicht schläft sie nur einen hundertjährigen Schlaf.

Hundert Jahre schlafen! Das wäre Gisigers Traum. Der einzige, der ihm noch geblieben war. Beförderung? Hausbau? Kinder? Allein die Vorstellung machte ihn müde. Noch müder, als er schon war. Morgens, wenn der Wecker läutete, wünschte er sich, der Tag wäre schon vorüber und er könnte wieder ins Bett gehen.

Letzten Monat hatte er eine Informationsveranstaltung besucht: Burn-out im öffentlichen Dienst. Die Teilnahme war vorgeschrieben, sonst wäre wohl niemand hingegangen. In der Kaffeepause hatten sie noch darüber gewitzelt, doch am Ende der Veranstaltung waren alle Flyer weg gewesen. Gisiger hatte den letzten eingesteckt. Auf der Rückseite stand die Nummer des internen Beratungsdienstes. Er hatte noch nicht angerufen.

«Du bist stehen geblieben», sagte Helen, seine Frau. «Du hast dich aufgegeben.»

Gisiger liess den Wagen die kurze, geschwungene Einfahrt hinaufrollen und hielt dann vor dem Haus. In der offenen Türe stand, wie in einem Bilderrahmen, von hinten beleuchtet, die Arme ausgebreitet, der Hausherr.

«Was wetten wir, dass er es war? Hundert Franken?»

Markovic streckte die flache Hand aus. Gisiger zögerte: «Du schaust zu viel fern.»

«Es ist doch immer dasselbe: Erst töten sie ihre Frauen, dann melden sie sie vermisst, dann finden sie sie.»

«Immer dasselbe, hm? Wie oft hatten wir so einen Fall schon?» Die meisten Tötungsdelikte, die sie bearbeiteten, waren, was Markovic «no-brainer» nannte: Fälle, über die man nicht nachdenken musste. Beziehungsdelikte, Messerstechereien, eine Schlägerei mit tödlichem Ausgang – Markovic hatte recht, der Täter war fast immer ein Mann.

«Ich hab ihn gegoogelt», sagte Markovic. «Ein typischer Loser. Erfolgloser Künstler, der von seiner Frau lebt. So was geht nie lange gut. Es ist gegen die Natur.»

«Soso, gegen die Natur!» Gisiger hatte tatsächlich einmal eine Ausstellung von Jonas Murbach besucht. Video-Installationen. Sie hatten ihn nicht beeindruckt. Vielleicht hatte er sie auch einfach nicht verstanden. Grundsätzlich mochte Gisiger Kunst, die er nicht gleich verstand. Die ihn irritierte, tagelang verfolgte, über die er nachdenken musste. Das war seiner Meinung nach die Aufgabe von Kunst. Aber diese Filmchen hatten ihn nur gelangweilt. Gisiger erinnerte sich an die Kritik der Ausstellung, sie war mit süffisanten Hinweisen auf die Position der Frau des Künstlers gespickt gewesen. Amanda Murbach, die Tote, war eine der reichsten Frauen im Kanton. Erbin und Verwalterin einer grossen Kunstsammlung, Gönnerin des Kunstvereins, Sammlerin, Mäzenin. Keine einfache Konstellation, dachte Gisiger. Wobei, einen typischen Loser hatte ihn Helen neulich auch genannt. Er habe keine Visionen. Keinen Ehrgeiz. Genau das hatte ihr früher an ihm gefallen. «Ein Mann, der sich nicht ständig beweisen muss, ist sexy», hatte sie gesagt. Heute wünschte sie offenbar, er hätte auch einen Fünfjahresplan. Gisiger hatte Markovics Verlobte kennengelernt, eine ehemalige Miss-Schweiz-Kandidatin mit sehr weissen Zähnen. Sie strahlte dieselbe unerschütterliche, beinahe arrogante Zuversicht aus wie Markovic.

Wartet nur, hatte Gisiger gedacht. Wartet nur, ihr kommt auch noch auf die Welt!

Seit wann dachte er so etwas?

«Da sind Sie ja! Endlich!»

Murbachs Hemd stand offen, sein Haar war wirr, er fuhr sich mit beiden Händen über den Kopf. Der Mann musste über vierzig sein, er sah gleichzeitig älter und jünger aus. Älter machten ihn seine Augensäcke, die tiefen Falten in der groben Gesichtshaut, die, so vermutete Gisiger, der Alkohol gezeichnet hatte. Jünger wirkte seine lässige Kleidung, sein drahtiger Körper. Unwillkürlich zog Gisiger den Bauch ein.

«Mein Name ist Gisiger, Herr Murbach, das ist mein Kollege, Herr Markovic. Der Amtsarzt ist unterwegs, er sollte jeden Moment hier eintreffen.»

«Ein Arzt? Haben Sie mir nicht zugehört? Es ist zu spät! Sie ist tot! Meine Frau ist tot!»

«Was hab ich gesagt?», raunte Markovic.

Gisiger zuckte die Schultern. Er hatte tatsächlich schon bessere Aufführungen gesehen. Im Laientheater.

«Können wir hereinkommen?», fragte er freundlich. «Wir müssen auf den Amtsarzt warten, der den Tod Ihrer Frau feststellt.»

Gisiger, der Dicke, Gemütliche, würde Vertrauen aufbauen, Markovic, der Smarte, würde dieses Vertrauen dann mit gezielten Fragen durchlöchern. «Good cop, bad cop» nannte man dieses Vorgehen im Fernsehen. «Lösungsorientiertes Kommunikationsmodell» hatte es in der Weiterbildung geheissen.

Murbach führte sie durch die Eingangshalle und einen breiten Flur entlang in ein geräumiges Wohnzimmer. Markovic murmelte die ganze Zeit etwas vor sich hin, das Gisiger im ersten Moment für ein Gebet hielt. War Markovic nicht katholisch? Dann erkannte er die Markennamen: «DeSede, Eames, Corbusier», murmelte sein Kollege vor sich hin.

Die Sitzgruppe war für mindestens zwanzig Personen konzipiert. Murbach führte sie in die am weitesten von der Tür entfernte Ecke. Im Vorbeigehen hob er ein Magazin auf – ART –, nahm einen bunten Seidenschal von einer Rückenlehne.

«Setzen Sie sich.»

Sie setzten sich. Murbach drehte den Schal in seinen Händen zu einer Kordel, wickelte sie um seine Handgelenke, spannte und entspannte sie. Wusste der Mann, was er da tat? Gisiger konnte seinen Blick nicht abwenden.

«Das ist bestimmt nicht einfach für Sie», murmelte er schliesslich.

Murbach blickte auf seine Hände und liess den Schal fallen.

«Oh Gott, was hab ich getan?», stammelte er. «Oh Gott, oh Gott!» Und dann: «Dabei bin ich nicht mal religiös!»

«Hm», machte Markovic. «Warum erzählen Sie uns nicht einfach, was passiert ist? Und bitte von Anfang an!»

Vancouver Island, heute

«Nun – offensichtlich sind Sie ja nicht tot …»

«Nein …» Amanda lächelte entschuldigend. Der grosse Mann, der sich als Officer Lovechild vom Victoria Police Department vorgestellt hatte, sass ihr an dem schmalen Holztisch gegenüber. Er sah aus, wie Amanda sich als Kind einen Indianer vorgestellt hatte. Im Sitzen überragte er noch Endo Roshi, den Leiter des Zen-Centers, der hinter ihm an der Wand stand, die Hände in der Robe versteckt, die Augen mild.

Vor etwas mehr als einem Jahr hatte Amanda frühmorgens das Haus verlassen, um den drei Frauen, die zweimal pro Woche bei ihr putzten, nicht im Weg zu sein. Sie war durch die Gassen der Altstadt geschlendert und beinahe gegen den Passantenfänger gestolpert, der am Ende der Rathausgasse für die Yogaschule und das Zendo Aarau warb. Sie nahm sich einen Flyer und las, dass in zehn Minuten eine Meditationsstunde beginnen würde. Obwohl sie nicht mehr über Zen-Buddhismus wusste, als sie in einem Kriminalroman gelesen hatte, klingelte sie an der Tür. Eine freundliche Frau in einer schwarzen Robe bat sie herein. Sie erklärte nicht viel: «Setz dich auf ein Kissen, richte den Blick nach unten, zähl deine Atemzüge.»

Anfangs hatte sich Amanda äusserst unwohl gefühlt. Ihre Knie taten weh, ihre Schultern spannten, ihre Nase juckte, sie wollte sich die Haare aus dem Gesicht streichen. Sie hörte den Atem der anderen, dann ihren eigenen. Nervös schluckte sie mehrmals hintereinander. Es musste im ganzen Raum zu hören sein. Wie lange sass sie schon hier? Doch zwischendurch erinnerte sie sich immer wieder an ihren Atem: eins … zwei …

Und plötzlich war einen Moment lang Ruhe in ihrem Kopf. Einen Moment lang gab es nur noch das. Eins … zwei … Ihr Name fiel von ihr ab, ihr Erbe, ihre Funktion. Die Frage, die sie seit Jahren quälte, ob ihr Leben überhaupt einen Sinn hatte, ob sie ohne ihr Erbe, ohne ihren Namen überhaupt eine Existenzberechtigung hatte, fiel von ihr ab. Der dumpfe, quälende Schmerz der Entfremdung von ihrem Mann, der ihr diese Bestätigung jahrelang gegeben hatte, fiel von ihr ab. Es gab keine andere Berechtigung als diese: Hier sass sie und atmete. Ob Jonas sie noch liebte oder nicht, sie war da. Sie war da, und sie atmete. Das war alles. Das war genug. Überwältigt schloss sie einen Moment lang die Augen. Sechs … siebzehn … was? Ach so: eins … zwei …

Wieder zu Hause, klopfte sie ganz gegen ihre Abmachung im Park an die Tür des Pavillons, der Jonas als Atelier diente. Sie ignorierte die Irritation, mit der er von seinem Computer aufschaute.

«Jonas», sagte sie. «Jonas, ich habe etwas gefunden!» Doch je länger sie ihm zu erklären versuchte, was sie erlebt hatte, desto fader klang es in ihren Ohren. Schliesslich verstummte sie.

«Ziemlich ironisch», sagte Jonas.

«Ironisch?»

«Ja – siehst du das nicht? Du rennst am Morgen aus dem Haus, um dich irgendwo in der Stadt auf ein Kissen zu setzen, während hier ein ganzes Team von Putzfrauen deinen Dreck wegmacht.»

«Und deinen», wollte Amanda sagen. Sie verstand nicht. Was hatte sie jetzt schon wieder falsch gemacht?

Jonas schaute sie mit einem müden Blick an. Es musste anstrengend sein, immer alles dreimal zu erklären. «Wenn du wirklich irgendwas mit Buddhismus am Hut hättest, würdest du der Reinigungsfirma kündigen und dein Haus selber putzen. Achtsamkeit in jeder alltäglichen Handlung, das ist die Essenz der buddhistischen Lehre. Die kannst du nun mal nicht mit deiner Platinkarte abbuchen!»

«Aber es hat doch gar nichts gekostet!», wollte Amanda noch sagen, aber da hatte er die Kopfhörer schon wieder aufgesetzt. Seither ging sie zwei-, dreimal die Woche ins Zendo.

Irgendwann hatte ihre Lehrerin ihr vorgeschlagen, das Inselkloster in Kanada zu besuchen, in dem sie selber jahrelang gelebt und gelernt hatte.

Amanda hatte sich zu einer vierwöchigen Schweigemeditation angemeldet. Bevor sie abgereist war, hatte sie sich mit ihrem Anwalt getroffen, die Scheidung eingereicht und ihr Haus in Aarau dem Zendo überschrieben.

«Ich muss Ihr … äh … Am-Leben-Sein für die Schweizer Behörden bestätigen», sagte Officer Lovechild. «Ihre Papiere kontrollieren, ihren Flugschein sehen … Und wenn Sie mir erklären könnten, was passiert ist?»

«Möchtest du, dass ich bei dem Gespräch dabei bin?», fragte der Roshi jetzt, und Amanda nickte. Seit einer Woche hatte sie nicht gesprochen. Es war ihr überraschend leicht gefallen. Dafür hatte sie jetzt Mühe, die richtigen Worte zu finden.

Gab es überhaupt Worte für das, was passiert war?

«Wie hätte ich ahnen sollen, dass er mich gleich umbringt?»

Aarau, vor über einer Woche

«Also, was haben Sie getan?»

«Ich habe sie ins Bett gelegt!» Murbach unterdrückte ein Schluchzen. «Ich weiss, ich hätte sie nicht anfassen dürfen, aber ich konnte sie doch nicht einfach so hängen lassen …» Er schlug die Hände vors Gesicht. Gisiger meinte, ihn zwischen den Fingern hindurch blinzeln zu sehen.

«Von Anfang an», wiederholte Markovic streng.

«Ja also, ich war ein paar Tage in den Bergen, im Engadin, wir haben dort ein Haus. Und als ich zurückkam … als ich zurückkam … da sah ich sie … und …»

«Hier?»

«Nein, in der Küche – ich ging in die Küche, um mir etwas zu essen zu machen, und da …»

«Zeigen Sie es uns.»

Als sie aufstanden, knackten Gisigers Knie. Ich sollte wirklich, dachte er. Wirklich was? Wirklich etwas ändern. Etwas tun. Murbach führte sie zurück in die Eingangshalle und von da in die Küche. Ein geräumiger, gemütlicher, altmodischer Raum, der seltsam unbenutzt wirkte. Ein Stuhl lag auf dem Boden, von einem schmiedeeisernen Gitter an der Decke, an dem auch ein paar grosse Pfannen hingen, baumelte ein Stück gelbe Wäscheleine. Eine Inszenierung, dachte Gisiger. Eine schludrige dazu. Wie in seinen Filmchen.

«Und dann?»

«Ich habe – ich glaube, ich hab geschrien! Es kam einfach über mich – ich bin ein emotionaler Mensch, verstehen Sie. Dann hab ich den Stuhl aufgestellt, bin draufgestiegen und hab sie gepackt, hab sie hochgehoben, um den Zug der Wäscheleine zu lockern – aber es war zu spät. Ich fühlte es – es war kein Leben mehr in ihr.»

«Sie fühlten es? Haben Sie es ihr nicht in erster Linie angesehen?»

«Angesehen?» Murbach schien ehrlich verwirrt. «Ich hab die Leine durchgeschnitten, sie nach oben getragen … ich weiss, ich hätte das nicht tun sollen … aber ich konnte nicht klar denken, ich bin nun mal …»

« … ein emotionaler Mensch, ich weiss.» Markovics Stimme verriet nichts.

Er konnte ihr nicht ins Gesicht sehen, dachte Gisiger. Er sah es vor sich, wie eine Szene aus einem von Murbachs nicht ganz zu Ende gedachten Videofilmen. Eine Frau sitzt auf dem Sofa, mit dem Rücken zur Tür, blättert in ihrem Magazin, hört ihn nicht hereinkommen. Er packt sie von hinten, erwürgt sie mit ihrem eigenen Schal, wird dann von plötzlicher Reue übermannt. Er trägt sie ins Schlafzimmer, legt sie ins Bett, den Blick von ihrem Gesicht abgewandt, von ihren blutunterlaufenen Augen, der geschwollenen Zunge. Er deckt sie zu, als würde sie schlafen. Dann Panik – er macht eine Flasche auf, im Dusel denkt er sich diese Inszenierung aus, wählt die Nummer des Notrufs. Er muss sich für sehr viel klüger halten, als er ist – oder uns für sehr viel dümmer.

Die gerichtsmedizinische Untersuchung würde eindeutig zeigen, ob ein Seidenschal oder eine Wäscheleine die Kehle der Toten zugeschnürt hatte. Und ob der Zug waagrecht von vorn nach hinten oder schräg nach oben verlaufen war. Fehlte nur noch das Motiv. Doch das würde er ihnen bestimmt auch gleich liefern:

«Und hier, das lag auf dem Tisch!»

Murbach langte in seine Hemdtasche, zog ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus. Er hielt es erst Markovic hin, und als dieser nicht danach griff, Gisiger. Gisiger zog betont umständlich ein sauberes Taschentuch hervor, legte es über seine Finger und fasste dann das Stück Papier an einer Ecke an. Er schüttelte es ein paarmal, bis es sich öffnete. Es war kein Brief, sondern eine Seite aus einem Notizbuch, unsorgfältig herausgerissen, mit fliehenden Buchstaben bedeckt. Verzweifelte Worte, an niemanden gerichtet, nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Kein Brief.

Ich kann nicht mehr ich kann nicht mehr ich kann nicht mehr ich Du siehst mich nicht. Ich weiss nicht mehr, wer ich bin.

Es gibt mich nicht mehr

Wo bist du wo bin ich

Bitte bitte bitte

Ich muss hier raus

ich kann nicht mehr

«Sehen Sie, sie war gar nicht mehr sie selbst! Sie konnte sich nicht einmal mehr klar ausdrücken … sie war total verwirrt! Und dann ruft mich ihr Anwalt an und sagt, sie habe die Scheidung eingeleitet, das Haus verschenkt … Das hätte sie nie getan, sie war nicht bei sich … das ist doch eindeutig!»

«Ihr Anwalt hat Sie angerufen? So spät?»

«Nein, das war …»

« … bevor Sie ihre Frau ‹gefunden› haben?» Markovic zeichnete mit den Fingern Anführungsstriche in die Luft. Dann schaute er zu Gisiger hinüber und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, als zählte er Geld. Gisiger griff in seine Hosentasche und holte sein Portemonnaie heraus.

«Meine Herren?» Der Amtsarzt stand in der Tür.

«Wo ist das Schlafzimmer?», fragte Gisiger.

«Ich zeig es Ihnen.»

«Nichts da!» Markovic hielt Murbach zurück. «Wir beide warten hier!»

Murbach nickte. «Die Treppe hoch, die letzte Türe am Ende des Flurs.»

Der Arzt ging voraus, er sagte nichts, hielt den Kopf gesenkt. In Gedanken versunken. Vielleicht war er auch nur müde. Sie waren alle müde.

Vor der Schlafzimmertür blieb er stehen und liess Gisiger den Vortritt. Gisiger öffnete die Tür. Das Zimmer war so gross, dass das Bett in seiner Mitte fast klein wirkte. Es war ein Himmelbett aus dunklem, reich geschnitztem Holz, mit weissem Leinen bezogen. Auf der weissen Überdecke lag sie auf dem Rücken. In einem grün-weiss gemusterten Wickelkleid, die langen braunen Haare auf dem Kissen ausgebreitet, um den Hals ein Stück gelbe Wäscheleine, starrte sie mit offenen Augen an die Decke.

Mit offenen Augen?

Der Arzt machte einen Schritt auf das Bett zu, bückte sich, berührte ihren Hals mit zwei Fingern. Dann richtete er sich wieder auf und schaute Gisiger an. Sein Blick war schwarz.

«Wollt ihr mich verarschen?»

Vancouver Island, heute

«Es bin nicht ich, es ist ein Inukshuk», sagte Amanda. «Ein Wie-ein-Mensch.»

Officer Lovechild nickte. «Wie das Olympia-Maskottchen!» Er zog seinen Schlüsselanhänger aus der Tasche, an dem eine versilberte Version der klobigen, aus Steinblöcken zusammengesetzten, menschenähnlichen Figur baumelte.

«Genau.»

Amanda hatte einen solchen zum erstenmal in einer Ausstellung über die Kunst der Ureinwohner des amerikanischen Nordens, aus Alaska, Grönland, Kanada gesehen. Traditionelle und zeitgenössische Skulpturen und Gefässe wurden gezeigt, die sich erstaunlich ähnlich sahen. Dieselben weichen, klaren Formen, dieselbe Bearbeitung, die den harten, kalten Stein weich, warm, seidig scheinen liess. Plötzlich stand sie vor einem gehörnten, zähnefletschenden Wesen aus glänzendem grauem Stein, das sie an eine Figur aus dem Kinderbuch «Wo die wilden Kerle wohnen» erinnerte. Ein wilder Kerl? Nein, ein Inukshuk. Ein Wie-ein-Mensch. Diese Statuen, las sie, dienten als Wegweiser, wie die Steinmannli in den Schweizer Alpen. Sie wurden bei der Jagd eingesetzt und manchmal auch in leeren Behausungen zurückgelassen. Als Platzhalter. Hüter des kalten Herdes.

«Ich war hier», sagte der Wie-ein-Mensch. «Auch wenn ich jetzt weg bin: Ich war hier.» Lange hatte sie vor dem Glaskasten gestanden und sich vorgestellt, sie könnte dieses zähnefletschende Ding mit nach Hause nehmen und an ihre Stelle setzen. Es würde endlose Sitzungen und Besprechungen für sie aushalten und Jonas zuhören, wenn er sich über die lähmende Wirkung beklagte, die ihre Ehe auf seine Kreativität habe.

Die Idee liess sie nicht mehr los. Plötzlich begegnete sie ihr überall. Sie hing in der Luft.

Gespräche im Freundeskreis drehten sich um die Notwendigkeit und die Unmöglichkeit der modernen Existenz, überall gleichzeitig zu sein, in allen Zeitzonen vertreten, die unterschiedlichsten Rollen gleichzeitig ausfüllend. «Wenn man sich bloss klonen könnte!» Jemand schenkte ihr ein Buch über einen Schriftsteller, der gleich sieben Doppelgänger auf Lesereise schickte. Sie zappte sich durch das Spätabendprogramm und blieb bei einer Anwaltserie hängen, in der die Beziehung eines Mannes zu einer erstaunlich lebensechten Sexpuppe legalisiert wurde, mit der er glücklicher war als mit jeder lebenden Frau. Wenig später las Amanda einen Artikel über die Firma in Japan, die diese qualitativ hochstehenden Sexpuppen herstellte. Puppen, die aus hautähnlichem Material und nach menschlichem Vorbild gestaltet wurden, auf Wunsch und gegen einen Aufpreis nach Fotos und exakten Massen: Wie-ein-Mensch.

Sechs Wochen dauerte es, bis die Puppe geliefert wurde. Sechs Wochen lang beobachtete Amanda ihren Mann. Sie sah noch einmal alles, was sie an Jonas geliebt hatte. Seine Unverschämtheit, sein schiefes Grinsen, seine schmalen Hüften. Die Art, wie er durch Menschen hindurchschaute. Wie er sich bewegte.

Wie wenn man sich zum Haareschneiden anmeldet, dachte sie etwas respektlos. Kaum hat man einen Termin, sitzen die Haare wieder perfekt. Wollte sie das Ende ihrer Ehe wirklich mit dem Kappen ihrer Haarspitzen vergleichen? Sie wartete auf ein Zeichen. Eine Annäherung. Es passierte nichts. Jonas fuhr ohne sie nach Paris und dann direkt in ihr Haus in den Bergen.

Die Puppe wurde in der versprochenen neutralen Verpackung geliefert. Sie war leicht. Viel leichter als ein Mensch. Erst recht einer aus Stein. Aber sie fühlte sich tatsächlich an wie ein Mensch, weich, trocken, warm. Amanda wickelte sie in ihr Lieblingskleid und legte ihr den bunten Seidenschal um, den Jonas ihr vor Jahren geschenkt hatte. Dann setzte sie ihre Stellvertreterin auf ihren Lieblingsplatz auf dem Sofa, legte ein ART-Magazin in ihren Schoss, strich ihre Haare zurück, fuhr ihr mit einem Finger über die Wange.

Plötzlich musste sie lachen. Jonas würde verstehen, was sie gemeint hatte. Er war vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der diese verrückte Geste nachvollziehen konnte. Er würde richtig reagieren.

Amanda stellte sich vor, wie er mit ihrer Stellvertreterin im Schlepptau nach Kanada reiste – er würde ihr selbstverständlich einen Sitzplatz reservieren und ihr einen Drink bestellen und sich über die Blicke der anderen Passagiere amüsieren. Vielleicht würde er einen Film drehen. Und er würde sie finden. Sie würden sich wieder finden.

«Stattdessen hat er mich umgebracht.»

Aarau, vor über einer Woche

Es dämmerte schon, als Gisiger nach Hause kam. In der Wohnung war es still. Ohne das Licht einzuschalten, ging er in die Küche. Vor dem Fenster der Wald. Zwischen den Bäumen floss die Aare, er konnte sie nicht sehen, aber er wusste, dass sie da war. Er schaute zu, wie sich die letzten Reste der Nacht auflösten. Nebel hing in den Ästen der Bäume. Der Tag war noch nicht so weit.

Das Licht ging an und verwandelte das vorhanglose Küchenfenster in einen wandbreiten Spiegel. Die verschlafene Landschaft verschwand, dafür sah er jetzt sich. Die hängenden Schultern, den Bauch, das Bier. Hinter ihm tauchte Helen auf. Sie trug eines seiner T-Shirts, ein weisses. Es reichte nicht ganz bis zu ihren Oberschenkeln. Gisiger zog automatisch seinen Bauch ein, aber er drehte sich nicht um.

«Siehst du mich?», fragte er. «Helen, siehst du mich?»

Mord in Switzerland

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