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Einleitung

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KLAUS VIERTBAUER

Buchstäblich seit der ersten Zeile seines schriftstellerischen Wirkens, nämlich der bis heute unpublizierten Schelling-Dissertation Das Absolute und die Geschichte (1954), lässt sich Religion als Thema bei Jürgen Habermas nachweisen. Allerdings fällt der Religionsthematik sowohl in ihrer quantitativen Breite als auch in ihrer qualitativen Tiefe seit seiner Rückkehr an die Goethe-Universität im Jahr 1982 ein ungleich größeres Maß an Aufmerksamkeit zu. Dies betrifft die Phase im Anschluss an die Veröffentlichung seines Hauptwerkes Theorie des kommunikativen Handelns (1981), in dem Habermas nach rund zehnjähriger Arbeit seinen gesellschaftstheoretischen Entwurf vorlegt. Verhandelte Habermas an dieser Stelle Religion noch vor dem Hintergrund der Säkularisierungsthese, die sich für eine Aufhebung der Religion in wissenschaftlich-kommunikative Rationalitätsformen ausspricht, so differenziert er im Laufe der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts seine Bewertung von Religion mehr und mehr aus. Den Kontrapunkt zu seinen Überlegungen aus der Theorie des kommunikativen Handelns (1981) markiert die Friedenspreiserede Glauben und Wissen (2001). An dieser Stelle modifiziert Habermas seine ursprüngliche Bewertung und ersetzt sie durch eine Übersetzungstheorie. Der Umschwung von der Aufhebung zur Übersetzung religiöser Inhalte lässt sich implizit bis in die späten 1980er-Jahre zurückverfolgen. Im Durchgang durch die entsprechenden Schriften, die in der Regel situativ, d.h. in Form von Vorträgen und Repliken abgefasst sind, lässt sich das Bemühen, ja Ringen von Habermas erkennen, Religion in einer angemessenen Form in den Prozess der Aufklärung einzubinden. Die Aufgabe, die an den folgenden Beitrag gerichtet ist, ist eine zweifache: Zum einen versucht er seinen Leserinnen und Lesern einen Überblick über die beschriebene Publikationsphase zu vermitteln. Zum anderen gedenkt er auf diesem Weg zugleich eine Grundlage für die nachfolgenden Texte, die sich an einzelnen Problemen und Konstellationen abarbeiten, zu bieten.

1. Die Bestimmung der Religion im Kontext der Säkularisierungsthese

Mit der Theorie des kommunikativen Handelns (1981) gelang es Habermas endgültig, sich einen Eintrag in den Geschichtsbüchern zu sichern. Dabei reagierten die Rezensionen anfänglich wenig begeistert, doch schien dies überwiegend an Komplexität und Umfang der über 1.000 Druckseiten starken Schrift zu liegen.1 Im Durchgang durch verschiedene Rationalitätskonzepte, der in Form von Einzeldarstellungen erfolgt, versucht Habermas eine Theorie der kommunikativen Vernunft und des kommunikativen Handelns zu entwickeln. Die Religion wird mit Blick auf Emil Durkheim, George Herbert Mead und Max Weber als Vorstufe der Vernunft thematisiert. Im vorliegenden Abschnitt werde ich ausgehend von der Theorie des kommunikativen Handelns (1981) die Position herausstellen und deren Entwicklung u.a. in den Debatten mit Dieter Henrich (→1.2), der Politischen Theologie der Vereinigten Staaten (→1.3) Johann Baptist Metz (→1.4) und der Diskussion über liberale Eugenik (→1.5) verfolgen.2

1.1. Die Theorie des kommunikativen Handelns (1981)

So groß die Bedeutung der Theorie des kommunikativen Handelns (1981) an sich auch ist, darf dies nicht über deren religionskritische These hinwegtäuschen. Von Interesse ist neben den Passagen über das Religionsverständnis von Max Weber aus Kapitel 2 auch das Kapitel 5, das den Paradigmenwechseln bei Georg Herbert Mead und Emil Durkheim gewidmet ist. Habermas versucht dabei auf rund einhundert Seiten die „Entzauberung und Entmächtigung des sakralen Bereichs“3 darzustellen, die das Rationalitätspotenzial des kommunikativen Handelns freisetzt.

Mit Durkheim bestimmt Habermas den Ritus als ursprünglichen Bestandteil von Religion. Er geht phylogenetisch Glaubensüberzeugungen voran, weil der Ritus in seiner Form vorsprachlich strukturiert ist. Bereits im vorsprachlichen Medium religiöser Riten, so die vorgetragene These, lässt sich ein symbolisch vermittelter Konsens ausmachen, der im Kern Normativität beansprucht. Vor diesem Hintergrund bemüht sich Habermas im Gespräch mit Durkheim zu zeigen, wie sich die in religiösen Riten erstmals greifbare Normativität Schritt für Schritt von einer religiösen in eine moralische Überzeugung aufheben lässt. „Aus den strukturellen Analogien des Heiligen und des Moralischen schließt Durkheim auf eine sakrale Grundlage der Moral […, die] ihre bindende Kraft letztlich aus der Sphäre des Heiligen“ bezieht.4 Folglich lassen sich mittels einer Untersuchung über das Heilige Erkenntnisse über das Moralische gewinnen. Der Ritus konserviert nicht nur den normativen Konsens, sondern vergegenwärtigt diesen zugleich. Exemplarisch zeichnet Habermas dies entlang Durkheims Beispiel der Rechtsentwicklung nach. Durkheim identifiziert das Strafrecht in seiner frühsten Form als Reaktion auf die Verletzung eines Tabus: „Das originäre Verbrechen ist das Sakrileg, die Berührung des Unberührbaren, die Profanisierung des Heiligen.“5 Vor diesem Hintergrund wird Strafe als Sühne verstanden, in der es nicht um persönliche Rache geht, sondern um die Restitution einer höheren Ordnung. Erst mit dem Zivilrecht, wo der Schadenersatz das Sühnedenken beerbt, wird die Referenz von einer höheren Ordnung auf ein konkretes Gegenüber gelenkt. Indem sich „das moderne Recht […] um den Ausgleich privater Interessen“ kristallisiert, streift es „seinen sakralen Charakter“ ab.6 Im Anschluss an Mead deutet Habermas den Übergang vom Heiligen zur Moral in Form einer semantischen Emergenz. Diese besteht in der Umstellung von propositionalen Sprechakten zu illokutionären. Dazu schließt Habermas an Meads Subjektmodell aus Geist, Identität und Gesellschaft (1934) an. Das Self konstituiert sich laut Mead aus den Bestandteilen von I und Me. Im Me werden die Haltungen und Reaktionen der Anderen gegenüber der eigenen Person zusammengefasst. Da ein Self zumeist in unterschiedlichen (z.B. beruflichen, familiären …) sozialen Kontexten beheimatet ist und dabei wechselnde Rollen einnimmt, lassen sich mehrere Me’s voneinander unterscheiden. Die Aufgabe des I besteht darin, diese Me’s miteinander in Übereinstimmung zu bringen, um auf diesem Weg ein Self auszubilden. Das illokutionäre Moment besteht somit in der Internalisierung gesellschaftlicher Vorgaben im Self. So wird die Interaktion des I mit seiner Umwelt als Me im Self eingeschrieben. Es handelt sich um Rollenbilder, in denen ein Subjekt wirksam mit seiner Umwelt interagiert. Erst dadurch wird eine Ich-Identität eines Self generiert und eine Person befähigt „sich unter Bedingungen autonomen Handelns selbst zu verwirklichen.“7 Habermas verknüpft in diesem Prozess zwei nur scheinbar auseinanderfallende Stoßrichtungen: Individuierung und Vergesellschaftung.8 Je mehr ein I seine Me’s in Einklang zu bringen vermag, desto mehr findet es sich in den gesellschaftlichen Kontexten eingelassen. Dies bleibt nicht ohne Folgewirkung für die Religion: Indem ein Subjekt durch kommunikatives Interagieren sein Selbst ausbildet, deutet es sein Dasein vor dem Hintergrund dieser Interaktionsprozesse und nicht länger vor dem eines religiösen oder metaphysischen Abhängigkeitsgefühls.

Damit ist der Beweisgang von Habermas hinreichend konturiert: „Die Entzauberung und Entmächtigung des sakralen Bereichs vollzieht sich auf dem Weg einer Versprachlichung des rituell gesicherten normativen Grundverständnisses[, womit …] die Entbindung des im kommunikativen Handeln angelegten Rationalitätspotentials einher[geht]. Die Aura des Entzückens und Erschreckens, die vom Sakralen ausstrahlt, die bannende Kraft des Heiligen wird zur bindenden Kraft kritisierbarer Geltungsansprüche zugleich sublimiert und veralltäglicht.“9 Damit – so gilt es vorerst festzuhalten – wird Religion im kommunikativen Handeln aufgehoben. Der Fortbestand von Religion an sich ist dadurch infrage gestellt.

1.2. Habermas und die Frage nach dem Subjekt

Die Dekade nach Habermas’ Rückkehr nach Frankfurt ist nicht zuletzt von seinen Debatten mit den Postmodernisten, später dann von seiner Kontroverse mit Dieter Henrich geprägt. Beide Diskussionen verbindet die Frage nach der Bestimmung des Subjekts. Da dieser Aspekt für Habermas’ nachfolgende Beschäftigung mit der Religionsthematik von zentraler Bedeutung ist, beschränke ich mich in der folgenden Darstellung darauf.

Zeitlich wie auch mit Blick auf den Umfang des Publizierten gebührt der Debatte mit den Postmodernisten eindeutig Vorrang. Als Auslöser lässt sich die Rede zur Verleihung des Adorno-Preises Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (1980) bestimmen. Christoph Menke charakterisiert diesen anspruchsvollen und argumentativ dicht gedrängten Text als „Blaupause der großen systematischen Bücher der beiden folgenden Jahrzehnte.“10 Die darin vorgezeichneten Pfade entwickelte Habermas in den folgenden Jahren in Vortragsreihen, die er in Boston, Frankfurt, New York und Paris hielt, weiter und veröffentlichte die gesammelten Ergebnisse in Der philosophische Diskurs der Moderne (1988). Habermas formuliert in diesem Band seine Kritik an Michel Foucault, Jacques Derrida und Georges Bataille vor dem Hintergrund der Entwicklung der Moderne, die er im Ausgang von Hegel skizziert.11 Seine These hat dabei zwei Stoßrichtungen: Auf der einen Seite nimmt Habermas in Anschluss an Theodor Adornos und Max Horkheimers Dialektik der Aufklärung (1944) die Moderne kritisch in den Blick. Auf der anderen Seite verschärft sich seines Erachtens das Ausgangsproblem lediglich, wenn man den Weg über die nietzscheanische Drehscheibe einschlägt und in „dekonstruktive Kritik“ verfällt. Mit der „methodologische[n] Vernunftfeindlichkeit [… bewegen] sich Untersuchungen dieses Typs heute im Niemandsland zwischen Argumentation, Erzählung und Fiktion [… und] verdräng[en] jenen bald zweihundertjährigen, der Moderne selbst innewohnenden Gegendiskurs, an den ich mit dieser Vorlesung erinnern möchte.“12 Die Alternative, die Habermas demgegenüber als Desiderat in Stellung bringen möchte, besteht darin, die Moderne neu durchzubuchstabieren, indem man dem sich auftuenden Subjektivismus mit einem Intersubjektivismus begegnet. Dabei begreift Habermas die „intersubjektive Verständigung als das der umgangssprachlichen Kommunikation eingeschriebene Telos“, das er selbst mit seiner Diskurstheorie zu rekonstruieren versucht.13 Im Zuge seiner Sammelrezension Rückkehr zur Metaphysik? (1984) stößt sich Habermas an Henrichs gleichgültigem Verhalten gegenüber den postmodernistischen Attacken: „Henrich macht keinen Versuch, das mit Kant zur Herrschaft gelangte Paradigma der Bewußtseinsphilosophie gegen eine seit Nietzsche immer wieder vorgetragene Kritik zu verteidigen. Er beharrt auf der intuitiven Erfahrung des Selbstbewußtseins wie auf einer diskursfreien Gegenwart letzter Gründe.“14 Henrich scheint die Entwicklung des philosophischen Diskurses seit Nietzsche deshalb nicht ernsthaft zu würdigen, weil sich diese Entwicklung selbst Schachmatt setzt. So vermittelt Henrich „den Eindruck, daß sich nach Kuhn und Feyerabend, dem blinden kontextabhängigen Auf und Ab der Paradigmenwechsel wissenschaftsintern ein vernünftiger Sinn nicht mehr abgewinnen läßt“.15 Aus diesem Grund trägt Henrich „von außen Vernunft an den Kulturprozeß der Wissenschaftsentwicklung“ heran.16 Henrich, der mehrmals umfangreich auf Habermas repliziert, lässt sich davon nicht beirren und hält rigide an seiner Position fest.17 Dabei spricht sich Henrich für eine dem sprachlichen Diskurs vorausgehende Ebene des Mit-sich-Vertraut-Seins aus. Denn, so Henrichs Position, wie kann ich mich mit der sprachlichen Äußerung „ich“ selbst identifizieren, wenn ich nicht bereits zuvor über ein implizites Bewusstsein dieses Ichs verfüge? In einer erneuten Replik auf Henrich bettet Habermas seine Kritik an diesem in Kierkegaards Anfangspassage aus dessen Hauptwerk Die Krankheit zum Tode (1849) ein: „Das Subjekt, das sich erkennend auf sich bezieht, trifft das Selbst, das es als Objekt erfaßt, unter dieser Kategorie als ein bereits Abgeleitetes an und nicht als Es-Selbst in der Originalität des Urhebers der spontanen Selbstbeziehung. […] Das Selbst des performativ, durch die vom Sprecher übernommene Perspektive des Hörers auf ihn, hergestellten Selbstverhältnisses wird nämlich nicht wie im Reflexionsverhältnis als Gegenstand der Erkenntnis eingeführt, sondern als ein in der Teilnahme an sprachlichen Interaktionen sich bildendes, in Sprach- und Handlungsfähigkeit sich äußerndes Subjekt.“18 Damit ist der argumentative Bogen zur Theorie des kommunikativen Handelns (1981) wieder hergestellt. Das Subjekt konstituiert sich gemäß den von George Herbert Mead beschriebenen Interaktionsprozessen von I und Me’s, die sich in einem kommunikativ-sprachlichen Paradigma vollziehen.

1.3. Transzendenz von Innen (1988)

Dank einer Initiative von Don Browning und David Tracy stellt sich Habermas 1988 in Chicago erstmals im Rahmen einer eigenen Veranstaltung dem Gespräch mit Vertretern der Politischen Theologie.19 Diese hatten schon längst die Kritische Theorie, also Adorno, Benjamin und Horkheimer, für die eigene Arbeit entdeckt und suchten nun das unmittelbare Gespräch mit Jürgen Habermas. Habermas reagiert zögerlich und neigt dazu die Einladung auszuschlagen: Einerseits wäre eine Ablehnung „als Schweigen der Verlegenheit […] sogar gerechtfertigt“, gesteht Habermas in einer Vorbemerkung zu seiner Replik ein, „ich bin nämlich mit der theologischen Diskussion nicht wirklich vertraut und bewege mich ungern auf einem unzureichend rekognoszierten Gelände. Andererseits haben mich Theologen sowohl in der Bundesrepublik wie in den USA seit Jahrzehnten in ihre Diskussion einbezogen. Sie haben sich allgemein auf die Tradition der Kritischen Theorie bezogen und auch auf meine Dinge reagiert. In dieser Situation wäre ein Schweigen die falsche Mitteilung.“20 Im Anschluss an seine Theorie des kommunikativen Handelns (1981) erläutert Habermas sodann, dass die Aufhebung des Heiligen nicht an sich, sondern lediglich aus der Perspektive nachmetaphysischen Denkens Gültigkeit beanspruche. So tritt „unter Bedingungen nachmetaphysischen Denkens eine andere Differenz deutlich hervor […]: der methodische Atheismus in der Art und Weise der philosophischen Bezugnahme auf die Gehalte religiöser Erfahrung.“21 Mit anderen Worten: Das Heilige wird nicht an sich aufgehoben, allerdings kann „die Philosophie […] sich das, wovon im religiösen Diskurs die Rede ist, nicht als religiöse Erfahrung zu eigen machen […, da Religion] als deren Erfahrungsbasis [erst] anerkannt werden [kann], wenn die Philosophie [… Religion] unter einer Beschreibung identifiziert, die nicht mehr einer bestimmten religiösen Tradition entlehnt ist, sondern dem Universum der vom Offenbarungsgeschehen entkoppelten, begründeten Rede angehört.“22 Für den Philosophen verkommt dabei „der metaphorische Gebrauch von Vokabeln wie Erlösung, messianisches Licht, Restitution der Natur usw. […] zum bloßen Zitat“, ohne einen sichtbaren Bedeutungsgehalt aufzuweisen.23 Der Philosoph ist angehalten, wenn er „unter Bedingungen nachmetaphysischen Denkens […] einen Wahrheitsanspruch stellt […,] Erfahrungen, die im religiösen Diskurs ihren Sitz haben, [erst] in die Sprache einer wissenschaftlichen Expertenkultur [zu] übersetzen.“24 Dasselbe gelte im Übrigen auch für die religiösen Diskurse, die „ihre Identität [verlören], wenn sie sich einer Art von Interpretation öffneten, die die religiösen Erfahrungen nicht mehr als religiöse gelten läßt.“25 Damit vollzieht Habermas eine entscheidende Wende: Indem er vom religiösen Diskurs spricht und dessen Eigenständigkeit gegenüber der Philosophie herausstellt, wird Theologie satisfaktionsfähig. In diesem Sinn korrigiert Habermas seine Äußerung aus der Theorie eines kommunikativen Handelns (1981) und bewegt sich von der These der Aufhebung zu der einer Übersetzung.

1.4. Die Habermas-Metz-Debatte (1988–1996)

Die Politische Theologie soll auch künftig der theologische Gesprächspartner für Habermas bleiben. Diesseits des Atlantiks greift Johann Baptist Metz den Gesprächsfaden auf. In der von Axel Honneth verantworteten Festschrift zum 60. Geburtstag findet sich ein schmaler, fünf Druckseiten umfassender Beitrag Anamnetische Vernunft: Anmerkungen eines Theologen zur Krise der Geisteswissenschaften (1988), in dem Metz die Hellenisierungs-These harsch attackiert.26 Diese Kritik sei, so Metz’ These, paradigmatisch für den gegenwärtigen Geltungsverlust der Geisteswissenschaften. Worin lag die Brisanz von Metz’ Kritik? Metz vertrat die kühne These, dass mit der Hellenisierung des Christentums zugleich eine Halbierung des Geistes verbunden sei und das Christentum, als „die in Jesus Christus vermittelte Synthese zwischen dem Glauben Israels und dem griechischen Geist“, den Vernunftbegriff um eine wesentliche Komponente beraubte.27 Diese Komponente identifiziert Metz mit der „anamnetischen Tiefenstruktur des Geistes“, die in den Schriften jüdischer Denker, wie Adorno, Benjamin, Bloch, Jonas, Levinas oder Rosenzweig greifbar, ansonsten aber im okzidentalen

Denken verschwunden sei.28 Die Hellenisierungsthese verfahre, so die Kritik, einseitig: Jerusalem schuldet Athen etwas, aber nicht umgekehrt. Die anamnetische Vernunft, die „Denken als Andenken, als geschichtliches Eingedenken“ begreift, läuft der „zeit- und geschichtsenthobenen platonischen Anamnesis“ entgegen.29 Es geht, so betont Metz mit Nachdruck, nicht um eine „rationalisierende […] Einebnung der Diskontinuität und geschichtlichen Brüche im Interesse individueller und kollektiver Identitätssicherung der gegenwärtig Lebenden“, sondern um „Erinnerung qua Eingedenken […] nicht als Kompensations-, sondern als Konstitutionskategorie des menschlichen Geistes.“30 Dieses einseitige Vernunftverständnis färbt selbst noch auf die nachmetaphysische Diskurstheorie von Habermas ab. So fehlt es – wie bereits Helmut Peukert in seiner viel beachteten, bei Johann Baptist Metz eingereichten Dissertation Wissenschaftstheorie, Handlungstheorie, Fundamentale Theologie aus dem Jahr 1976 herausstellte – der kommunikativen Vernunft an einer anamnetischen Tiefendimension.31

Augenscheinlich hinterließen diese fünf Seiten auf Habermas einen bleibenden Eindruck. Denn er sah sich seinerseits zu einer Gegendarstellung gefordert. Auf dem Abschiedssymposion 1993, das zur Emeritierung von Johann Baptist Metz in Münster veranstaltet wurde, ergriff Habermas die Initiative für eine Replik. „Die Geschichte der Philosophie“, so Habermas’ Kontra, „ist nicht nur eine des Platonismus, sondern auch die des Protests gegen ihn.“32 Auf der einen Seite wäre der „Weg von der intellektuellen Anschauung des Kosmos über die Selbstreflexion des erkennenden Subjekts zur sprachlich inkarnierten Vernunft“33 ohne antiplatonische Strömungen schlichtweg nicht denkbar. Auf der anderen Seite hätten wir „ohne diese Unterwanderung der griechischen Metaphysik durch Gedanken genuin jüdischer und christlicher Herkunft […] jenes Netzwerk spezifisch moderner Begriffe, die im Begriff der kommunikativen und zugleich geschichtlich situierten Vernunft zusammen[fließen], nicht ausbilden können.“34 Als Beispiele führt Habermas u.a. „den Begriff der subjektiven Freiheit und die Forderung des gleichen Respekts für jeden“, „den Begriff der Autonomie, einer Selbstbindung des Willens aus moralischer Einsicht, die auf Verhältnisse reziproker Anerkennung angewiesen ist“ oder den „Einbruch des historischen Denkens in die Philosophie“ an.35 Damit ist die von Metz vorgetragene These einer Halbierung des Geistes widerlegt. Habermas’ Diskurstheorie wäre ohne die anamnetische Komponente nicht denkbar.

Im Gegensatz zu Habermas schien Metz von der Replik nur wenig bis gar nicht beeindruckt. Drei Jahre später – Metz nahm zu dieser Zeit nach der Emeritierung in Münster eine Gastprofessur in Wien wahr – antwortete er nochmals mit dem schmalen, zweiseitigen Artikel Athen versus Jerusalem? (1996) auf Habermas. In diesem Beitrag untermauerte Metz erneut seine These einer Halbierung des Geistes: „Man berief sich zwar auf die Glaubenstradition Israels, den Geist aber holte man sich ausschließlich aus Athen oder genauer aus den hellenistischen Traditionen, also aus einem subjektlosen und geschichtsfernen Seins- und Identitätsdenken, für das Ideen allemal fundierender sind als Erinnerungen.“36 Den Einwand von Habermas, gemäß dem „der anamnetische Geist der biblischen Tradition inzwischen längst in das Vernunftdenken der europäischen Philosophie eingedrungen sei“, kommentiert er mit den Worten: „ich zweifle“.37 Seinen Zweifel begründete Metz mit Blick auf die Theorie eines kommunikativen Handelns (1981), in der „die Katastrophen von Ausschwitz […] mit keinem Wort“38 Erwähnung finden, während Habermas im Zuge seiner Kleinen Politischen Schriften aber sehr wohl dazu Stellung bezog. Damit ist für Metz erwiesen, dass – wie er ironisch bemerkt – „die Kommunikationstheorie […] alle Wunden“39 heilt, weil selbst Habermas noch in der Tradition eines westlich-okzidentalen Denkens verharrt, das aus der Halbierung des Geistes bzw. der Hellenisierung des Christentums hervorging.

Der Austausch und die Diskussion mit Metz hinterließen bei Habermas sichtbare Spuren. Es war ein katholischer Theologieprofessor, der ihm gegenüber mit Nachdruck das Erbe Adornos, Benjamins oder Horkheimers einklagte. Dreizehn Jahr später bekundete Habermas in einem Gespräch mit Eduardo Mendieta, dass „Johann Baptist Metz […] das große Verdienst [hat], die Zeitempfindlichkeit nachmetaphysischen Denkens jenseits aller kontextualistischen Kurzschlüsse zu einem Thema gemacht zu haben, das eine Brücke zur zeitgenössischen Theologie bilden kann.“40 Die Frage nach der Aneignung der Geschichte bildet den gemeinsamen Nenner.

1.5. Der Mensch als Person: Liberale Eugenik

Die Fortschritte in den Biowissenschaften erreichten am Ende des 20. Jahrhunderts die ethische, rechtsphilosophische und politische Debatte in Deutschland.41 Die damit gegebene Möglichkeit einer Modellierung des Embryos setzte das ethische Problem, den Personenstatus des Embryos zu begründen, auf die Agenda. Dabei verzweigten sich mehrere, für den Laien nur schwer zu unterscheidende Debatten und Fragestellungen in einer richtungsweisenden Frage, die Habermas als Die Zukunft der menschlichen Natur (2001) kennzeichnete. Der Vorschlag von Habermas bestand darin, aus reziproken Anerkennungsverhältnissen, die sich Menschen im kommunikativen Handeln implizit zuschreiben, eine moralische Vorrangstellung des menschlichen Individuums zu begründen und damit auch den Embryo als Person im Diskurs zu berücksichtigen. Mit einer auf den formalen Prinzipien kommunikativen Handelns basierenden Gattungsethik versuchte Habermas, den Proponenten einer liberalen Eugenik entgegenzutreten. Aufschlussreich ist ein Interview, das Jürgen Habermas Thomas Assheuer und Jens Jensen unter dem Titel Auf schiefer Ebene (2002) gab. An entscheidender Stelle erklärte Habermas sehr eindringlich seine Sorgen angesichts einer möglichen Liberalisierung der Eugenik: „Nehmen wir einmal an, dass sich Eltern eines Tages genetische Designs aussuchen können, um für ihr geplantes Kind bestimmte Eigenschaften, Dispositionen oder Fähigkeiten pränatal festzulegen. Der Heranwachsende, der von einer solchen Programmierung erfährt, begegnet dann unter Umständen genetisch fixierten Absichten, die er sich nicht als Bestandteil seiner Identität zu Eigen machen möchte. Der musikalisch Begabte, der lieber Hochleistungssportler werden möchte, kann seinen Eltern vorwerfen, ihn nicht mit athletischen Fähigkeiten ausgestattet zu haben. Niemand kann Entscheidungen, die unwiderruflich durch das Sozialisationsschicksal einer anderen Person hindurchgreifen rechtfertigen. Niemand vermag vorauszusehen, was sich im lebensgeschichtlichen Kontext eines anderen als Fluch und Segen erweisen wird – selbst wenn es sich um ‚genetische Grundgüter‘ wie ein gutes Gedächtnis oder Intelligenz handelt. In manchen Kontexten mag einem Kind gar eine leichtere körperliche Behinderung zum Vorteil gereichen. Die Folgen sind unkalkulierbar, weil die Verteilung genetischer Ressourcen Spielräume mitbestimmt, innerhalb derer eine andere Person einmal von ihrer ethischen Freiheit Gebrauch machen wird, um ihr Leben in eigener Regie zu gestalten. In Konfliktfällen würde sich eine programmierte Person nicht mehr als ungeteilte Autorin ihres Lebens verstehen können. Und wenn diese Art von Fremdbestimmung nicht auszuschließen ist, ist auch die grundsätzliche Gleichstellung berührt. Angesichts einer kumulativen Verdichtung vergangener eugenischer Entscheidungen würden sich die Nachgeborenen gegenüber früheren Generationen nicht mehr als ebenbürtig betrachten können.“42 Das Dammbruchargument, das Habermas den Proponenten entgegenhält, besteht in der Warnung vor einer Destruktion des Selbstverständnisses der menschlichen Gattung: Wenn man ohne die Möglichkeit einer diskursiven Einbindung des Betroffenen aktiv in dessen genetische Konfiguration eingreift, dann bringt man das kommunikative Band, das auch zwischen den Generationen, zwischen Geborenen und Ungeborenen besteht, zum Reißen. Der Betroffene würde von der Konsensfindung suspendiert und seine Interessen durch die Dritter ersetzt. Vor diesem Hintergrund sperrt sich Habermas gegen jede Form einer Liberalisierung der Eugenik.

Was diese Debatte für die Religionsthematik interessant macht, ist der Umstand, dass Habermas Religion als Gesprächspartner in die Diskussion einzubeziehen versucht. Ganz deutlich wird dies in seinem Bezug auf die Genesisperikope 1,27. Diese Aussage empfiehlt Habermas als genuinen Beitrag von Seiten christlicher und jüdischer Gläubiger in die diskursive Konsensfindung einzubeziehen. In seiner Friedenspreisrede Glauben und Wissen (2001), auf die wir noch im Detail zu sprechen kommen, knüpft Habermas an die Debatte an und führt vor, wie eine derartige Beteiligung von Gläubigen aussehen könnte. Er zerlegt die Perikope aus Gen 1,27 (nach der Einheitsübersetzung: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie“) in zwei Komponenten und bietet eine Übersetzung im Sinn einer Entsakralisierung an:

Sakrale Form Nachmetaphysische Form
Aussage I Der Mensch ist Ebenbild Gottes Der Mensch ist ein mit Freiheit begabtes und zur Freiheit verpflichtetes Wesen
Aussage II Der Mensch ist Geschöpf Gottes Der Mensch verdankt sein natürliches Sosein nicht einem anderen Menschen

Diese Aussagen können nun von Seiten christlicher und jüdischer Gläubiger mit Geltungsanspruch in den öffentlichen Diskurs über die Liberalisierung von Eugenik eingespeist werden: Da der Mensch sein natürliches Sosein nicht einem anderen Menschen verdankt (Aussage II) und er zugleich zur Achtung der eigenen Freiheit und der jedes anderen Menschen verpflichtet ist (Aussage I), ist es laut christlicher und jüdischer Tradition illegitim, in die genetische Konfiguration eines Embryos einzugreifen. Damit streift Habermas endgültig die Säkularisierungsthese ab und lädt Religion ein, wenngleich unter Verpflichtung auf die Diskursregeln, sich am Diskurs öffentlicher Meinungsfindung zu beteiligen.

2. Postsäkulare Gesellschaft

Die Friedenspreisrede gilt gemeinhin als der Wendepunkt in Habermas’ Behandlung der Religionsthematik. Als entscheidendes Indiz dafür lässt sich der von Habermas erstmals verwendete und in weiterer Folge vielfach zitierte Terminus der postsäkularen Gesellschaft anführen. Vor diesem Hintergrund setzt der zweite Teil des Aufsatzes mit der Erörterung der Friedenspreisrede an und verfolgt deren Rezeption in der Debatte mit Joseph Ratzinger und den Jesuiten an der Hochschule für Philosophie in München.43

2.1. Die Friedenspreisrede als Wendepunkt: Eine postsäkulare Konstellation

Der 11. September 2001 hat sich in das kulturelle Gedächtnis nicht nur der amerikanischen Bevölkerung, sondern des gesamten westlich-okzidentalen Kulturkreises eingebrannt. Die terroristischen Anschläge auf die Twin Towers in New York und das Pentagon in Arlington sowie die missglückten auf das Weiße Haus in Washington D.C. sorgten für weltweite Betroffenheit und rückten die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Vernunft in den Fokus. Jürgen Habermas, der zu eben diesen Zeitpunkt an der New York University weilte, um im Rahmen eines Kolloquiums u.a. mit Ronald Dworkin und Thomas Nagel über die Risiken einer Liberalisierung der Eugenik zu diskutieren, scheute die ihm zugesprochene Verantwortung nicht und passte das Thema seiner Dankesrede zur Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels mit Glauben und Wissen (2001) dem aktuellen Tagesgeschehen an. Der Ordnungsversuch von Habermas bestand in einer Rekonstruktion des Säkularisierungsprozesses: „Wer einen Krieg der Kulturen vermeiden will“, so Habermas, „muss sich die unabgeschlossene Dialektik des eigenen, abendländischen Säkularisierungsprozesses in Erinnerung rufen.“44 Der Begriff der Säkularisierung wurde ursprünglich auf die „erzwungene Übereignung von Kirchengütern an die säkulare Staatsgewalt“ bezogen und bald auf die Moderne insgesamt übertragen: Seitdem verbinden sich mit Säkularisierung mit der „erfolgreiche[n] Zähmung der kirchlichen Autorität“ und „der widerrechtlichen Aneignung“ kirchlichen Eigentums entgegengesetzte Bewertungen.45 Diese Dialektik beschreibt ein Nullsummenspiel, in dem Gläubige und Nichtgläubige, in ihren Standpunkten festgefahren, einander sprachlos gegenüberstehen. Wo aber die Möglichkeit zu einer gemeinsamen Verständigung fehlt, dort droht die Gewalt das Ruder zu übernehmen. Vor diesem Hintergrund hat Säkularisierung als Deutungskategorie ausgedient. „Das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung“46 ist nach Habermas symptomatisch für die gesellschaftliche Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Deshalb gilt es Gläubige kooperativ in den Prozess der öffentlichen Konsensfindung miteinzubeziehen. Diese neue Form von Kooperation bezeichnet Habermas als postsäkular. Sie basiert auf drei Grundregeln: „Das religiöse Bewusstsein muss erstens die kognitiv dissonante Begegnung mit anderen Konfessionen und anderen Religionen verarbeiten. Es muss sich zweitens auf die Autorität von Wissenschaften einstellen, die das gesellschaftliche Monopol an Weltwissen innehaben. Schließlich muss es sich auf die Prämissen des Verfassungsstaates einlassen, die sich aus einer profanen Moral begründen.“47 So sind gläubige Bürger aufgefordert, sich nicht abzukoppeln, sondern am Prozess der öffentlichen Meinungsbildung zu beteiligen, indem sie ihre Traditionen diskursiv aufarbeiten und als Geltungsansprüche in den Diskurs einbringen.

2.2. Vorpolitische Grundlagen: Habermas und Ratzinger

Am 19. Januar 2004 gelang der Katholischen Akademie München mit einer Diskussion zwischen Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger ein Schachzug der Extraklasse. Erstmals standen sich der als konservativ geltende Kurienkardinal und der linke Vorzeigedenker unmittelbar in einer Diskussion gegenüber. Als Thema wurde den Diskutanten die Frage nach den vorpolitischen Grundlagen des demokratischen Staats vorgegeben. Zur allgemeinen Überraschung stimmten beide in großen Teilen überein, allerdings mit erheblichen Unterschieden in der Begründung. Habermas, auf dem ich mich im Folgenden konzentrieren werde, wählte als Ausgangspunkt für sein Referat das Böckenförde-Diktum, gemäß dem der freiheitlich säkulare Staat von normativen Voraussetzungen zehrt, die er selbst nicht mehr garantieren kann. Dies gestattet Habermas, die dritte Regel aus der Friedenspreisrede, gemäß der sich das religiöse Bewusstsein auf die Prämissen des Verfassungsstaats einzulassen hat, nochmals präzise herauszuarbeiten. In der Interpretation des Böckenförde-Diktums stehen sich zwei Modelle gegenüber: Eine substanzielle Auslegung und eine methodische. Habermas schließt sich der zweiten an, während Positivisten wie etwa Hans Kelsen oder Niklas Luhmann die erste Variante vertreten. Es geht Habermas um „eine Methode zur Erzeugung von Legitimität aus Legalität.“48 Bürger „sollen ihre Kommunikations- und Teilnahmerechte aktiv, und zwar nicht nur im wohlverstandenen eigenen Interesse, sondern auch Gemeinwohlorientiert wahrnehmen […, was] einen kostspieligen Motivationsaufwand, der legal nicht erzwungen werden kann“49 verlangt. Habermas attestiert der demokratischen Verfassung an sich, entsprechende Dynamiken freizusetzen, sodass „mit der Entbindung kommunikativer Freiheit […] auch die Teilnahme der Staatsbürger am öffentlichen Streit“50 gewährleistet ist. Was ist aber zu tun, wenn das soziale Band reißt, Politikverdrossenheit sich breitmacht und eine „Verwandlung der Bürger wohlhabender und friedlicher liberaler Gesellschaften in vereinzelte, selbstinteressiert handelnde Monaden [droht], die ihre subjektiven Rechte nur noch wie Waffen gegeneinander richten“? Diese Situation nimmt Habermas mit Böckenförde in den Blick: Er hält am Projekt der Aufklärung fest und spricht sich mit Nachdruck gegen eine voraufklärerische Bezugnahme auf metaphysische oder religiöse Elemente aus. Bereits in seiner Adorno-Preis-Rede diagnostizierte Habermas das Projekt der Aufklärung als ein unvollendetes. An dieser Stelle bezieht sich Habermas im Anschluss an die Friedenspreisrede erneut auf die Religion: „Im Gemeindeleben der Religionsgemeinschaften [… kann] etwas intakt bleiben, was andernorts verloren gegangen ist und mit dem professionellen Wissen von Experten allein auch nicht wiederhergestellt werden kann.“51 So innovierte die Religion schon im Zuge der Hellenisierung des Christentums das philosophische Denken mit folgenreicher Wirkung. Auch im 21. Jahrhundert ist eine „säkularisierende […] Entbindung religiös verkapselter Bedeutungspotentiale“52 zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung des liberalen Staatswesens notwendig. Dies geschieht damals wie heute nicht in Form eines unmittelbaren Bezugs, sondern als rettende Übersetzung. Die Rahmenbedingungen, in denen die umschriebene Aufgabe einer übersetzenden Aneignung von semantischen Potenzialen gelingen kann, gewährleistet die postsäkulare Gesellschaft, die auf den säkularen Prinzipien des liberalen Verfassungsstaates basiert.

2.3. Ein Bewusstsein von dem, was fehlt: Habermas zu Besuch bei den Jesuiten

Im Jahr 2007 folgte Jürgen Habermas einer von Michael Reder und Josef Schmidt angeregten Initiative zu einem Austausch über das Verhältnis von Glauben und Vernunft. An der Hochschule für Philosophie in München stellte er sich der Diskussion mit Norbert Brieskorn, Michael Reder, Friedo Ricken und Josef Schmidt. Sein Referat, auf das ich mich hier beziehe, überschrieb Habermas mit „Ein Bewußtsein von dem, was fehlt“. Im Gegensatz zur Wahrnehmung des Gespräches von Habermas mit Ratzinger wurde seine Diskussion mit den Jesuiten kritisch kommentiert. Ein genauerer Blick zeigt allerdings, dass solche Einschätzungen alleine an einzelnen Formulierungen ansetzen und nicht die Aussage des Textes im Ganzen in den Blick nehmen. Für Irritation sorgte vor allem der Begriff, den Habermas für die Bestimmung des Verhältnisses von Glauben und Vernunft einführte, nämlich jener des Opaken. Es handelt sich um die Substantivierung des Adjektivs opak, das die Undurchsichtigkeit bzw. Lichtundurchlässigkeit eines Stoffes beschreibt. Was will Habermas damit ausdrücken? Habermas grenzt sich gegen die Interpretation seiner Thesen als Fundamentaltheologie oder Philosophische Theologie ab: „Fides quaerens intellectum – so begrüßenswert die Suche nach der Vernünftigkeit des Glaubens ist, so wenig hilfreich scheint es mir zu sein, jene drei Enthellenisierungsschübe, die zum modernen Selbstverständnis der säkularen Vernunft beigetragen haben, aus der Genealogie der ‚gemeinsamen Vernunft‘ von Gläubigen, Ungläubigen und Andersgläubigen auszublenden.“53 Mit dem Begriff des Opaken versucht er die Differenz von Glauben und Vernunft zu veranschaulichen: „Der Glaube behält für das Wissen etwas Opakes, das weder verleugnet noch bloß hingenommen werden darf.“54 Entscheidend ist bei dieser Formulierung, dass der Ausdruck opak nicht auf die Religion an sich, sondern, so die Pointe von Habermas, auf die Wahrnehmung der Religion von Seiten der säkularen Vernunft bezogen wird. Mit anderen Worten: Bei der Attribuierung von Religion als opak handelt es sich um eine Art von Geschmacksurteil im Kant’schen Sinn, das seiner Form entsprechend Auskunft über die säkulare Vernunft und somit gerade nicht über die Religion gibt. Habermas äußert sich nicht zur Religion an sich, sondern thematisiert das Verhältnis moderner Gesellschaftsformen zu ihr. Diese Gesellschaftsformen drohen zu entgleisen, wenn sie ihre Beziehung zur Religion nicht angemessen bestimmen. Zwar lässt sich „der Riß zwischen Weltwissen und Offenbarungswissen […] nicht wieder kitten“, aber die Sinngehalte der religiösen Tradition können von der modernen Gesellschaft positiv aufgenommen werden, wenn die Kommunikation nicht in Form „eines Filters [erfolgt], der die Traditionsgehalte ausscheidet“, sondern „in Form eines Transformators, der den Strom der Tradition umwandelt“55. Deutlich grenzt sich Habermas dabei von seinem ehemaligen Gesprächspartner Joseph Ratzinger, mittlerweile Papst Benedikt XVI., und dessen Regensburger Rede ab. „Der Papst beruft sich auf die von Augustin bis Thomas gestiftete Synthese aus griechischer Metaphysik und biblischem Glauben und bestreitet implizit, daß es für die in der europäischen Neuzeit faktisch eingetretene Polarisierung von Glauben und Wissen gute Gründe gibt.“56 Damit arbeitet Ratzinger an einer Gegenaufklärung, die nicht gewillt ist, sich auf ihr säkulares Gegenüber einzulassen.

3. Ausblick

Das Verhältnis zwischen Glauben und Wissen, das Habermas seit seiner Theorie des kommunikativen Handelns (1981) auszuloten trachtet, weist eine Kontinuität in Brüchen auf. Die Trennung der beiden Sphären von Glauben und Wissen erfolgt stets in Form einer Kritik der Vernunft. Dabei arbeitet sich Habermas Schritt für Schritt an einem aus dem Säkularisierungsprozess hervorgegangenen Vernunftbegriff ab. Während sich Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns (1981) noch für eine Aufhebung von Religion in kommunikative Prozesse ausspricht, markiert er mit seiner These einer postsäkularen Gesellschaft den bleibenden Fortbestand von Religion in zunehmend säkularisierten Gesellschaftsformen. Damit ersetzt Habermas die Aufhebung durch die Übersetzung: Religiöse Gruppierungen sollen ihre Überzeugungen, so der Vorschlag von Habermas, zu Geltungsansprüchen umformen und diese in den öffentlichen Diskurs einspielen. Auf diesem Weg bemüht sich Habermas, das dialektische Verhältnis der Moderne zu ihren religiösen Wurzeln zu überwinden.

1 Exemplarisch sei auf die harsche Kritik in der Besprechung von Karl Markus Michel, Habermas’ früherem Lektor im Suhrkamp Verlag verwiesen, der seine Rezension mit dem polemischen Kommentar im Spiegel von 22. März 1982 schloss: „Lieber Jürgen Habermas, mußte das sein? Ich werfe Ihnen nicht vor, daß Sie ein akademisches Buch geschrieben haben, eher, daß Sie die Pforten zum Akademischen als ein enges Nadelöhr verstehen. Das höckrige Kamel, das Sie da hindurchtreiben, kommt drüben als ein endloser Bandwurm heraus“.

2 Ich beschränke mich an dieser Stelle auf die genannten fünf Diskussionskonstellationen. Einen Literaturbericht über die Aufnahme von Habermas seitens der Theologie bis zum Ende der 1980er-Jahre bietet Arens, E. (1989) „Theologie nach Habermas: Eine Einführung“, in Ders. (Hg.) Habermas und die Theologie, Düsseldorf: Patmos, S. 9–38.

3 Habermas, J. (1981) Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M.: Suhrkamp, Bd. II, S. 119.

4 Habermas (1981) II, 79f.

5 Habermas (1981) II, 120.

6 Habermas (1981) II, 121.

7 Habermas (1981) II, 153.

8 Diesen Zusammenhang stellt Habermas in Habermas, J. (1992) Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M.: Suhrkamp, Kap. 8: „Individuierung durch Vergesellschaftung“ nochmals im Detail heraus. Eine entwicklungspsychologische Interpretation legt er bereits in Habermas, J. (1976) Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp, Kap. 3: „Moralentwicklung und Ich-Identität“ vor.

9 Habermas (1981) II, 119.

10 Menke, C. (2009) „Aporien der kulturellen Moderne“, in Brunkhorst, H., Kreide, R., Lafont, C. (Hg.) Habermas-Handbuch, Stuttgart: J. B. Metzler, S. 205–214.

11 Im Vorwort erwähnt Habermas beiläufig, dass er u.a. durch die Lektüre von Jean-François Lyotard (1979) La condition postmoderne, Paris: Editions de Minuit angeregt wurde. Welsch, W. (2008) Unsere Postmoderne Moderne, Siebte Auflage, Berlin: Akademie Verlag, S. 164 kritisierte allerdings den Umstand, dass Habermas sodann mit keiner Silbe auf Lyotard zu sprechen kam, woraufhin sich Manfred Frank 1988 in die Debatte mit den Band Die Grenzen der Verständigung: Ein Streitgespräch zwischen Lyotard und Habermas, Frankfurt/M.: Suhrkamp einschaltete und die argumentativen Fronten zu klären versuchte.

12 Habermas, J. (1988) Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp,

13 Habermas (1988) 362.

14 Habermas (1992) 275.

15 Habermas (1992) 277.

16 Habermas (1992) 277.

17 Henrich, D. (1987) Konzepte, Frankfurt/M.: Suhrkamp, Kapitel 1: „Was ist Metaphysik – was Moderne? Zwölf Thesen gegen Jürgen Habermas“; Henrich, D. (1989) „Die Anfänge der Theorie des Subjekts (1789)“, in Honneth, A. (Hg.) Zwischenbetrachtung, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 106–170. Einen Überblick über die Debatte bietet Haider, P. (1999) Jürgen Habermas und Dieter Henrich: Neue Perspektiven auf Identität und Wirklichkeit, Freiburg/Br.: Karl Alber, Kapitel 2.

18 Habermas (1992) 34f.

19 Diese und weitere Texte finden sich in Arens, E. (Hg.) (1989) Habermas und die Religion, Düsseldorf: Patmos und wurden über Vermittlung von Francis Schüssler Fiorenza von der Harvard Divinity School nochmals in dem Band Browning D., Schüssler Fiorenza, F. (1992) Habermas, Modernity, and Public Theology, New York: Crossroad ohne sichtbaren Bezug auf Edmund Arens’ Habermas-Festschrift kompiliert.

20 Habermas (2009) Kritik der Vernunft. Philosophische Texte 5, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 417.

21 Habermas (2009) 427.

22 Habermas (2009) 427f.

23 Habermas (2009) 428.

24 Habermas (2009) 429.

25 Habermas (2009) 430.

26 Nicht unerwähnt bleiben darf, dass Habermas unter der Leitung von Edmund Arens parallel eine eigene Festschrift überreicht wurde, die genuin theologische Beiträge versammelt: Arens (1989).

27 Ratzinger, J. (1983) „Europa – verpflichtendes Erbe für die Christen“, in König, F., Rahner, K. (Hg.) Europa: Horizont der Hoffnung, Graz, Wien, Köln, S. 68 – Besagtes Ratzinger-Zitat führt Metz regelmäßig als paradigmatischen Beleg an.

28 Metz, J. B. (1988) „Anamnetische Vernunft: Anmerkungen eines Theologen zur Krise der Geisteswissenschaft“, in Honneth, A. (Hg.) Zwischenbetrachtung: Im Prozeß der Aufklärung, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 733.

29 Metz (1988) 734 – Hervorhebung vom Verf.

30 Metz (1988) 737.

31 Eine Diskussion von Peukerts Arbeitet bietet der Band John, O., Striet, M. (Hg.) (2010) „… und nichts Menschliches ist mir fremd“: Theologische Grenzgänge, Regensburg: Friedrich Pustet.

32 Habermas, J. (1994) „Israel und Athen oder: Wem gehört die anamnetische Vernunft?“ in Metz, J. B. (Hg.) Diagnosen zur Zeit, Düsseldorf: Patmos, S. 54.

33 Habermas (1994) 55.

34 Habermas (1994) 56.

35 Habermas (1994) 56.

36 Metz, J. B. (1996) „Athen versus Jerusalem? Was das Christentum dem europäischen Geist schuldig geblieben ist“, in Orientierung, Nr. 60, S. 59.

37 Metz (1996) 59.

38 Metz (1996) 59f.

39 Metz (1996) 60.

40 Habermas, J. (2012) „Ein neues Interesse der Philosophie an Religion“, in Ders. Nachmetaphysisches Denken II, Berlin: Suhrkamp, S. 119.

41 Auf den Streit mit Peter Sloterdijk gehe ich an dieser Stelle ebenso wenig ein wie auf die weitverzweigten ethischen und rechtsphilosophischen Debatten, die Habermas u.a. mit Dieter Birnbacher, Ronald Dworkin, Thomas McCarthy, Reinhard Merkel, Thomas Nagel, Ludwig Siep oder Robert Spaemann führte. Einen Überblick über den Argumentationsgang bietet Schmidt, T. M. (2009) „Menschliche Natur und genetische Manipulation“, in Brunkhorst, H., Kreide, R., Lafont, C. (Hg.) Habermas-Handbuch, Stuttgart: J. B. Metzler, S. 282–291.

42 Assheuer, T., Jenssen, J. (2002) „Auf schiefer Ebene. Ein Interview mit Jürgen Habermas“, in Die Zeit, Nr. 5, S. 33.

43 Ich beschränke mich in meiner Darstellung auf diese drei Vorträge von Habermas. Weiterführend sei auf Habermas’ Aufsatzsammlungen Habermas, J. (2005) Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt/M.: Suhrkamp und Habermas, J. (2012) Nachmetaphysisches Denken II, Berlin: Suhrkamp verwiesen.

44 Habermas, J. (2001) Glauben und Wissen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 11.

45 Habermas (2001) 12.

46 Habermas (2001) 10.

47 Habermas (2001) 14.

48 Habermas, J. (2005) „Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?“, in Habermas, J., Ratzinger, J. Dialektik der Säkularisierung, Freiburg/Br.: Herder, S. 20.

49 Habermas (2005) 22.

50 Habermas (2005) 23.

51 Habermas (2005) 31.

52 Habermas (2005) 32.

53 Habermas (2009) 416.

54 Habermas (2009) 411.

55 Habermas (2009) 410f.

56 Habermas (2009) 415f.

Habermas und die Religion

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