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Zygmunt Bauman
Allein in der flüchtigen Welt
Die Haustür steht offen. Der Philosoph und seine Frau erwarten mich im Flur. Er ist gerade von Vorträgen aus Estland zurückgekehrt – mit seinen 89 Jahren reist er noch immer um die Welt.
Ich bin im Haus des Mannes, bei dem meine Suche begann. Seine Tochter hat mich hergebracht. Sie dirigiert mich in ein angrenzendes Zimmer, in dem Bücher nicht nur auf den von Backsteinen gestützten Bücherregalen, sondern auch in unordentlichen kleinen Stapeln in den Zimmerecken auf dem Boden liegen. Außerdem sind vier Stühle um einen kleinen Tisch gruppiert. Auf ihm sind Teller mit Krabben- und Fischtoasts bereitgestellt.
Der berühmte polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman reicht sie seiner Frau, seiner Tochter und mir während unseres Besuches immer wieder an.
Bauman zufolge fühlen wir uns in unserer sich schnell verändernden Welt nicht mehr geborgen, wir fühlen uns von ihr entfremdet. Die Welt ist flüchtig geworden. Nichts bleibt davon verschont. Die Politik verliert ebenso an Stabilität wie die Liebe. In einer Zeit des Speed- und Onlinedatings wird die alte Bindung in einer Ehe durch serielle Monogamie ersetzt; der alte Nationalstaat muss seinen Platz für supranationale Verbände wie die Europäische Union räumen – aber heimisch fühlen wir uns weder hier noch dort.
Wie kommt das? Bauman hält einen rasend schnellen Kurzvortrag über die Entstehungsgeschichte des Nationalstaats. „1648 wurde der Westfälische Frieden geschlossen. Vertreter aller bedeutenden europäischen Mächte wollten den verheerenden Religionskriegen ein Ende setzen. Damals erst akzeptierten sie wirklich ein Diktum, das aus dem Jahr 1555 stammte, als der Friede von Augsburg geschlossen wurde: cuius regio, eius religio. Wer die Macht hat, darf entscheiden, an welchen Gott seine Untertanen glauben müssen. Bist du Protestant, beschließt du, dass das Land protestantisch ist; bist du Katholik, legst du fest, dass es katholisch sein soll. Diese Regel gilt noch immer: Jeder Staat kann für sich allein bestimmen, was für ein Leben seine Bürger führen dürfen. Die Nachbarländer haben da nichts mitzureden – das würde die staatliche Souveränität verletzen.“
Solange die territoriale Souveränität für die Menschen Bedeutung hatte, war diese Formel von Bedeutung. Aber diese Zeit ist vorbei, sagt Bauman. „Wir leben in einer globalisierten Welt: Was man in den Niederlanden tun kann, häng davon ab, was in Bangladesch, Honolulu, China, Indien oder Südafrika passiert. Wir sind alle voneinander abhängig. Regierungen steht es nicht mehr frei, allein Beschlüsse zu fassen; ihnen sind die Hände gebunden. Angenommen, sie träfen eine Entscheidung, von der die Banken nicht gerade begeistert sind. Dann zögen diese ihren Kredit zurück und vergäben ihn irgendwo anders. Was eine enorme Arbeitslosigkeit zur Folge hätte. Die Regierungsführer müssen daher den Forderungen dieser multinational agierenden Konzerne entgegenkommen, zugleich müssen sie jedoch die Stimme der lokalen Bevölkerung vertreten – und die sagt doch etwas völlig anderes. Auf diese Stimme müssen sie sehr gut hören. Sonst werden sie nicht wiedergewählt.
Dadurch kommt es zu einer gewaltigen Kontroverse und Entfremdung zwischen den Menschen, die in den Regierungsgebäuden sitzen, und den Menschen, die sie gewählt haben. Die Folge ist eine Vertrauenskrise – nicht nur ein Mangel an Vertrauen in eine bestimmte politische Partei, sondern in das ganze System. Das System hält nicht, was es versprochen hat, und die Bevölkerung glaubt nicht mehr, dass die Regierung noch das Heft in der Hand hält.
Die Folge ist, dass sich die sozialen Bindungen aufzulösen beginnen; jeder entscheidet nur noch für sich selbst. Wir sind moralisch blind geworden.“
Wozu führt diese moralische Blindheit?
„Zu einer Solidaritätskrise! Früher haben die Menschen eingesehen, dass sie gemeinsame Interessen hatten. Das ermutigte sie dazu, Schulter an Schulter zu stehen und sich einer gemeinsamen Sache anzuschließen. Aber heute … Sie arbeiten als Journalist?“
Ja.
„Dann wissen Sie, dass es zwischen Ihnen und Ihren Kollegen einen Kampf gibt. Es herrscht keine Solidarität mehr. Wenn jemand erfolgreich ist, eine größere Kolumne bekommt, dann ist das für Sie ein Verlust. Woran sie denken, ist to be one up someone.“
Bauman hält eine Hand über die andere. „Das ist wie beim Kartenspiel: Sie haben einen Punkt mehr als der andere. In der Wirtschaft bedeutet das: Ihrem Kollegen wird gekündigt, nicht Ihnen. Das betrifft nicht nur die Arbeitswelt, das gilt für alle Institutionen. Sie sind heute keine Stätten der Solidarität mehr, sondern sind von gegenseitigem Misstrauen und Wettstreit durchsetzt.
Gestreikt wird beispielsweise nur in relativ sicheren Institutionen. Menschen streiken also noch immer, wenn sie sich sicher sind, dass sie ihre Stelle garantiert nicht verlieren werden. Aber wo die Kräfte des Marktes herrschen, liegen die Dinge ganz anders. Die Menschen haben den Mut verloren. Es wird ein anderes Unternehmen kommen, das das eigene auffrisst. Und wenn man lästig ist, ist man der Erste, der rausfliegt.
Der Mangel an Solidarität entsteht also nicht, weil die Menschen nicht mehr solidarisch sein wollen; die Umstände sind solidarischem Handeln gegenüber feindlich. Wenn man sich selbst nun einer gemeinsamen Sache anschließt, wird einen das nicht retten. Im Gegenteil.“
Die Popularität von Umweltbewegungen und des Engagements für gute Zwecke zeigt doch auch, dass es den Menschen nicht nur um sie selbst geht?
„Da macht sich unser Gewissen bemerkbar. Es völlig zu unterdrücken, ist uns noch nicht gelungen. Wir sind auch soziale Wesen, die sich irgendwo zugehörig fühlen wollen. Außerhalb der Polis – ob es sich dabei nun um eine Stadt, ein Land oder ein anderes politisches Organ handelt – können nur Engel und Tiere leben. Wir sind keine Engel, doch Tiere wollen wir auch nicht sein. Deshalb brauchen wir eine Polis. Wir wissen, dass Sokrates die Wahl hatte: die Verbannung aus Athen oder den Giftbecher. Er trank lieber das Gift, als sich aus der Stadt vertreiben zu lassen. So sind auch wir beschaffen; wir sind soziale Wesen. Allein können wir nicht überleben.
Daher rührt die explosionsartige Solidarität. Ständig gibt es Ausbrüche. Etwa die Demonstrationen gegen die Exzesse des Kapitalismus in Madrid und Barcelona. Wir haben ein Bedürfnis, aneinander festzuhalten, oder auch nur zusammenzukommen. Dann vergessen wir unsere kleinen Meinungsverschiedenheiten und suchen eine Sache, die uns alle verbindet. Wir wollen nicht in unserer Einsamkeit gefangen bleiben. Wir hören einen eingängigen Slogan, gehen auf die Straße oder stellen uns auf einen Platz – manchmal wochenlang.
Und was passiert dann? Wir waren so fasziniert vom arabischen Frühling. Aber wo bleibt der arabische Sommer, frage ich mich. Oder denken Sie an die Movimiento de los Indignados, die Bewegung der Empörten, in Madrid: Millionen Menschen gingen aus Protest auf die Straße und demonstrierten so ihre Macht. Was ist daraufhin passiert? Nichts! Die Zahl der Arbeitslosen steigt; überall sieht man Wut und Hass. Es besteht also eine Diskrepanz zwischen dem explosiven Gefühlsausbruch und der Fähigkeit, effektiv zu handeln. Diese Aktionen brechen aus wie Explosionen, lösen sich aber auch schnell wieder auf, ohne eine Spur zu hinterlassen.“
Gibt es denn keine Alternative zur
heutigen Form des Zusammenlebens?
„Selbst wenn wir nicht weiser werden, so wird dennoch etwas geschehen. Wir kommen ja nicht darum herum, uns zu verändern, weil die Umstände uns dazu zwingen. Auf die Dauer ist unsere Art zu leben nicht nachhaltig. Der Planet kann so nicht überleben. Bei Problemen schauen wir heute nur auf das Bruttonationaleinkommen. Verringert es sich, sind wir alle verzweifelt; wächst es, sind wir alle glücklich – alles ist okay. Das Problem liegt jedoch darin, dass wir so nicht ewig weitermachen können. Das überlebt der Planet nicht. Für unseren Bedarf brauchen wir heute schon anderthalb Planeten. Das ist viel mehr, als die Erde liefern kann, ohne verwüstet zu werden. Und wenn es so weitergeht, wenn China, Indien, Südafrika, Brasilien und Russland denselben Standard erreichen wie die Niederlande, brauchen wir vier Planeten.“
Das wissen wir doch. Warum ändern
wir unser Verhalten dann nicht?
„Wir wissen das zwar, aber wir tappen suchend und tastend durch die Dunkelheit, auf der Suche nach Instrumenten, um daran etwas zu ändern. Die Mechanismen und Institutionen, über die wir verfügen – kollektive Aktionen, politische Parteien, Parlamente, Wahlen – sind von unseren Großeltern und Urgroßeltern geschaffen worden, um dem Nationalstaat zu dienen. Aber wir leben heute in einer globalen Welt, auf einem Planeten, nicht in einem Nationalstaat. Das Problem ist, dass wir kein Äquivalent zu den Parteien und Parlamenten entwickelt haben, das in der Lage wäre, mit globalen Problemen umzugehen.“
Welche Instrumente brauchen wir?
„Ich bin kein Prophet, das kann ich nicht vorhersagen. Lassen Sie mich Reinhart Koselleck zitieren, den deutschen Ideenhistoriker. Er verwendet die Metapher eines Gebirgspasses. Stellen Sie sich vor, Sie steigen einen sehr steilen Hang hinauf. Sie dürfen nicht aufhören hinaufzuklettern, denn es gibt Seitenwinde und es regnet heftig. Auch vorübergehend ein Lager zu errichten, ist nicht möglich. Wenn Sie überleben wollen, müssen Sie weiterklettern. Aber während Ihres Aufstiegs sehen Sie nicht, was sich auf der anderen Seite des Gebirgspasses befindet. Das sehen Sie erst, wenn Sie dort angekommen sind. Und Sie sehen es nicht nur nicht, Sie haben auch keine Worte dafür.“
Philosophen entwickelten zwar Instrumente, sagt Bauman, aber die erhielten in der Praxis eine ganz andere, für diese Philosophen unvorhersehbare Form. Das gelte zum Beispiel für Aristoteles’ Demokratievorstellungen. „Stellen Sie sich vor, Aristoteles wäre ins Westminster eingeladen worden, den Ort, an dem das britische Parlament – die Mutter aller Parlamente – zusammenkommt. Er fände es wahrscheinlich schön, dass Menschen unterschiedliche Meinungen vorbringen. Sie streiten sich auch …“ Bauman streckt begeistert eine Faust in die Luft. „Und manchmal gibt es sogar eine Schlägerei! Und zu guter Letzt gibt es Wahlen. Ah, sehr gut! Die Leute hier sind aufrichtig engagiert und beteiligt. Aber Aristoteles würde wohl lachen, wenn er hören würde, dass sei nun Demokratie. Denn für ihn bedeutete Demokratie, dass du und ich und alle anderen sich auf dem Markt trafen, um dort miteinander zu reden und zu streiten. Die Tatsache, dass man sein Bürgerrecht an jemanden im Westminster Palace delegieren könnte, wäre Aristoteles vollkommen fremd. Er würde es nicht verstehen.
Heute sind wir in derselben Position. Sie fragen, welche Institutionen es zukünftig geben wird. Wir denken dabei in Kategorien wie denen eines Parlaments. Genau so etwas, nur um einiges größer. Aber damit liegen wir falsch! So kann es nicht funktionieren. Ebenso wenig wie Westmister Palace den Erfahrungen auf der Agora, dem Athener Marktplatz, entspricht.
Es muss eine neue Idee her. Eine neue Form. Doch solange wir den Bergpass nicht überstiegen haben, wissen wir nicht welche. Trotzdem müssen wir es versuchen. Dann wird etwas passieren, im 21. Jahrhundert. In den kommenden Jahrzehnten wird etwas Neues aufgebaut werden, eine moderne Demokratie, die die alte Demokratie unserer Vorfahren ablösen wird. Eine moderne Demokratie für die ganze Welt. Ich werde nicht mehr lange da sein, aber Sie sind noch sehr jung. Ich denke, dass Sie sie noch erleben werden.“