Читать книгу Leben in schwierigen Zeiten - Группа авторов - Страница 8
Einleitung
ОглавлениеDu steigst einen Berg hinauf. Der Hang ist steil, der Seitenwind ist heftig und der Regen prasselt auf dich herab. Aber wenn du überleben willst, musst du weitergehen. Zwischendurch ein Lager aufzuschlagen, ist vollkommen unmöglich. Du gehst weiter auf den Gebirgspass zu, siehst aber noch nicht, was sich auf der anderen Seite des Berges befindet. Und wenn diese andere Welt schon sichtbar wäre, hättest du keine Worte dafür.
Dieser Weg über den Gebirgspass ist der Weg des modernen Menschen, erklärte mir der polnisch-britische Denker Zygmunt Bauman einmal – während wir gemütlich in seinem Wohnzimmer zusammensaßen.
Wonach sind wir in unserer Zeit auf der Suche? Bauman sprach über den umherirrenden Menschen, der sich in der – wie er sie bezeichnet – flüchtigen Welt nicht mehr heimisch fühle. Unser Land sei flüchtig geworden, ebenso wie die Welt und auch die Beziehungen zu unseren Mitmenschen, ja sogar zu unseren Liebsten. Bauman zufolge suchen wir verzweifelt nach neuen Formen des Zusammenlebens.
Ist eine neue Verbundenheit mit dieser Welt möglich, fragte ich ihn? Können wir eine Welt schaffen, in der wir uns heimisch fühlen?
Im Laufe des 21. Jahrhunderts werde etwas geschehen, sagt er. In den kommenden Jahrzehnten wird etwas Neues aufgebaut werden. Aber dafür müssen wir weitergehen – uns weiterhin abmühen und weiterhin nachdenken. „Ich werde dann längst nicht mehr hier sein, aber Sie sind noch sehr jung. Ich denke, dass Sie diese neue Welt noch sehen werden.“
Zwei Jahre nach diesem Gespräch starb Zygmunt Bauman im Alter von 91 Jahren. Und ich versuchte, eine Antwort auf die Frage dieses suchenden Menschen zu finden. Wie sah wohl die Welt auf der anderen Seite des Gebirgspasses aus? Das erkundete ich, indem ich die anderen großen Denker dieser Zeit zurate zog. Zunächst fragte ich sie jedoch, ob sie die Vorstellung, dass wir den Kontakt zur Welt verloren haben, teilen.
Diese Suche führte mich in die entlegensten Winkel der menschlichen Existenz. Wir sprachen über das Gefühl, unserer politischen Gesellschaft entfremdet zu sein: In unseren alten Nationalstaaten fühlen wir uns nicht mehr heimisch, aber in den neuen supranationalen Verbänden wie Europa ebenso wenig. Wir sprachen auch über die immer stärkere Beschleunigung des Lebens, durch die das Weltspektakel im Nu an uns vorbeizieht. Darüber redete ich mit Deutschlands großem Beschleunigungsphilosophen (bzw. Entschleunigungsguru, wie er auch genannt wird) Hartmut Rosa. Bei einem Burn-out, sagt er, ist man nicht mehr in Resonanz mit der Welt.
In meinen Gesprächen ging es auch um die Entfremdung in unserem Arbeitsleben. Diese Erfahrung, erklärte mir der französische Technikphilosoph Bernard Stiegler, als wir spätabends in einer Schawarma-Bude saßen, habe sich seit Marx noch verstärkt. Gemeinsam schauten wir dabei dem Mann zu, der unser Essen zubereitete.
Und ebenso ging es um die bedrohlichste Entwicklung. Wir leben in einem neuen geologischen Zeitalter: dem Anthropozän. Zum ersten Mal gibt es auf unserer Erde keine Region mehr, die nicht vom Menschen beeinflusst ist. Dieser menschliche Einfluss hat bis heute schon zu einer Klimakatastrophe geführt, die die Welt zukünftig vielleicht unbewohnbar machen wird. Wie ist es noch möglich, eine Verbundenheit mit der Welt zu bewahren, wenn wir deren Untergang erwarten?
Aber es gibt auch eine andere Form der Entfremdung von der Welt, eine Entfremdung, die – im Unterschied zu den sonstigen Formen – viel stärker bei uns selbst ansetzt.
Wir zweifeln an der Existenz der Welt.
Eine kurze Untermauerung dieser These – ich weiß, sie ist hier notwendig. Wir zweifeln doch gar nicht? Das tun andere. Das sehen wir in Filmen wie Matrix. Oder das hören wir von weltfremden Menschen, wie dem Elektroautoguru und Raumfahrtunternehmer Elon Musk, der glaubt, die Welt sei nur eine Computersimulation.
Aber wir … Wir leben doch unser Leben, arbeiten mit unseren Kollegen zusammen, unternehmen Ausflüge in die Natur, schwimmen im Meer, atmen die Luft ein, teilen unser Leben mit unseren Freunden und unserer Familie und wohnen mit unseren Liebsten oder mit anderen Menschen zusammen. Wir leben in der Welt.
Dennoch bin ich davon überzeugt, dass in unserer Zeit eine starke Tendenz zur Weltverleugnung besteht. Heute vor fast 400 Jahren schrieb ein Philosoph – zeitweilig wohnhaft in den Niederlanden – ein Traktat, das diese Tendenz auf dramatische Weise demonstrierte. Descartes führte sein berühmtes Zweifelexperiment durch. War alles, was er für wahr hielt, nur ein Trugbild der Sinne? Träumte er denn etwa? Wurden ihm die Ideen womöglich von einem bösen Dämon eingeflüstert? Wenn wir den Aufzeichnungen des Franzosen Glauben schenken, stießen ihn diese Fragen in eine große Verwirrung: „Gleich als wäre ich unversehens in einen tiefen Strudel gestürzt, bin ich so verstört, dass ich weder auf dem Grunde Fuß fassen, noch zur Oberfläche mich erheben kann.“
Descartes gelang es, durch eine außergewöhnliche dramatische Wendung – ein deus ex machina – das Vertrauen in seine Wahrnehmung wiederherzustellen. Aber genügt das? Bleibt nicht immer ein nagendes Gefühl zurück? Wenn man einmal an der eigenen Wahrnehmung, die einem bisher verlässlich Zugang zur Welt gewährte, zu zweifeln beginnt, verliert die Welt, wie man sie kennt, dann nicht ihre Selbstverständlichkeit?
Descartes’ Zeitgenosse Francis Bacon machte vielleicht noch deutlicher, wie fundamental dieser Zweifel ist. Ihm zufolge werden wir von Idolen, von Vorurteilen, beherrscht. Sind unsere Vorstellungen über die Welt nicht nur eine Folge unserer Erziehung oder auch unserer Sprache, die für uns wie Fenster zur Welt darüber entscheiden, was wir sehen und was nicht? Vielleicht haben unsere Ideen über richtig und falsch ihren Ursprung gar nicht in der Welt oder in göttlichen Geboten, sondern sind lediglich das Produkt unseres Geistes. Und wie verhält es sich in Bezug auf die Schönheit der Welt? Finden wir eine Rose schön, weil sie selbst schön ist? Oder ist ihre Schönheit nur eine Projektion unserer „blumigen Einbildungskraft“?
Gewiss, solche Fragen führten zum Aufblühen der Aufklärungskultur, nach der sich der Mensch seines eigenen Verstandes bediente, um die Welt zu erforschen, und sich das Wissen über die Welt schnell erweiterte. Aber der Mensch sollte sich dadurch in der Welt auch weniger heimisch fühlen: Er war zu einem Forschenden geworden, der seine eigene Stellung in der Welt kritisch beäugte, womit der unschuldige Blick auf sie verloren ging. Die ehemals heimische Welt war zum Forschungsfeld des wissenschaftlichen Menschen geworden.
Dieser Zweifel an allem wirkt – zugegebenermaßen – auf den ersten Blick recht skurril: Ist er nicht etwas, was man bei Jugendlichen und Heranwachsenden und im höheren Alter bei zerstreuten Professoren beobachten kann? Welchen Sinn hat dieser seltsame philosophische Zweifel an der Existenz der Welt, wenn wir doch alle wissen, dass das wirkliche Leben einfach weitergeht und sich nicht um diese zweifelnden Gedanken schert? Das führte schon lange vor der Zeit Descartes’ zum Bild des Philosophen als eines Menschen, der nach den Sternen schaut und dabei in einen Brunnen stürzt. Was lehrt uns das? Man kann sich noch so kluge Gedanken machen und sogar an der Existenz des Selbstverständlichsten zweifeln, die wirkliche Welt bleibt dennoch einfach bestehen.
Gleichwohl sind wir heute alle, denke ich, zu solchen zerstreuten Philosophen geworden, die in einen Brunnen stürzen. Das zweifelnde Denken hat uns moderne Menschen im Griff. Philosophen sind wir – aber seltsame Philosophen. Hören Sie sich nur einmal an, wie wir über Meinungen reden: Meinungen sind etwas rein Persönliches, das nicht mehr mit der Welt korrespondiert. Sie erheben keinen Anspruch mehr auf Wahrheit, sondern höchstens auf ein Wahrheitsempfinden. Je authentischer, je tiefer empfunden etwas ist, desto wahrer ist es. Eine Debatte darf nicht mehr geführt werden – die Meinung jedes anderen ist heutzutage zu respektieren. Wodurch wir zu noch größerer Einsamkeit verurteilt sind.
Dieser Zweifel an der Welt hat sich noch einmal verstärkt, seit wir in einer Post-Truth-Ära leben. Alternative Fakten treten an die Stelle von Fakten. News werden als Fake-News bezeichnet. Psychotherapeuten nennen diese Strategie Gaslighting, erklärt mir die amerikanische Philosophin Susan Neiman. Das Ziel dieser Strategie: die Opfer an sich selbst, an ihren eigenen Erinnerungen und an ihrem gesunden Menschenverstand zweifeln zu lassen. Der Begriff „gaslighting“ ist dem Film Gaslight (Das Haus der Lady Alquist) des Regisseurs George Cukor entlehnt, in dem ein Ehemann seine Frau in den Wahnsinn zu treiben versucht, indem er vom Dachboden aus das Licht der Gaslampen im Haus flackern lässt – während seine Frau nicht ahnt, was er ausheckt.
Infolge einer solchen Verwirrung misstrauen wir der geteilten Wirklichkeit, sagt Neiman. Und wenn wir keine geteilte Welt mehr haben, fallen wir auch als Gemeinschaft auseinander.
Diese Entfremdung zwischen Mensch und Welt ist auch bei dem Thema erkennbar, auf das wir fast zwangsläufig kommen, wenn wir nur lange genug miteinander reden: dem Sinn des Lebens. Sinn ist zu einer Privatsache geworden, voller Übermut erkennen wie ihn selbst dem Leben zu. Wir können ihn selbst bestimmen, ohne die Welt, die uns den Sinn schenkt, und erst recht ohne die Götter, die die Welt einst verzauberten. Darüber sprach ich mit Terry Eagleton. „Stellen Sie sich vor“, sagte er, „jemand würde zu Ihnen sagen: Der Sinn des Lebens liegt darin, solange Whisky zu trinken, bis Sie nicht einmal mehr kriechen können. Dann sage ich doch: Das stimmt nicht.“
Warum stimmt das nicht? Vielleicht – dachte ich – weil etwas nur sinnvoll ist, wenn es nicht destruktiv ist, sondern zu unserem Wohlergehen und Gedeihen beiträgt. Oder bin ich nun zu moralistisch?
Aber es gibt noch ein weiteres Problem: Man bekommt eine Art Denkkrampf, wenn man so redet. Wir gründen Sinn auf etwas, das außerhalb von uns liegt. Etwas ist erst sinnvoll, wenn es größer ist als wir selbst, wenn wir es aus der Welt empfangen. Trotz aller Bravour, mit der wir unserem Leben selbst einen Sinn zuerkennen, bleiben wir letztlich frustriert zurück.
Ich bin nicht blind für den Vorteil, den dieser Verlust an Welt mit sich gebracht hat: für die Freiheit. Es gibt weder ein religiöses Dogma, das uns leitet, noch einen König, der uns vorschreibt, was wir zu tun haben – auch wenn dafür andere, weniger augenfällige Formen der Macht an deren Stelle getreten sind: Marketing zum Beispiel oder die scheinbar libertären, aber eigentlich auch verpflichtenden Normen in Bezug auf Liebe und Lust, die aus den allzu populären Wissenschaften hervorgehen, die wissen, was gut und gesund für uns ist.
Alle diese Formen der Entfremdung erkundete ich mit den großen Philosophen unserer Zeit. In ihnen sah ich Baumeister, die eine neue Welt entwarfen. Aber häufiger noch sprachen sie, wie ich erkannte, unser Gefühl an. Sie schlugen vor, die Welt wieder zu suchen. Um auf die Stimme zu hören, die aus der Krise hervorgeht, wie es Denktitan Peter Sloterdijk ausdrückte.
Sloterdijk sprach über eine völlig neue Beziehung zwischen Mensch und Welt. Hier ging es nicht um den Menschen, der sich anhand von Bauplänen eine Welt errichtet. Es verhielte sich genau umgekehrt: Höre zunächst einmal auf diese Welt, wer weiß, womöglich entsteht daraus eine neue Ethik, und vielleicht sogar ein neuer Mensch. Zunächst also die Welt und dann erst der Mensch.
Diese Umkehr ist schwer vorstellbar, daher auch die Versuche der Denker, die neue Relation zwischen Welt und Mensch zu veranschaulichen. Wie etwa der des französischen Philosophen Bruno Latour, der am Vorabend der Pariser Klimakonferenz ein Theater inszenierte, in dem seine Studenten Meere, Bäume und Wolken darstellten. Die Welt erhielt eine Stimme.
Mit dem Oxforder Ethiker Charles Forster, der wie ein moderner Schamane verkündet, dass die Grenzen zwischen Mensch und Tier porös seien, ging ich durch einen Wald. Wochenlang hatte dieser kultivierte Mann wie ein Dachs in einer Höhle gelebt. Als Dachsmann konnte er sich den Geschmack unterschiedlicher Würmer vergegenwärtigen wie ein Connaisseur das Bukett eines Weines. Und wie ein Stadtfuchs hatte er seine Mahlzeiten mit anderen Stadtfüchsen geteilt und mit ihnen von Pizzastücken aus Mülltonnen gelebt. Philosophische Feldforschung hatte er sein Leben als Tier genannt: einen Versuch, zu einer neuen Offenheit gegenüber der Welt zu gelangen.
Es ist die Offenheit, die ich auch bei anderen Philosophen fand, mit denen ich sprach. Was mir in Erinnerung geblieben ist, ist auch die Liebe der Philosophen. Eine Liebe zur Welt, wie sie ist, eine Liebe zur Welt, wie sie war, eine Liebe zur Welt, die noch kommen muss – auf der anderen Seite des Gebirgspasses.