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Martha Nussbaum
Warum wir nach Ansicht einer linken Denkerin wieder an unser Vaterland glauben sollen
Sechs Jahre alt war sie, als sie ihre Eltern ein kleines Theaterstück aufführen ließ. Das Mädchen, das eine der renommiertesten Philosophinnen der Welt werden sollte, hatte sich selbst die Rolle „der großen amerikanischen Freiheitskämpferin“ Sybil Ludington zugeteilt. Deren Vater, ein amerikanischer Oberst, wurde von Marthas Vater gespielt. Welche Rolle ihre Mutter einnahm, weiß sie nicht mehr. Ein paar alte Sachen aus dem Keller dienten als Pferd.
Die Denkerin erzählt die Geschichte der amerikanischen Heldin auf dramatische Weise. Martha Nussbaum ist eine Performerin: Ihre akademischen Leistungen als Philosophieprofessorin an der Universität in Chicago mögen höchste Anerkennung verdienen, aber das Gebiet, auf dem sie wirklich glänzt, ist das Philosophieren in der Öffentlichkeit: Bei ihren Vorträgen, und auch jetzt während des Interviews, erweckt sie gelegentlich den Eindruck, als stünde sie auf einer Bühne.
Ich spreche mit Nussbaum über die flüchtige Welt, die Gegenstand meines Gesprächs mit Zygmunt Bauman war. Gibt es eine Möglichkeit, der Welt, insbesondere der politischen Gemeinschaft, wieder Form zu verleihen?
Sie schlägt vor, den Nationalismus wiederzubeleben, ein Gedanke, der mich – als Europäer, vielleicht gerade als Niederländer – nicht anspricht. Es kommt doch nicht von ungefähr, dass man diesen fast schon religiösen Glauben an den Nationalstaat an den äußersten Rändern des politischen Spektrums findet, wo man sich nur allzu gern dem Provinzialismus und den eigenen Belangen verschreibt. Bedeutsamer noch ist – für mich – die Lüge, die jede Form von Nationalismus in sich trägt: Beruht dieser Nationalstolz nicht auf einer geschönten Konstruktion der Vergangenheit, aus der die scheinbar makellose Einheit der Nation hervorgeht? Wird dabei nicht sehr viel geglättet? Das sind die Fragen, die ich ihr stellen möchte.
Das Theaterstück war Nussbaums erster Ausflug auf das Terrain des Nationalismus und der zugehörigen – wie sie sagt – politischen Emotionen. In einem Kinderbuch hatte sie etwas über Sybil Ludington gelesen. Sibyl stand darin für das Recht auf Freiheit. Die Geschichte basierte auf einer wahren Begebenheit, auf dem Abenteuer eines jungen Mädchens, eines Teenagers. Während der amerikanischen Revolution unternahm sie einen gefährlichen Ritt, um die Amerikaner davor zu warnen, dass die britischen Truppen im Anmarsch seien. Obwohl sie dieser Ritt durch ein sehr hügeliges und gefährliches Gebiet führte, hatte sie von ihrem Vater die Erlaubnis dazu bekommen.
Ich spüre die Begeisterung in ihrer Stimme, als Nussbaum fortfährt: „Ich fand das so außergewöhnlich. Das Mädchen war die Heldin, das war für mich als Sechsjährige wichtig. Das mussten wir einfach als Theaterstück aufführen! Meine Eltern waren die ersten Opfer meines Faibles, aus allem ein Theaterstück zu machen. Heute noch müssen meine Kollegen Rollen in meinen Stücken spielen.“
Das Buch war Nussbaums erste Bekanntschaft mit dem Patriotismus. „Die abstrakte Idee der Freiheit eines Volkes wurde sehr konkret und fand bei mir als Mädchen eine emotionale Resonanz. Sie wurde zu einer romantischen Erzählung über den Mut des Einzelnen: Jeder von uns muss tapfer sein, jeder muss diesen Kampf führen. Solche emotionalen Erzählungen brauchen wir, auch wenn wir erwachsen sind: Sie stellen eine Verbindung zu den besten Werten einer Gesellschaft her. Mit diesen Werten sollten wir schon früh Bekanntschaft machen, und sie sollten in der Zeit unseres Aufwachsens und in unserem Erwachsenenleben lebendig gehalten werden.“
Patriotismus habe bei uns keinen so guten Klang, sage ich. „Aber jede Nation erzählt doch eine Geschichte über sich selbst?“, reagiert Nussbaum. „Was macht die Einheit unseres Landes aus, warum sind wir hier? Welche Kämpfe haben wir in der Vergangenheit gemeinsam ausgefochten, was haben wir dafür getan, um uns eine gemeinsame Zukunft zu schaffen?“
Aber gründet sich die Nationalgeschichte
oftmals nicht eher auf Fiktion als auf Fakten?
„Der Patriotismus nutzt ein konstruiertes Narrativ über die Nation – das ist richtig.“ Sie lacht: „Natürlich muss diese Erzählung einigermaßen mit der Geschichte übereinstimmen, sonst wirkt sie nicht. Aber es lässt sich nicht leugnen, dass es sich um ein Konstrukt handelt. Man greift sich die Teile der Geschichte heraus, die bedeutsam sind, und vermeidet gelegentlich sehr bewusst gewisse Ereignisse. Nehmen Sie die Gettysburg-Rede von Präsident Lincoln. Er sprach bei der Einweihung eines Friedhofs für etwa 8000 amerikanische Soldaten, die während des Bürgerkriegs gefallen waren.
Mit getragener Stimme sagte er: ‚Vor 87 Jahren gründeten unsere Väter auf diesem Kontinent eine neue Nation, in Freiheit gezeugt und dem Grundsatz geweiht, dass alle Menschen gleich geschaffen sind!‘ Lincoln verweist auf die Werte der Freiheit und der Gleichheit, die den Vereinigten Staaten zugrunde liegen, aber nicht auf den Rassismus, auf dem Amerika auch aufgebaut ist und der sogar rechtlich verankert war. Er versucht, die Geschichte eines Landes zu erzählen, das seinen Ursprung in dem Glauben hat, dass alle Menschen gleich geschaffen sind. Das ist nicht unrichtig, aber zeichnet doch ein sehr einseitiges Bild. Es ist nicht ganz wahr, aber Lincoln will es wahr machen: Wir haben nicht vergebens gekämpft, diese Nation wird als eine Nation der Freiheit wiedergeboren. Das ist es, was jeder Patriot tut: Er versucht, die Geschichte zu erzählen, die die Menschen um eine Reihe von Idealen versammelt.“
In Indien könne man ebenfalls sehen, wie sich der Nationalismus eine zum Teil konstruierte Erzählung zunutze macht, sagt Nussbaum. „Gandhi war wohl der erstaunlichste Patriot. Man muss sich das mal vorstellen: Indien war noch nicht einmal ein Jahr alt. Die britische Regierung hatte das Land aus unterschiedlichen Königreichen zusammengefügt, von denen einige nicht einmal Teil des britischen Empires gewesen waren. Es hätte also nahegelegen, dass Indien als ein Flickenteppich von Kleinstaaten endet. Um ein solches Land zu einen, braucht man ein kraftvolles Narrativ.
Natürlich bot der Unabhängigkeitskampf gegen die Briten – ein nicht-physisch ausgetragener, gewaltloser Kampf – einen gewissen Boden dafür. Aber Gandhi musste auch Bilder finden, die die Einheit des Staates demonstrierten. Er dachte an eine Nationalhymne, eine Fahne, eine Verfassung – die er sorgfältig entwarf. Aber Gandhi nutzte auch sich selbst als Person: Man kennt ja das Bild des traditionellen Asketen, eines Mannes, mit dem sich die Menschen leicht identifizieren konnten. Aber davor hatte es einen ganz anderen Gandhi gegeben: den Mann, der in England studiert hatte und seriöse Anzüge trug.“
Nationalismus ist zu emotional, finden wir. Er wiegelt die Menschen auf, bringt sie dazu, ihren Verstand zu verlieren und damit auch ihre Autonomie und ihre Freiheit. Sollten wir nicht lieber eine etwas nüchternere Politik betreiben?
„Aber ohne Emotionen funktioniert die Politik nicht. Es ist falsch zu glauben, dass sich die guten Werte quasi von selbst einstellen, dass sich ihre Stärke nur mit Hilfe der Vernunft erweist. Es ist auch gefährlich, Emotionen links liegen zu lassen. Dann bedienen sich ihrer nur andere, mit weniger guten Absichten, und verbinden sie mit schlechten Werten. Dann werden diese schlechten Ideen den Sieg davontragen!“
Wir verbinden Patriotismus oft mit Ausgrenzung.
„Aber Patriotismus kann auch zu einer Erzählung der Integration werden. Wie aber soll das gelingen, wenn man keine Symbole und Emotionen hat, die damit verbunden sind? Heute haben wir in den USA den Martin-Luther-King-Tag, einen Feiertag. Dem ist jedoch eine große Auseinandersetzung vorausgegangen. Die Leute aus dem Süden hassten die Idee eines solchen Feiertages. Aber inzwischen ist dieser Tag ein starkes Symbol des Kampfes für Inklusion, ein Symbol der Freiheit. Außerdem erscheint bald ein neuer Film über Martin Luther King, der auch zum nationalen Dialog über die Gleichberechtigung ethnischer Gruppen beitragen wird.“
Das ist eine schöne Geschichte. Aber führt Nationalismus in der Regel nicht dazu, dass wir uns nach innen wenden?
„Das kann sicherlich passieren. Aber Vaterlandsliebe kann unseren Provinzialismus eben auch überwinden. Bedenken Sie, dass Menschen zu Selbstsucht neigen. Wir wissen heute immer mehr über die angeborenen Neigungen des Menschen: Ebenso wie die meisten Primaten binden wir uns an eine kleine Gruppe, es sei denn, wir gebrauchen unsere Fantasie, um uns mit einer größeren Gemeinschaft zu verbinden. Gerade die Nation ist dafür das beste Medium.
Letzten Endes muss uns jeder Mensch auf der Welt etwas angehen, aber der menschliche Geist ist nicht in der Lage, sich mit der ganzen Welt zu verbinden. Das ist zu abstrakt. Daher trägt die Idee der Nation – jedenfalls wenn sie richtig konstruiert ist – dazu bei, den Geist nach außen zu wenden.
Man findet diesen Gedanken auch bei dem italienischen Staatsmann und Patrioten Guiseppe Mazzini, einem der Begründer des Nationalismus. Er ging davon aus, dass sich der Geist des Menschen durch den Aufstieg des Kapitalismus und des kapitalistischen Ideals der Habsucht immer mehr nach innen wenden werde. Die Menschen würden keine Rücksicht mehr auf ihre Mitbürger nehmen. Darum müsse eine starke Gegenbewegung ins Leben gerufen werden. Das war der Patriotismus, mit den patriotischen Gefühlen.“
Sybil Ludington steht für die Freiheit, aber geht
Nationalismus nicht oft auf Kosten dieser Freiheit?
„Die Nation muss natürlich die richtigen Werte ins Zentrum stellen. Diese müssen unabhängig mittels philosophischer Diskussionen gerechtfertigt werden. Wir müssen auch sicherstellen, dass ein ausreichendes Maß an Freiheit gegeben ist, das ist einer der wichtigsten Werte: die Freiheit der Meinungsäußerung, die Pressefreiheit, die Freiheit, eine von anderen abweichende Meinung zu haben – sie wollen wir nicht nur schützen, wir wollen auch, dass die Menschen sie hegen und pflegen. Denn sonst können diese Werte ihre Wirkung nicht entfalten.“
Was tun Sie selbst, um diese patriotischen
Emotionen bei anderen zu kultivieren?
„Jeder trifft eine bestimmte Entscheidung im Leben und ich habe mich vor langer Zeit dazu entschlossen zu schreiben. Und ich unterrichte Menschen, die Politiker werden, zukünftige Kabinettsmitglieder. Chicago hat ja eine Law School, an der die Crème de la Crème der amerikanischen Gesellschaft studiert. Auf diese Weise nehme ich Einfluss auf Emotionen.“
Sollten Sie nicht selbst in die Politik gehen?
„Dazu muss man eine ganze Menge Hass aushalten können. Und das kann ich nicht. Dann ziehe ich lieber durchs Land, um Vorträge zu halten. Als ich mein Büchlein über Bildung (Nicht für den Profit. Warum Demokratie Bildung braucht. Tibia Press, Überlingen 2012, Anm. d. Übers.) geschrieben hatte, sollte ich überall Lesungen dazu halten. Das Buch wurde nicht immer gelesen, aber zur Lesung kamen die Leute durchaus. Das macht einen Unterschied, deshalb hatte ich die Pflicht, diese Lesungen zu machen, auch wenn ich manchmal lieber etwas Neues tun möchte und mich gelegentlich wie das Mädchen von der Heilsarmee fühle, das für die Geisteswissenschaften die Trommel rührt. Aber nun ja, ich bin nun einmal gut darin, wichtige Werte in Szene zu setzen.“