Читать книгу Pluralistische Identität - Группа авторов - Страница 11

4. „Christliches Abendland“?

Оглавление

Der von Spengler beanspruchte, seit der deutschen Romantik emotional beladene Begriff „Abendland“ (im Singular) erweist sich insofern als ein deutsches Spezifikum, als er sich kaum ohne Bedeutungsverlust in andere europäische Sprachen übersetzen lässt. Der Dichter Novalis (1772–1801) bediente sich seiner,25 und er findet sich auch bei den Brüdern August Wilhelm Schlegel (1767–1845) und Friedrich Schlegel (1772–1829).26 Allerdings sprachen sie alle häufiger noch von „Europa“, und zwar dort, wo sie nach einem Gesamtbegriff für die europäischen Nationen suchten. Hingegen zielte der Begriff „Abendland“ vorrangig auf eine geschichtsphilosophische Gesamtschau ab.27

Für Novalis und die Brüder Schlegel, aber auch für die Philosophen Friedrich Schelling (1775–1854) und Franz von Baader (1765–1841) stützt sich das „Abendland“ wesentlich auf kulturelle Traditionen. Diese bestimmten sie als romanisch, germanisch und christlich. Angesichts der europäischen Neuordnung in der Folge des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 befürchteten sie, dass die vielfältigen Traditionen Europas und die sich darin ausprägende Kultur der Verschiedenheit in Europa verloren zu gehen drohte. Deshalb sei gegenüber allen Versuchen einer Vereinheitlichung die kulturelle Vielfalt Europas zu betonen.28

Katholiken wie Protestanten bedienten sich im 19. Jahrhundert der „Abendland“- bzw. der Europa-Idee, um sich gegenüber religionskritischen Idealen der Aufklärung abzugrenzen. Während freilich die Katholiken eine Umgestaltung der Gesellschaft durch deren Verkirchlichung anstrebten – und in den katholischen Milieus ansatzweise auch erreichten – setzten die Protestanten auf eine Allianz von Thron und Altar.29 Beide jedoch einte die Ablehnung der Moderne und der säkularen Gesellschaft. Wo diese auf die formale Herrschaft des Rechts setzte, beharrten Katholiken und Protestanten auf der Notwendigkeit gemeinsamer Werte.

Nach einer Zeit europäischer Nationalismen im späten 19. Jahrhundert brachte unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs der Rückgriff auf die Romantik in der Weimarer Republik auch eine Revitalisierung des „Abendland“-Begriffs mit sich – wiederum mit antimoderner und antisäkularer Zielsetzung. Von 1925 bis 1930 erschien in Berlin eine Zeitschrift mit dem Titel „Abendland: Deutsche Monatshefte für europäische Kultur, Politik und Wirtschaft“.30 Gegen die Erinnerung an den blutigen Weltkrieg wurde an die historische Fiktion eines friedvollen „christlichen Abendlandes“ appelliert, das im Mittelalter geherrscht habe.31 Hingegen wollten die Nationalsozialisten den „Abendland“-Begriff von christlichen Konnotationen befreit wissen. Dazu betonten sie die griechisch-römischen und – mehr noch – die „germanischen“ Traditionen Europas. Die so konstruierte „arisch-abendländische Kultur“ wurde nicht nur slawischen und asiatischen Kulturen entgegen gehalten, sondern vor allem auch der von den Nationalsozialisten imaginierten „jüdischen Kultur“.32

Vergleicht man die Intention der Romantiker, die gegen die napoleonische Einheitspolitik die Vielfalt der europäischen Kulturen bewahren wollten, mit dem nationalsozialistischen Verständnis von „Abendland“, so zeigt sich eine Tendenz zur Vereinheitlichung: an die Stelle einer Pluralität von Traditionen ist das Ideal einer homogenen Kultur getreten, die wesentlich durch ihre Abgrenzung gegenüber Anderen bestimmt ist. In ihrer gewaltsamen Wendung nach innen – gegen die Juden – wie nach außen – gegen den „Kapitalismus“ des Westens und den „Bolschewismus“ des Ostens – legitimierte das so konstruierte Selbstbild die Ermordung der Juden in Europa ebenso wie gesamteuropäische, mit militärischen Mitteln verfolgte Ordnungsphantasien.

Nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur verhieß die Idee des „Abendlands“ im besiegten Deutschland eine doppelte Alternative: einerseits zur westlich-individualistischen Moderne, andererseits zum östlich-kollektivistischen Kommunismus. Gegenüber national-konservativen Positionen legitimierte die Abendland-Idee die Integration Westdeutschlands in ein gegen den Warschauer Pakt vereintes Westeuropa. Nicht zuletzt die Stiftung des Aachener Karlspreises im Frühjahr 1950 ist Ausdruck dieses Bemühens. Im September des gleichen Jahres sprach der damalige Bundespräsident Theodor Heuss von einer dreifachen Wurzel Europas: „Es gibt drei Hügel, von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat: Golgatha, die Akropolis in Athen, das Capitol in Rom. Aus allen ist das Abendland geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muss sie als Einheit sehen.“33 Diesem seither vielfach zitierten Ausspruch zufolge ist Europas Herkunft durch das biblische Menschenbild, die griechische Philosophie und das römische Recht bestimmt.34

Obwohl sie nicht frei von politischem Wunschdenken war und insgesamt als historisches Konstrukt gelten muss, vermochte die Abendland-Idee im westlichen Nachkriegsdeutschland die nationale und kulturelle Vielfalt in ein übernationales Ganzes zu integrieren. Vor diesem Hintergrund stellt ihre Inanspruchnahme durch nationalkonservative und rechtspopulistische Gruppierungen – darunter die 2014 entstandene Bewegung „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (PEgIdA) eine neuerliche – nationalistische – Verengung des Begriffs dar. Dass der Begriff im Parteiprogramm der „Alternative für Deutschland“ (AfD) als Chiffre für eine wertkonservative Haltung dient, überrascht nicht. Seine inhaltliche Bestimmtheit erhält er aber nicht durch den Bezug auf europäische Werte, sondern vorrangig durch die Opposition gegenüber einem zunehmenden politischen und gesellschaftlichen Einfluss von Muslimen in Deutschland. Darin entspricht er in formaler Hinsicht der Semantik des Begriffs während der Zeit des Nationalsozialismus, als er gegen „Kapitalismus“, „Bolschewismus“ und die Juden gemünzt war. Aus der Perspektive heutiger Geschichtswissenschaft jedenfalls kommt dem Begriff „Abendland“ keinerlei analytischer, sondern allenfalls ein zeitdiagnostischer Wert zu.35

Pluralistische Identität

Подняться наверх