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1. Gemeinsame europäische Grundwerte?
ОглавлениеDie Frage nach Europas Einheit und Identität wird vielfach mit dem Hinweis beantwortet, Europa sei eine „Wertegemeinschaft“. Doch hilft dieser Hinweis nur bedingt weiter.7 Zwar lenkt er den Blick weg von politischen Organisationen und rechtlichen Verbindlichkeiten auf diesen zugrunde liegende Prinzipien wie Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und Solidarität.8 Nicht zuletzt die aktuellen Krisen verdeutlichen jedoch, dass die Begründung dieser Prinzipien, ihre inhaltliche Bestimmung und ihre Geltung zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union keineswegs unumstritten sind. Immer wieder beispielsweise entzünden sich Konflikte innerhalb der Union um die Reichweite von Meinungs- und Pressefreiheit oder die Verbindlichkeit von Bürgerrechten.
Schon im Zusammenhang mit den Diskussionen um die Präambel einer künftigen Verfassung für Europa traten sehr unterschiedliche Interpretationen der europäischen Geistes-, Kultur- und Religionsgeschichte zutage. Die nach heftigem Ringen gefundene Kompromissformel spricht vom „kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben“.9 Insbesondere die französischen Delegierten verweigerten sich seinerzeit dem Wunsch Polens und anderer europäischer Staaten, einen expliziten Bezug auf das Christentum in die Präambel aufzunehmen.
Noch zurückhaltender formuliert die Präambel zur Grundrechte-Charta (2000/2007) die Rechtsprinzipien der Europäischen Union: „In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet.“10 Nach dieser Selbstvergewisserung wird zur faktischen Pluralität in Europa festgestellt: „Die Union trägt zur Erhaltung und zur Entwicklung dieser gemeinsamen Werte unter Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditionen der Völker Europas sowie der nationalen Identität der Mitgliedstaaten und der Organisation ihrer staatlichen Gewalt auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene bei.“
Pluralität erscheint in dieser Perspektive nicht als ein zu überwindendes Übel, sondern als ein zu achtendes Gut. Als Gegenstandsbereiche gegebener Vielfalt werden „Kulturen“ und „Traditionen“ benannt; als deren Subjekte gelten die „Völker Europas“. Geachtet werden sollen ferner die „nationale Identität der Mitgliedsstaaten“ sowie deren Organisation staatlicher Gewalt „auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene“. Diese Zielvorgaben konkretisieren das Leitwort der Europäischen Union „Einheit in Vielfalt“. Für den nachfolgenden Katalog von Grundrechten sind sie richtungsweisend.
Allerdings haben inzwischen die Wirtschafts-, Finanz- und Flüchtlingskrisen die Brüchigkeit des europäischen Wertekonsenses schonungslos zutage treten lassen. Dabei sind es vermutlich nicht einmal die Werte selbst, deren Geltung strittig ist, als vielmehr die Art und Weise, wie sie verteidigt werden können. Die jüngsten Terrorangriffe islamistischer Extremisten in europäischen Großstädten haben ein Dilemma aufgedeckt: Wie lassen sich individuelle Freiheiten oder das Recht auf Selbstbestimmung verteidigen, ohne beides durch Überwachung und Kontrolle einzuschränken? Oder – jetzt mit Blick auf nationalistische und fremdenfeindliche Parteien – wie können sich Demokratien, die auf freien Wahlen gründen, antidemokratischer Kräfte erwehren, ohne ihre eigenen Prinzipien zu verraten?
Die aktuellen Krisen der Europäischen Union unterstreichen die Dringlichkeit, Menschenrechte wie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit inhaltlich fortzubestimmen und ihnen durch positives Recht Geltung zu verschaffen. Tatsächlich geschieht beides auf europäischer wie auf nationaler Ebene. Doch nicht zuletzt im schier endlosen Ringen zwischen „Brüssel“ und den verschiedenen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union werden nationale Traditionen ebenso wirksam wie tagesaktuelle Pragmatik.
Dies wäre dann keineswegs beklagenswert, wenn die verschiedenen Antagonismen nicht die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union als politischer Einheit bedrohten. Und diese Handlungsfähigkeit ist angesichts aktueller Krisen dringlicher als je. Denn das Erstarken fremdenfeindlicher und nationalistischer Kräfte in Europa kann wohl mit einigem Recht als Reaktion auf die reale oder bloß vermeintliche Wirkungslosigkeit der politischen Institutionen auf gesamteuropäischer Ebene interpretiert werden. Ein diffuses Bedrohungsszenario lässt zu Maßnahmen im nationalen oder gar regionalen Rahmen Zuflucht nehmen. Die freilich gar nicht mehr so „neue Unübersichtlichkeit“ (Habermas) in einer globalisierten Welt, deren Opfer unüberhörbar an Europas Solidarität appellieren, weckt die Sehnsucht nach Sicherheit in einem überschaubaren Rahmen. Für viele wird das „christliche Abendland“ zur Chiffre einer heilen Welt, die es zurückzugewinnen gilt, um in einer anscheinend aus den Fugen geratenen Welt Geborgenheit zu finden.