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5. Europas pluralistische Identität
ОглавлениеNoch einmal also: worin besteht Europas Identität? Für den Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant (1724–1804) ist es nicht mehr das Christentum, sondern die Akzeptanz einer einheitlichen Rechtsnorm, welche die Identität Europas begründet: „Europäisch nenne ich eine Nation, wenn sie nur [durch] den gesetzmäßigen Zwang annimmt, folglich restriction der Freyheit durch allgemeingültige Regel“.36 Weder also ist nach Kant das Christentum maßgeblich für das, was als „europäisch“ gelten darf, noch entscheidet die Dominanz bestimmter kultureller Traditionen und Werte über die Zugehörigkeit zu Europa. Ausschlaggebend ist vielmehr die Geltung des Rechts. Dessen Formalität impliziert eine Kritik an jedem gemeinsamen Wertefundament; als solche wurde sie von den christlichen Kirchen im 19. Jahrhundert auch wahrgenommen – und zurückgewiesen.37
Die Frage, worauf die Achtung vor dem Gesetz beruht und welchen Zielen sie dient, beantwortet Kant in seinem Entwurf Zum ewigen Frieden (1795) wiederum formal, und zwar mit Hinweis auf die unbedingte Geltung des Sittengesetzes. Seinem Inhalt nach dient die Achtung vor dem Gesetz der Verwirklichung einer universalen Weltfriedensordnung.38 Heutzutage ließen sich weitere Zielvorstellungen nennen – darunter die Gleichstellung von Mann und Frau vor dem Gesetz, das Recht auf freie Meinungsäußerung oder die Pressefreiheit. Manche dieser Grundrecht sind hinsichtlich ihrer universalen Geltung und ihrer konkreten rechtlichen Ausgestaltung innerhalb der europäischen Union durchaus umstritten.
Kants Versuch, die Identität des „Europäischen“ durch den Hinweis auf die Geltung des Rechts zu bestimmen, trifft einen Wesenszug abendländischer Geschichte und Kultur, der über Jahrhunderte hinweg prägend war.39 In letzter Konsequenz führt er zu einer Entgrenzung dessen, was Europas Identität bestimmt. Denn die Geltung des Rechts tendiert gerade aufgrund ihrer Formalität zur Universalisierung. Wie aber verhielte sich ein „universales Europa“ zur Vielfalt der Völker, Nationen, Kulturen und Religionen in der Welt? Die Frage nach dem Verhältnis von Identität und Pluralität, die sich bereits mit Blick auf das „Alte Europa“ aufdrängt, kehrt auf globaler Ebene wieder.
Die Frage nach der Beziehung zwischen Identität und Pluralität Europas wird im Folgenden aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Nach zwei Beiträgen von Bernhard Jussen und Rémi Brague, in denen grundlegende Begriffe wie „Abendland“, „Identität“ und „Unterschiedenheit“ analysiert werden, orientieren sich die weiteren Beiträge im Wesentlichen an der chronologischen Abfolge historischer Zusammenhänge, auf die jeweils schwerpunktmäßig Bezug genommen wird. In seinem abschließenden Beitrag greift Christof Mandry das Stichwort „Identität“ erneut auf.
Im Anschluss an den indischen Historiker Dipesh Chakrabarty stellt der Historiker Bernhard Jussen die in der Vergangenheit vorherrschende eurozentrische Geschichtsschreibung in Frage. Insbesondere kritisiert Jussen das universalhistorische Makrokonzept einer Abfolge von Antike, Mittelalter und Neuzeit. Gleichzeitig betont Jussen, dass ein veränderter historischer Interpretationsrahmen die Grundpfeiler der europäischen Gesellschaften wie Pluralismus, Universalität der Menschenrechte oder die Trennung von Religion und Politik nicht preisgeben dürfe.
Die Unverzichtbarkeit von Grundwerten betont der Philosophiehistoriker Rémi Brague. In seinen Überlegungen zum Begriff „Verschiedenheit“ plädiert er dafür, im politischen Diskurs Europas die metaphysische Dimension nicht preiszugeben. Denn nur die Metaphysik fragt nach jenen Gütern, für die mit unbedingter Entschlossenheit einzusetzen sich lohnt, und strebt ihre inhaltliche Bestimmung an. Eine bloß formale Wertschätzung von „Verschiedenheit“ hingegen wäre letzten Endes gleichgütig gegenüber jenen fundamentalen Werten, die das Überleben einer Gesellschaft überhaupt erst ermöglichen.
Der Judaist Daniel Krochmalnik eröffnet den Gang durch die europäische Geschichte. Mit Blick auf die „Völkertafel“ im Buch Genesis und deren Auslegung in der jüdischen Tradition erinnert Krochmalnik daran, dass die Unterscheidung von „Europa“, „Asien“ und „Afrika“ biblische Wurzeln hat. Dabei werden den Bewohnern der drei Kontinente sehr unterschiedliche Eigenschaften zugeschrieben. Mit den noachidischen Geboten ist jedoch nach jüdischer Auslegung eine alle Menschen verpflichtende Grundlage gelegt, ungeachtet aller Unterschiede einander zu achten und friedlich zusammen zu leben.
Der Neutestamentler Ansgar Wucherpfennig betont die in den biblischen Schriften beider Testamente zutage tretende Dialektik von Zuwendung und Entzogenheit Gottes. Im Anschluss an Eckhard Nordhofen erkennt Wucherpfennig in dieser Dialektik Ansätze einer „biblischen Aufklärung“: Angesichts der Entzogenheit Gottes muss sich jeder Versuch, gegebene Vielfalt zu vereindeutigen, als womöglich übereilte Synthese kritisieren lassen. Der „privative Vorbehalt“ setzt nicht nur im Bereich des Religiösen eine Dynamik beständigen Suchens und Forschens nach der Wahrheit in Gang, sondern in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Insofern diese Dynamik die Geschichte Europas geprägt hat, kann sie als Beitrag zu dessen Selbstwerdung interpretiert werden.
Der Philologe Reinhold Glei erinnert an die weitverbreitete Polemik christlicher Autoren sowohl des lateinischen Westens als auch des griechischen Ostens gegen Juden und Muslime im Mittelalter. Die Schwerpunkte der Polemik liegen inhaltlich auf der Christologie, methodisch auf der Schriftauslegung. Dabei fällt auf, dass christliche Autoren sich bei der Auslegung der Heiligen Schrift auf Allegorese und Typologie stützen und insofern Pluralität geltend machen, eben diese Pluralität aber ihren Gegnern bestreiten, indem sie Talmud und Koran ausschließlich auf den Literalsinn festlegen.
Mit Blick auf die Selbstdefinition Europas in der Auseinandersetzung mit der islamischen Welt in Mittelalter und Renaissance zeigt die Islamwissenschaftlerin Anna Akasoy, dass „Europa“ keine natürliche Gegebenheit ist, sondern das Ergebnis historischer Prozesse, in denen unterschiedliche Ideen und Akteure wirksam wurden. Diese historische Einsicht zeigt, so Akasoy, dass eine europäische Identität nicht allein aus der Vergangenheit zu gewinnen ist. Sie ist vielmehr unter den politischen, kulturellen und sozialen Bedingungen einer jeweiligen Epoche je neu auszuhandeln.
In der europäischen Geschichte wurde gegebene Pluralität keineswegs immer als Reichtum interpretiert. Dies gilt besonders für die frühe Neuzeit. Der Kirchenhistoriker Klaus Unterburger zeigt, dass es in der Folge der Reformation auf der Ebene des Reiches zwar zu einer konfessionellen und politischen Ausdifferenzierung kam. Innerhalb der verschiedenen Reichsstände aber wurde eine Homogenisierung von Herrschaft und Bekenntnis angestrebt. Im Vergleich zum Mittelalter führte dies nicht zu einem Zuwachs, sondern zu einem Verlust politischer Vielfalt und religiöser Ambiguität. Erst mit dem Schwinden sozialer Kontrolle und staatlichen Zwangs in der Moderne wurden alternative Formen der Lebensgestaltung und Säkularität denkbar.
Wie wenig Bilder vom „Anderen“ Objektivität beanspruchen können, zeigt der Islamwissenschaftler Bekim Agai in seiner Analyse von Berichten, die islamische Reisende vom 17. bis zum 19. Jahrhundert von ihren Aufenthalten in Europa verfassten. In kritischer Auseinandersetzung mit der These des Orientalisten Bernard Lewis, es gebe eine spezifisch „muslimische Weltsicht“, betont Agai die Komplexität, in der Narrative vom jeweils „Anderen“ entstehen und „Andersheit“ konstruiert wird. In den Reiseberichten erscheint „Europa“ nicht nur in einer ungewohnten Perspektive; vielmehr laden die Berichte auch dazu ein, eurozentrische Narrative in Frage zu stellen und eine Pluralität von Weltsichten zu akzeptieren.
Während mit Blick auf die geistesgeschichtlichen Wurzeln Europas ein Bezug auf das Christentum im europäischen Verfassungsentwurf nicht mehrheitsfähig war, wird der Begriff der „Aufklärung“ vielfach als Identitätsmerkmal, bisweilen sogar als Zulassungsbedingung für die Europäische Union gehandelt. Worin Wesen und Zielsetzung der Aufklärung bestehen, diskutiert der Philosoph Heinrich Watzka im Anschluss an Immanuel Kant, Moses Mendelssohn und G. W. F. Hegel. Dabei wird deutlich, dass die Aufklärung – auch nach deren Ende als Epoche – prinzipiell unabschließbar ist, und dass sie deshalb auch das Risiko eines künftigen Scheiterns in sich birgt.
Dass die Anerkennung von Pluralität gerade für Minderheiten eine spezifische Herausforderung birgt, verdeutlicht der Historiker Johannes Heil mit Blick auf die Beziehung des Judentums zu Europa. Zwar war das Judentum seit dem Beginn der europäischen Geschichte auf vielfältige Weise mit der umgebenden nichtjüdischen Gesellschaft und Kultur verwoben. Doch ist nirgendwo im jüdischen Denken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein Plädoyer für ein gemeinsames Verständnis der Geschichte zu erkennen. Eine gemeinsame europäische Zukunft wird aber nur dann gelingen, so Heil, wenn sich die jüdische Gemeinschaft als wesentlicher Teil der europäischen Gesellschaft verstehen kann. Dabei kann die innere Vielfalt des Judentums womöglich sogar ein Modell für ein pluralistisches Europa liefern.
Der Philosoph und Historiker Otto Kallscheuer konzentriert sich auf die Geschichte der europäischen Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg und die dabei leitenden Ideen und Wertvorstellungen. Dabei unterscheidet er mit der „Abendland“-Idee, dem Föderalismus freier Staaten sowie der Wertschätzung geographischer, kultureller und politischer Vielfalt drei Grundmotive, die bei den verschiedenen Akteuren sehr unterschiedlich miteinander verwoben waren. Zwar sind viele in Europa entstandene Werte inzwischen zu Kennzeichen des „Westens“ geworden. Der freie Westen braucht jedoch weiterhin das Gedeihen des „alten“ Europa, weil hier Traditionen und Werte beheimatet sind, die eben nicht von allen Staaten des Westens geteilt werden.
In seinem zweiten Beitrag problematisiert Rémi Brague mögliche Folgen der Globalisierung für Europas Zukunft. Europa sei in der Vergangenheit durch eine „exzentrische Identität“ konstituiert gewesen. Infolge seiner weltweiten politischen und auch kulturellen Expansion finde es aber zu Beginn des 3. Jahrtausends kein „Außerhalb“ mehr vor, auf das es sich beziehen könnte. Damit hat es eine wesentliche Dimension seiner Identität verloren. Anstelle eines sich alles einverleibenden „Parasitismus“ wäre eine Haltung wertschätzender Achtung des bleibend Unterschiedenen geboten.
Der Dogmatiker Dirk Ansorge stellt die Frage nach der Pluralismusfähigkeit der katholischen Kirche, und zwar sowohl innerkirchlich als auch in Bezug auf die „Welt“. Jahrhundertelang verhinderten sowohl das Selbstverständnis der katholischen Kirche als auch ihr exklusiver Wahrheitsanspruch die Akzeptanz einer Pluralität von Weltanschauungen und religiösen Überzeugungen. Zwar hat das Zweite Vatikanische Konzil durch die Anerkennung von Gewissens- und Religionsfreiheit eine grundlegende ekklesiologische Neubestimmung vollzogen. Doch stößt die Anerkennung von Pluralität und Säkularität vielerorts immer noch auf Widerstände.
Was nationalistische Bewegungen eigentlich in Anspruch nehmen, wenn sie die Idee eines „christlichen Abendlands“ für sich reklamieren, untersucht der Pastoraltheologe Wolfgang Beck. Die vermeintliche Sicherheit, die mit dieser Idee verbunden wird, hat mit dem Grundimpuls des christlichen Glaubens nur wenig zu tun. Denn im Christentum geht es nicht vorrangig um Systemstabilierung, so Beck, sondern um eine „risikoorientierte Identität“: Kirche muss Abbild eines Gottesverständnisses sein, das durch „Herablassung“ (kenosis) charakterisiert ist. Kirchliche „Kenopraxis“ sucht Pluralität in Kirche und Gesellschaft nicht zu vermeiden, sondern weiß sie als Anstoß zu schätzen, ihrer Bestimmung zu entsprechen.
Der Kirchenrechtler Thomas Meckel widmet sich der bis zum Bundesverfassungsgericht geführten Auseinandersetzungen um das Kruzifix und das Kopftuch im öffentlichen Raum. Dabei wird deutlich, wie wenig der Hinweis auf das „christliche Abendland“ einer Rechtsprechung dienlich ist, die darauf abzielt, unterschiedliche Religionen und Weltanschauungen in die Gesellschaft zu integrieren. Doch nur ein Religionsrecht, das imstande ist, die religiöse Pluralisierung in den Gesellschaften Europas aktiv zu gestalten, kann dem religiösen und gesellschaftlichen Frieden dienen.
Der Sozialethiker Christof Mandry schließlich entfaltet den vor dem Hintergrund der aktuellen Migrationsbewegungen prekär gewordenen Begriff der „Identität“. Dessen individuelle, kollektive und politische Dimensionen sind konstitutiv für die mögliche Beantwortung der Frage nach einer „Identität Europas“. Diese erweist sich nicht als statische Gegebenheit, sondern als von den verschiedenen Akteuren je neu zu erringende Haltung. Mandry deutet „Europa“ als Chiffre für ein politisches Projekt, das in einer universalistischen Perspektive darauf abzielt, den Nationalstaat zu relativieren, um dessen Begrenzungen zu überwinden. Europa weiß sich – wenigstens im Grundsatz – dem Ideal verpflichtet, in Solidarität besonders mit den Schwachen dem Recht und der Vernunft Geltung zu verschaffen. Dieses Ideal bleibt auch in einer zunehmend globalisierten Welt gültig.
Der Autorin sowie den Autoren danke ich sehr dafür, dass sie ihre Beiträge für die Publikation in diesem Buch zur Verfügung gestellt haben. Dank gilt auch meinen Mitarbeitern Daniel Remmel und Vinzent Piechaczek für ihre Unterstützung bei der Redaktion der Manuskripte. Ferner danke ich der Stiftung der Hochschule Sankt Georgen und dem Frankfurter Bankhaus B. Metzler seel. Sohn & Co.; ihre finanzielle Unterstützung hat das Erscheinen des Buches erleichtert. Und schließlich danke ich Thomas Brockmann, dem zuständigen Lektor bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft; er hat das Publikationsprojekt von Anfang an entschlossen gefördert. Es wäre dem Buch zu wünschen, wenn die darin versammelten Beiträge nicht nur dem fachlichen Diskurs Impulse gäben, sondern auch der öffentlichen Diskussion über Herkunft und Zukunft Europas eine kontruktive Dynamik verliehen. Diese nämlich erscheint angesichts nationalistischer Tendenzen in vielen Ländern Europas dringender den je.
1 Zum letzten Endes gescheiterten Verfassungsprozess vgl. Klaus Beckmann/Jürgen Dieringer/Ulrich Hufeld (Hg.), Eine Verfassung für Europa, Tübingen 22005; ferner: Manfred Zuleeg/Marjolaine Savat/Jean-Philippe Derosier (Hg.), Eine Verfassung für Europa mit 25 Mitgliedstaaten: Vielfalt und Einheit zugleich, Baden-Baden 2005; Christoph Vedder/Wolff Heintschel von Heinegg (Hg.), Europäischer Verfassungsvertrag. Handkommentar, Baden-Baden 2007.
2 Der anders akzentuierte Leitspruch der Vereinigten Staaten von Amerika „e pluribus unum“ geht auf die Unabhängigkeitserklärung von 1776 zurück. Obwohl damit ursprünglich der Zusammenschluss der einzelnen Staaten Nordamerikas gemeint war, wird er oft auch auf die Pluralität der Ethnien, Weltanschauungen und Religionen in den USA bezogen. Wörtlich verstanden signalisiert die Formulierung einen geringeren Grad an Vielfalt als der Leitspruch der Europäischen Union.
3 Vgl. Reinhold Zippelius, „Der pluralistische Staat“, in: Ders., Allgemeine Staatslehre. Politikwissenschaft, §26, München 162010, S. 188–204.
4 In einem Vortrag, den der damalige Präsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaft Jacques Delors im Februar 1992 vor der Konferenz europäischer Kirchen (KEK) gehalten hat, spricht er von der Notwendigkeit, Europa eine Seele zu geben: „Wir betreten nun eine faszinierende Zeit […], eine Zeit, in der die Debatte über die Bedeutung des Aufbaus Europas ein wesentlicher politischer Faktor werden wird. Glauben Sie mir, wir werden mit Europa keinen Erfolg haben mit ausschließlich juristischer Expertise oder wirtschaftlichem Know-how. […] Wenn es uns in den kommenden zehn Jahren nicht gelingt, Europa eine Seele zu geben, es mit einer Spiritualität und einer tieferen Bedeutung zu versehen, dann wird das Spiel zu Ende sein. Daher möchte ich die intellektuelle und spirituelle Debatte über Europa wiederbeleben.“ (Zitat aus: InfoEuropa. Informationen über den Donauraum und Mitteleuropa 3 [2013], S. 6–8). Seither wird regelmäßig auf Delors’ Ausspruch „Europa eine Seele geben“ Bezug genommen, wenn es um Europas Identität und seine Herkunft und Zukunft geht.
5 Es handelt sich dabei (in zeitlicher Abfolge) um die Beiträge von Otto Kallscheuer, Bernhard Jussen, Thomas Meckel, Ansgar Wucherpfennig SJ, Heinrich Watzka SJ, Reinhold Glei und Christof Mandry. Die Sankt Georgener Ringvorlesung im Wintersemester 2015/16 stand unter dem Titel „‚Christliches Abendland‘ oder pluralistische Identität? Beobachtungen zu Herkunft und Zukunft Europas“ und verstand sich als eine akademische Antwort auf nationalistische, islam- und fremdenfeindliche Bewegungen in Deutschland und Europa. – Die im vorliegenden Buch abgedruckten Texte der Mitwirkenden spiegeln bisweilen den Vortrags-Stil wider, wurden aber von den Autoren für den Druck überarbeitet und mit Anmerkungen versehen.
6 Die beiden Texte von Rémi Brague sowie der Beitrag von Bekim Agai wurden vom Herausgeber aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt und anschließend von den Autoren kritisch durchgesehen und aktualisiert.
7 Vgl. Richard Schröder, „Europa – Eine Wertegemeinschaft?“, in: Michael Hüttenhoff (Hg.), Christliches Abendland? Studien zu einem umstrittenen Konzept, Leipzig 2014, S. 169–186.
8 Vgl. den umfassenden Sammelband von Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt am Main 22005.
9 Zitat nach Vanessa Hellmann, Der Vertrag von Lissabon. Vom Verfassungsvertrag zur Änderung der bestehenden Verträge. Einführung mit Synopse und Übersichten, Berlin – Heidelberg 2009, S. 103.
10 Text der Grundrechte-Charta: Antonius Opilio, Vertrag über die Europäische Union und der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und über die Arbeitsweise der Europäischen Union in einer synoptischen Gegenüberstellung des Standes dieser Verträge bis 1992, ab 1992, 1997 und 2001 und des Vertrages von Lissabon 2007, Dornbirn 22008, S. D-1. – Die europäische Grundrechte-Charta wurde am 7. Dezember 2000 in Nizza feierlich proklamiert und mit dem Vertrag von Lissabon 2007 für die Mitglieder der Europäischen Union verbindlich.
11 Vgl. Wegmarken europäischer Zivilisation, hg. von Dirk Ansorge/Dieter Geuenich/Wilfried Loth, Göttingen 2001.
12 In seinem viel zitierten „Fragment“ von 1799 „Die Christenheit oder Europa“ beschwört der Romantiker Novalis das Ideal europäischer Einheit: „Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte …“ (in: Novalis, Werke, Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk, hg. von Hans-Joachim Mähl/Richard Samuel, München – Wien 1978, Nd. Darmstadt 1999, S. 732–750, hier 732). Vgl. Winfried Becker, „Europa – Erbe des Mittelalters in den historischen Schriften von Novalis, Adam Müller und Friedrich Schlegel“, in: Thomas Frenz (Hg.), Papst Innozenz III. – Weichensteller der Geschichte Europas, Stuttgart 2000, S. 184–203. Nach Becker sind freilich „die vielzitierten Eingangsworte zu dem Fragment ‚Die Christenheit oder Europa‘ […] nicht so zu verstehen, daß der Autor eine Restauration des Mittelalters empfohlen hätte“ (190). Vgl. auch Philipp W. Hildmann, „Die Christenheit oder Europa oder Von Novalis lernen? Zur Relevanz eines romantischen Referenztextes im aktuellen Europadiskurs“, in: Homiletisch-Liturgisches Korrespondenzblatt. Neue Folge 86 (2006), S. 480–491.
13 Michael Nüchtern, „Religiöser Pluralismus und christliches Abendland“, in: Dialog und Unterscheidung. Religionen und neue religiöse Bewegungen im Gespräch (FS Reinhart Hummel), hg. von Reinhard Hempelmann/Ulrich Dehn, Berlin 2000, S. 11–17, hier 14.
14 Vgl. Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2016, München 2016, bes. S. 603–623.
15 Der Historiker Walther datiert die geistesgeschichtlichen Wurzeln der europäischen Expansion ins 13. Jahrhundert zurück. Dort begegnet ein „Denken in Potentialitäten, der Möglichkeiten von Alternativen und Alteritäten, zugleich der Gedanke an eine Perfektibilität dieser Welt, die sich nicht nur durch Gottes Geschichtsplan vollzieht, sondern durch das aktive Handeln des Menschen“: Helmut G. Walther, „Die Veränderbarkeit der Welt. Von den Folgen der Konfrontation des Abendlandes mit dem ‚Anderen‘ im 13. Jahrhundert, in: Jan Aertsen/Andreas Speer (Hg.), Geistesleben im 13. Jahrhundert (Miscellanea Mediaevalia 27), Berlin – New York 2000, S. 625–638, hier 637. Walther resümiert: „Im 13. Jahrhundert wurden die Fundamente für die Europäisierung der Erde gelegt“ (638).
16 Vgl. Gottfried Kirchner, Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock. Tradition und Bedeutungswandel eines Motivs, Stuttgart 1970.
17 Aufgrund der geographischen Eigentümlichkeit Europas, eine Art „Annex“ zur asiatischen Landmasse zu sein, stellt sich die Frage vorrangig mit Blick auf die Grenzen im Osten und Südosten Europas. Hinsichtlich einer Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union ist die Frage nach Europas Grenzen weiterhin virulent, und zwar sowohl in einem geographischen als auch in einem ideellen Sinn.
18 Herodot, Historien IV 45 (Übers. von August Horneffer, Stuttgart 21959, S. 269).
19 Vgl. zur geschichtlichen Entwicklung seit der Antike: Michael Salewski/Heiner Timmermann (Hg.), Europa und seine Dimensionen im Wandel, Münster 2005.
20 Vgl. Heinz Hürten, „Europa und Abendland – Zwei unterschiedliche Begriffe politischer Orientierung“, in: Philipp W. Hildmann (Hg.), Vom christlichen Abendland zum christlichen Europa. Perspektiven eines christlich geprägten Europabegriffs für das 21. Jahrhundert (Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen 65), München 2009, S. 9–15, hier 9.
21 Vgl. Oskar Köhler, Art. „Abendland“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 1, Berlin – New York 1977, S. 17–42, hier S. 17. Vgl. auch Ders., Art. „Abendland“, in: Sacramentum Mundi. Theologisches Lexikon für die Praxis, Bd. 1, Freiburg 1967, Sp. 1–11.
22 Seit dem Ökumenischen Konzil von Chalkedon (451) zählt die Kirche fünf Patriarchate, nämlich Rom, Antiochia, Alexandria, Konstantinopel und Jerusalem („Pentarchie“). Vor allem unter Kaiser Justinian (527–565) galt der Papst als „Patriarch des Abendlandes“. Als Selbstzeichnung eines Papstes erscheint „Patriarch des Abendlandes“ erstmalig bei Theodor I. im Jahr 642. Papst Benedikt XVI. verzichtete im März 2006 auf diesen Titel. In einer Erklärung des Vatikan hierzu heißt es: „Heute beruft sich die Bedeutung des Begriffs ‚Abendland‘ auf einen kulturellen Kontext, der sich nicht nur auf Westeuropa bezieht, sondern sich von den Vereinigten Staaten von Amerika bis hin nach Australien und Neuseeland erstreckt, indem er sich so von anderen kulturellen Kontexten differenziert. Es ist offensichtlich, dass eine derartige Bedeutung des Begriffs ‚Abendland‘ weder ein kirchliches Territorium zu beschreiben beabsichtigt, noch als Definition eines patriarchalen Territoriums gebraucht werden kann. Wenn dem Begriff ‚Abendland‘ eine in der juridischen Sprache der Kirche anwendbare Bedeutung gegeben werden sollte, so könnte er nur in Bezug auf die lateinische Kirche verstanden werden.“ Die Erklärung deutet den Verzicht als ökumenisch hilfreich: „Der Verzicht auf den genannten Titel will einen historischen und theologischen Realismus zum Ausdruck bringen und zugleich der Verzicht auf einen Anspruch sein, der dem ökumenischen Dialog von Nutzen sein könnte“ 〈http://kath.net/news/13204i〉; (Zugriff 12.05.2016).
23 Um den schon geographisch wenig präzisen Begriff „Abendland“ zu vermeiden, sprechen manche deshalb auch etwas umständlich von „Lateineuropa“.
24 Zur Rezeption Spenglers durch protestantische Theologen im frühen 20. Jahrhundert vgl. Jörg Schneider, „Oswald Spenglers ‚Der Untergang des Abendlandes‘ als Katalysator theologischer Kriseninterpretation zum Verhältnis von Christentum und Kultur“, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 10 (2003), S. 196–223.
25 Vgl. Novalis, Fragment „Die Christenheit oder Europa“ [1799], in: Werke 2, S. 731–750 (Anm. 11).
26 Vgl. Friedrich Schlegel, „Signatur des Zeitalters“ [1820–23], in: Studien zur Geschichte und Politik, eingel. und hg. von Ernst Behler (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 7), München 1966, S. 483–596.
27 Vgl. Heinz Gollwitzer, „Zur Wortgeschichte und Sinndeutung von ‚Europa‘“, in: Saeculum 2 (1951), S. 161–172, hier 170.
28 Vgl. dazu Becker, „Europa – Erbe des Mittelalters“ (Anm. 9), S. 196–199.
29 Vgl. Reiner Anselm, „Abendland oder Europa? Anmerkungen aus evangelisch-theologischer Perspektive“, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 57 (2013), S. 272–281, bes. 272–275.
30 Vgl. dazu Lucia Scherzberg, „Katholische Abendland-Ideologie der 20er und 30er Jahre. Die Zeitschriften ‚Europäische Revue‘ und ‚Abendland‘“, in: Michael Hüttenhoff (Hg.), Christliches Abendland? Studien zu einem umstrittenen Konzept, Leipzig 2014, S. 11–28.
31 Vgl. Vanessa Conze, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970), München 2005, bes. S. 27–55.
32 Vgl. ebd., S. 57–63.
33 Theodor Heuss, Reden an die Jugend, Tübingen 1956, S. 32.
34 Vgl. Philippe Nemo, Was ist der Westen? Die Genese der abendländischen Zivilisation (Untersuchungen zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik 49), Tübingen 2005, bes. S. 9–43 (Qu’est-ce que l’Occident?, Paris 2004). Nemo verweist des Weiteren auf die „päpstliche Revolution“ des 11.–13. Jahrhunderts, in der in Westeuropa die Glaubensprinzipien des Christentums politisch und sozial strukturbildend wurden. Vgl. auch Hans Waldenfels, „Christliches Abendland und die Frage nach der Identität Europas“, in: Klaus Krämer/Angar Paus (Hg.), Die Weite des Mysteriums. Christliche Identität im Dialog (FS Horst Bürkle), Freiburg – Basel – Wien 2000, S. 626–640, bes. 627–630.
35 Vgl. Wolfgang Benz, Ansturm auf das Abendland? Zur Wahrnehmung des Islam in der westlichen Gesellschaft (Wiener Vorlesungen im Rathaus 170), Wien 2013. Anders noch Köhler, Art. „Abendland“ [1973]: „Der Begriff Abendland ist nicht nur nicht historisch unbrauchbar, sondern historisch unentbehrlich“ (a.a.O. [Anm. 20], S. 24). Vgl. auch Friedrich W. Graf, „Ruhe, liebes Abendland. Über das Werden eines schillernden Begriffs“, in: Zeitzeichen 16, Heft 3 (2015), S. 8–11.
36 Immanuel Kant, Entwürfe zu dem Colleg über Anthropologie aus den 70er und 80er Jahren, Ha 31, in: Handschriftlicher Nachlass, Bd. 2 (Akademie-Ausgabe XV 77325–27). Vgl. Ernst-Joachim Mestmäcker, „Kants Rechtsprinzip als Grundlage der europäischen Einigung“, in: Götz Landwehr (Hg.), Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit. Zur Aktualität der Rechtsphilosophie Kants für die Gerechtigkeit in der modernen Gesellschaft, Göttingen 1999, S. 61–72; Manuel José do Carmo Ferreira, „Kant e a Constituição Europeia“, in: Revista Portuguesa de Filosofia 61 (2005), S. 341–351.
37 Vgl. hierzu die detailreichen Studien in: Norbert Fischer (Hg.), Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselvollen Geschichte (Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte 8), Freiburg – Basel – Wien 2005.
38 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf [1795], Kap. II: „Wenn es Pflicht, wenn zugleich gegründete Hoffnung da ist, den Zustand eines öffentlichen Rechts, obgleich nur in einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung wirklich zu machen, so ist der ewige Friede, der auf die bisher fälschlich so genannte Friedensschlüsse (eigentlich Waffenstillstände) folgt, keine leere Idee, sondern eine Aufgabe, die, nach und nach aufgelöst, ihrem Ziele (weil die Zeiten, in denen gleiche Fortschritte geschehen, hoffentlich immer kürzer werden) beständig näher kommt“ (Akademie-Ausgabe VIII 38627–33). – Vgl. dazu Matthias Lutz-Bachmann/James Bohman (Hg.), Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung, Frankfurt am Main 1996.
39 Vgl. Nemo, Was ist der Westen? (Anm. 33), bes. S. 21–32; ferner: Axel Freiherr von Campenhausen, „Christentum und Recht“, in: Peter Antes (Hg.), Christentum und europäische Kultur. Eine Geschichte und ihre Gegenwart, Freiburg – Basel – Wien 2003, S. 96–115.