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2. Begriffliche Fähigkeiten: perceptio per distans

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Eine Theorie der Erfahrung versucht seit Immanuel Kant das Problem in den Blick zu bekommen, wie sich unsere Begriffe zur Weltbezogenheit unseres Denkens, zu unserem Zur-Welt-sein verhalten.4 Der Erfahrung ist im Zuge eines „Mythos des Gegebenen“ (vgl. SELLARS 1956) kein Eigenrecht einer Welt an sich zuzusprechen, dem das Denken nachträglich reflexiv zu begegnen hätte. Der Mensch hat keinen unmittelbaren Zugang zur Welt in der Erfahrung. Für Kant ist die Erfahrung durch Reflexivität gekennzeichnet und nur in der Wechselwirkung von Spontaneität und Rezeptivität, von Begriff und Anschauung möglich. Daher unterscheidet er Wahrnehmungsurteile von Erfahrungsurteilen, denen reflexive Verstehensprozesse der Wahrnehmung innewohnen.5

Aus der Perspektive der Erfahrung ist die Trennung einer intelligiblen Welt der Spontaneität und des Begrifflichen von einer empirischen des Sinnlichen und der Rezeptivität nicht sinnvoll.6 Daher rührt Kants berühmte Warnung, dass Begriffe ohne Anschauung leer seien, also über keinerlei Gehalt verfügen. Anschauungen ohne Begriffe wiederum seien blind, dass heißt, sie können sich in keiner Weise verstehend auf die Welt richten. Es gibt also keine Rezeptivität oder Anschauung, die nicht schon begrifflich ist, es gibt keine Begriffe, die nicht immer schon sinnlich sind. Kant spricht den begrifflichen Fähigkeiten ein sinnliches Vermögen zu, wenn er sie als eine Art Sehenkönnen bestimmt, anderenfalls die Anschauung schlichtweg blind wäre.7 Bildung ist eine begriffliche Fähigkeit und Leistung, die wir durch unsere natürliche Empfänglichkeit und Offenheit für die Welt erwerben. Diese begrifflichen Fähigkeiten enthalten die Möglichkeit, die Welt, auf die sich der Mensch richtet, zu verstehen und sich in ihr zu orientieren.8 Dabei sind sie immer schon sinnlich konstituiert und auf eine konkrete Lebenspraxis einer sozialen Welt bezogen. Doch worin besteht nun die eigentliche Leistung der begrifflichen Fähigkeiten, die der Bildung des Menschen zugeschrieben werden kann? Wie können in der Erfahrung Spontaneität und Rezeptivität untrennbar zusammen gedacht werden? Wie ist ein begriffliches Denken möglich, das stets sinnlich bleibt? Und was macht die Begriffe gewissermaßen „ sehend“?

Kant schreibt den Begriffen sehr unterschiedliche Funktionen zu. Doch alle diese unterschiedlichen Funktionen können Begriffe übernehmen, weil sie vor allem eines leisten: Sie schaffen Distanz. Kants Unterscheidung von Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen, von der bereits oben die Rede war, hat ihren Grund in dem reflexiven begrifflichen Verstehensprozess der Erfahrung, und zwar als eine Leistung der Distanznahme. Begriffliche Fähigkeiten, als der Gehalt von Bildung, sind also Fähigkeiten der Distanz. Der Mensch tritt in der Erfahrung in Distanz zu dieser Erfahrung, ohne ihre Nähe jemals verlassen zu können. Die Herausbildung und Realisierung dieser begrifflichen Fähigkeit ist der Gehalt von Bildung. Sie ist die Fähigkeit der Distanz, und die begriffliche Leistung besteht in nichts anderem als der Leistung, diese Distanz zu schaffen, um die Dinge verändert zu sehen. Nur ein Wesen, das in die Nähe involviert ist, braucht Distanz zu dieser Nähe. Der Mensch begegnet einer Welt und schafft zugleich Distanz zu ihr. In dieser bildenden Distanz hat allerdings die Spontaneität, das ist die begriffliche Fähigkeit als Vermögen der Distanz, das letzte Wort, anderenfalls verlöre sich der Mensch quasi in der Welt, er machte keine Erfahrung, verbliebe im Status bloßen Erlebens ohne die Reflexivität eines Erkenntnisurteils. Bildung ist somit kein exponierter Zustand etwa eines spezifischen Subjekts, sondern die Möglichkeit, begriffliche Fähigkeiten in ihrer Vielfalt zu entwickeln und zu verwirklichen. Genauer: Die begriffliche Fähigkeit der Spontaneität ist ein Vermögen, das alle mensch lichen Potentiale wiederum selbst indiziert. Sie ist die Fähigkeit, nicht nur zur Erfahrung der Welt, sondern zugleich zu den menschlichen Vermögen selbst in eine Distanz zu treten. Bildung ist mit anderen Worten eine begriffliche Qualität aller menschlichen Vermögen, z.B. des Verstandes, der Einbildungskraft oder der Sinnlichkeit.

Bildung als diese begriffliche Fähigkeit der Distanz ist ein von der Erfahrung untrennbarer Teil, weil sie, erstens, die Bildung begrifflicher Fähigkeiten überhaupt betrifft, die für die Möglichkeit der Erfahrung unverzichtbar sind, und, zweitens, einen transformativ-reflexiven Bildungsprozess beschreibt, in dem die Erfahrung im Akt der Distanzierung selbst zum Tribunal der eigenen Erkenntnis, des eigenen Erfahrungshorizontes werden kann. Erfahrenes fügt sich dann nicht mehr in das Sinn- und Bedeutungsgeflecht des Verstehenshorizontes ein und bedarf eines Umgestaltens der eigenen Wahrnehmungs- und Erfahrungsmatrix. Ein solches Tribunal der Erfahrung zwingt den Menschen dazu, die begriffliche Apparatur, den begrifflichen Horizont seines Verstehens und seine Interpretationsschemata, umzustrukturieren. Zugleich schließt diese Transformation eine veränderte Wahrnehmung von Welt und Wirklichkeiten ein. Das Begriffliche ist als ein Sehenkönnen, als eine „perceptio per distans“ [sic!] (BLUMENBERG 2007) das Netz, das Geflecht, in dem sich unsere Wirklichkeiten am Ende verfangen und sie einfärben.

Die begrifflichen Fähigkeiten des Menschen sind grundlegend an dieser erfahrungsbezogenen „Störung“ der eigenen Weltzugewandtheit beteiligt. Die Erfahrung kann sich selbst quasi nur zum Tribunal werden, wenn es bereits eine latente Aufmerksamkeit, eine sich herausbildende Empfänglichkeit oder Sensorik für das fungierende Begriffliche in unserer Erfahrung gibt. Nur so kann eine solche Sinn- und Bedeutungsverweigerung der Erfahrung überhaupt wahrgenommen werden, nur in dieser Weise wird sie auffällig.

Im Grunde bedarf es also einer begrifflichen Verfeinerung der Empfänglichkeit und der Aufmerksamkeit, damit die Erfahrung überhaupt zum Tribunal werden kann. Und jede sinnlich wahrgenommene Differenz kann in der Erfahrung potentiell einen Unterschied im Begrifflichen ausmachen (vgl. auch LAUER 2013, S. 375). Nur so, in der Wechselwirkung von Intentionalität und Attentionalität, kann die Erfahrung ihre Offenheit für die Deutung der Welt bewahren. Kurzum: Erfahrungen sind durch begriffliche Fähigkeiten reflexiv. (a) In ihnen bildet sich das Begriffliche als Matrix und Interpretationsschemata der Wahrnehmung. In der Wahrnehmung sind also immer begriffliche Fähigkeiten enthalten. Das Resultat derartiger Erfahrungen, so könnte festgehalten werden, sind Begriffe als sprachlich fundierte Interpretationsschemata, gleichsam Regeln, die die Beziehungen unserer sozialen Welt, ihr Sinngeflecht, das in die Sprache eingewoben ist, trägt. (b) Zum anderen transformiert sich in der Erfahrung das Begriffliche selbst, insofern die Erfahrung zum Tribunal wird, das heißt, dass das bislang fungierende Begriffliche auffällig wird. Diese kritische Aufmerksamkeit für das Begriffliche bildet sich ebenfalls nur in der Erfahrung.

Der Bildungsbegriff umfasst die Dimensionen der Erfahrung und bezieht sie aufeinander. Dabei können analog zwei Momente von Bildung heuristisch-analytisch voneinander geschieden werden, die aber nur in ihrer Verschränktheit begründet sind. Bildung unter der Perspektive einer ersten Ordnung ist die Herausbildung, Verfeinerung und Aktualisierung begrifflicher Fähigkeiten in Lernprozessen. Dabei implizieren Lernprozesse durch die der Wahrnehmung und der Erfahrung von Welt zugrunde liegenden Begriffe – denn es gibt keine nicht interpretierte Wahrnehmung – bereits in nuce die Distanzleistungen der Menschen. Wenn Humboldt daher mannigfaltige Situationen zur Übung offener Verstehensprozesse empfiehlt, hat er offensichtlich im Blick, selbst Fähigkeiten der Distanznahme zu fördern. Denn nur ein Mensch, der Distanz hat oder schafft, befindet sich überhaupt in einer Situation. Deren Mannigfaltigkeit ist Übung auf dem Weg des Gebrauchs begrifflicher Fähigkeiten. Begriffliche Fähigkeiten können nicht von der Erfahrung getrennt gedacht werden, sondern sie entwickeln sich mit ihr. Je feiner diese begrifflichen Fähigkeiten sind, desto feinsinniger zeigt sich die Welt. Wenn beispielsweise McDowell davon spricht, dass Bildung so etwas wie eine Verantwortung ist, die wir gegenüber der Welt einnehmen (vgl. McDOWELL 2012, S. 12), dann mag er genau diesen Zusammenhang der Verantwortung für Welt im Blick haben, ihr begrifflich gerecht zu werden.

Bildung ist eine Distanzleistung, die die Wahrnehmungsebene nicht verlässt, im Gegenteil, vielmehr eine andere Ebene der Sicht erlaubt. Diese begrifflichen Fähigkeiten sind daher notwendig ästhetisch verfasst und umschließen keineswegs wahrnehmungsabstinente Rationalismen. In seiner begrifflichen Fähigkeit bewahrt der Mensch den Sinn für die Ansprüche der Welt. Die Bildung zweiter Ordnung ist die eigentliche begriffliche Distanzleitung als transformativer Bildungsprozess, der die Distanz zu den eigenen Vermögen einschließt. So wird zugleich das Selbstverhältnis im Kontext des Sozial- und Weltverhältnisses reflexiv und thematisch. Erst dieser Prozess erlaubt eine andere Sicht auf die Welt und fragt danach, ob wir die Welt, so wie wir sie sehen und begreifen, auch so sehen und begreifen wollen. Die Erfahrung wird zu einem Tribunal, dem sich der Mensch nicht entziehen kann und das quasi eine Rechtfertigung verlangt. Der Mensch muss sich im Bildungsprozess rechtfertigen, er muss in diesem Prozess den Horizont seines Verstehens verändert begreifen, er muss seine Interpretationsschemata umbilden. Die begrifflichen Gehalte, die selbstverständlich wirksam sind, werden explizit und fordern ein Umdenken. Das Faktische der Bildung erster Ordnung wird in der Bildung zweiter Ordnung zum Möglichen. In diesem Prozess der Bildung, in dem Spielraum des Möglichen muss der Mensch gleichsam die richtige Stellung zur Welt finden. Die begriffliche Fähigkeit wird so zu einer Distanzleistung, der eine eigene Form der Reflexivität des Möglichen korreliert: Die Verzögerung.

Da allerdings beide Modi von Bildung unmittelbar aufeinander bezogen sind, gehört bei der Herausbildung begrifflicher Fähigkeit mehr noch als alles andere zwangsläufig die zu vermittelnde Erkenntnis, dass es keine letzten Gründe gibt und Überzeugungen vorläufig und provisorisch sind. Nur in dieser Haltung einer gleichsam kritisch-skeptischen Bildung kann die Aufmerksamkeit für Sinn und Bedeutung überhaupt verfeinert und wach gehalten werden. Mit anderen Worten: Das zentrale Moment der begrifflichen Fähigkeiten liegt nicht in dem lernenden Erwerb von begrifflichen Gehalten als Basis der Lebensform- und praxis (Bildung erster Ordnung), sondern im Moment der Bildung einer Fähigkeit der Distanz, die am Ende auf ein fragendes Denken zielt, auf eine Nachdenklichkeit als Offenheit für Sinn und Bedeutung (vgl. DÖRPINGHAUS 2013b). Allein diese Offenheit für ein Tribunal der Erfahrung (Bildung zweiter Ordnung) ist die Legitimation, um überhaupt von einer Bildung der ersten Ordnung zu sprechen, die in Lernprozessen gleichsam diese Offenheit für die Welt bewahrt und mitunter thematisiert.

Bildung als eine Distanzleistung, als gleichsam „freies, distanziertes Verhalten“ (GADAMER 1990, S. 448), steht somit in einer radikalen Differenz zu Formen der Anpassung. Sie wird stattdessen als – lebenspraxisgebundene – Verwirklichung begrifflicher Fähigkeiten verstanden, die offen sind für Welt (vgl. McDOWELL 2012, S. 138). Darin und in der Offenheit muss Bildung auch als ein gesellschaftliches und zu verantwortendes Wagnis erkannt werden. Als begriffliche Wesen leben Menschen in einer Welt des Sinns, nicht in einer Umwelt der Bedrängnis, der er sich lediglich anzupassen hätte (vgl. GADAMER 1990, S. 447f.). Die Anpassung kennt keine Wechselwirkung von Spontaneität und Rezeptivität, keine begriffliche Gestaltung von Welt, keine Weltmodellierung. Den Menschen zu behandeln, als bestünde sein Leben ausschließlich in der Anpassung an Vorgegebenes, ihm nicht die Fähigkeit der Gestaltung zu gestatten und ihn zu unterstützen, sein Leben „in die eigene Hand“ zu nehmen, beraubt ihn einer Würde, so schwer dieser Begriff auch wiegt, die für das Zusammenleben schwer verzichtbar ist.

Bildung an ihren Grenzen

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