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3. Der reflexive Status des Begrifflichen: die Verzögerung

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Mit dem intelligiblen Bereich eröffnet Kant die Möglichkeit einer Welt des Sinns und der Bedeutung. Ein begriffliches „Instrumentarium“ für den Raum der Möglichkeiten, dessen Bewohnerin der Bildungsbegriff am Ende ist, „muß vielfach umfangreicher, subtiler sein als solches für die akute Wirklichkeit“ (BLUMENBERG 2007, S. 17). Zugleich ist die Einrichtung dieses Bereichs eine Absage an die Reduzierung des Menschen auf ein Reiz-Reaktion-Wesen, das der Naturgesetzlichkeit unterliegt. Entscheidend ist, dass Kant dem Intelligiblen einen Sinnüberschuss einschreibt, der sich aus der lebensweltlich gesättigten Erkenntnis nährt, dass durch den Positivismus einer bloß empirisch-nomologischen Perspektive nichts über den Menschen gesagt werden kann, was für sein Verständnis als begriffliches Wesen der Reflexion aufschlussreich wäre. Bildung als eine begriffliche Fähigkeit zur Distanzleistung bedarf eines Gestaltungsraumes, innerhalb dessen sich Bildungsprozesse vollziehen können. Aber wie kann eine Distanz in der Erfahrung gedacht werden, die den Erfahrungsraum nicht verlässt? Welcher Prozess verbirgt sich hinter welcher Art von Distanzierung, durch die Erfahrungen möglich werden? Die Distanzleistung begrifflicher Fähigkeiten ist die Distanz in der Zeit. Hans Blumenberg hat sehr richtig erkannt, dass diejenige Distanz, die die begriffliche Fähigkeit impliziert, in einem Temporalspalt liegt, der als Verzögerung bezeichnet werden kann. „Das Bewußtsein ist nicht der Urheber der Verzögerung, sondern deren ausgeschöpfte Erscheinungsform: insofern es intentional ist, nutzt es die in der Weite des Raumes zu gewinnende Zeit“ (BLUMENBERG 2006, S. 560). Mit anderen Worten: Die Verzögerung ist die Form der Distanz, die dem Verstehen innewohnt und die alle Bildungsprozesse begleiten muss. Erst im Moment der Verzögerung entsteht die Distanz, die reflexive-rezeptive Bildungsprozesse ermöglicht. Die Verzögerung ist der reflexive Status des Begrifflichen. Doch worin besteht diese dem Bildungsprozess eigene Form der perceptio per distans?

Als begriffliche Wesen betrachten und behandeln Menschen sich nicht so, als folgten sie unbefragt den Verbindungen von Gesolltem und Verhalten. Stattdessen betrachten und behandeln sie sich als begriffliche Wesen, die Gründe haben für ihr Handeln, nicht bloße Reize, und im Rahmen einer Welt des Sinns und der Bedeutung eben nicht reagieren, sondern nach der Verständlichkeit, die der Bedeutung eigen ist, suchen. Eine solche Absage an die Verbindung von Reiz und Reaktion lässt sich über den Gedanken fassen, dass Bildung mit den Verzögerungen der unmittelbaren und kürzesten Verbindungen im Denken, Handeln und Urteilen zusammenhängt (vgl. DÖRPINGHAUS/UPHOFF 2012, S. 113ff.). Die unmittelbare Reaktion wird dabei gehemmt und verhindert. Etwas, das möglicherweise auf den Fortgang nahezu drängt und den Abschluss sucht, wird verzögert, auf Distanz gehalten, so dass eine andere Ebene der Sicht eröffnet wird. Die Verzögerung markiert als Grenzphänomen den Übergang von der bloßen Nutzbarmachung im Kontext einer andrängenden Umwelt von etwas hin zur Frage nach seinem Sinn und seiner Bedeutung. In der Verzögerung lernt der Mensch zu sehen, indem er auf einen Reiz nicht sofort reagiert, ihm Widerstand entgegenbringt und Freiheit schafft (vgl. auch NIETZSCHE 1988, S. 108).

Ohne Zweifel hat jede Erfahrung eine rezeptive und nicht einholbare Dimension, die aber nur in Form des Begrifflichen einen reflexiven Status erlangt. Dieser Übergang zum Reflexivwerden des Begrifflichen heißt Verzögerung. Anders formuliert: „Um zu reflectieren“, so Wilhelm von Humboldt, „muss der Geist in seiner fortschreitenden Thätigkeit einen Augenblick still stehn“ (HUMBOLDT 2002b, S. 97). Die Fähigkeit dieser Verzögerung ist in der Sprache fundiert, insofern sie das Medium der Begriffe und der Reflexion ist, durch die der Mensch sich umsieht und orientiert (vgl. ebd., S. 98, vgl. auch ebd. S. 196). Bildung ist ohne diese Art der Verzögerung nicht zu denken, weil sie allein Bildung in der Erfahrung gründet. Sie hält die Spannung von Distanz und Nähe, von Spontaneität und Rezeptivität, und zwar ohne sie vorzeitig aufzulösen. In ihr wird der Verstehenshorizont als gewissermaßen Epoché eingeklammert, er bleibt vakant. Wilhelm von Humboldt beschreibt genau diese Verzögerung mit der Metapher der Wechselwirkung von Spontaneität und Rezeptivität, die in der Verzögerung Bedeutung und Sinn generiert und den Konnex eines linearen Fortgangs unterbricht. Anders: Es geht um einen Horizont, der in Bildungsprozessen ins Schwanken gerät. Die Pointe des Begrifflichen liegt nun darin, in der Verzögerung dem Sinnlichen einen Ort in der reflexiven Rechtfertigungspraxis unserer Gründe des Verstehens zu geben. Zugleich ist die Verzögerung als begriffliche Leistung der Distanzierung das Moment eines empirischen Gehaltes im Reich des Noumenalen, im Reich des Begrifflichen. Sie ist die empirische, gleichwohl negative Bedingung der Möglichkeit von Bildungsprozessen. Die Verzögerung ist eine Distanzleistung der begrifflichen Fähigkeit, ohne die weder eine Verzögerung als quasi explizit intentionale Leistung noch als eine Art Widerfahrnis möglich wären. Insofern ist diese Differenz am Ende marginal mit Blick auf die Distanzleistung, weil sie im Rahmen der begrifflichen Fähigkeiten keinen Halt finden kann. Die Verzögerung betrifft als reflexiver Status des Begrifflichen eine andere Sichtweise, ein anderes Bild von Welt. Sie markiert als Prozess der Distanzierung genau den Übergang vom So-sein-müssen des Faktischen hin zum Anders-sein-können des Möglichen. Sie ist als ein Tribunal der Erfahrung das Außerkraftsetzen der bestehenden Logik des Selbstverständlichen und die Schaffung von Distanz. Sie ist darin widerständig und negativ, sie ist also eine Unterbrechung des bisher Gedachten, eine Brechung des fungierenden begrifflichen Horizontes, das produktive Scheitern des Fortgangs einer Gegenwart in die andere (vgl. MERLEAU-PONTY 1966, S. 484f.).

Bildung als eine begriffliche Fähigkeit aufzufassen führt zu einer Vorstellung von Bildung, die über die mit ihr verbundene Erfahrung empirisch sein muss, eine Erfahrung, in der die Reflexivität sinnlich ist und in der es um das Verstehen von Sinn sowie Bedeutungen geht. Die begrifflichen Fähigkeiten sind dabei ein Vermögen des Menschen, Distanz zu schaffen, um eine andere Ebene der Sicht zu haben, die sich nicht der Nutzbarmachung verschreibt. So betrachtet ist die Erfahrung eine zweckfreie Empirie. Fragt man weiter, wie sich diese Distanzleistung zeigt, gelangt man zum Gedanken der Verzögerung, die zur Bedingung von Bildungsprozessen dieser Art wird. Ihr Wesen liegt in der Negativität, in der Unterbrechung eines selbstverständlichen Fortgangs, eine Erschütterung der Erwartung, die zur Umgestaltung des Verstehenshorizontes zwingt. Die Pointe des Begrifflichen ist die Distanzleistung, mit der der Mensch empfänglich für die Welt der Bedeutung ist, eine Welt, die im Geheimnis ihre Offenheit bewahrt. Diese Fähigkeit ist am Ende das Vermögen des Verstehens, Welt zu begreifen, ohne die Fassungslosigkeit des menschlichen Seins zu verlieren. Bildung ist eine spezifisch begriffliche Fähigkeit des Sich-Verstehens und eine Empfänglichkeit für Bedeutung, die für eine Theorie der Erfahrung immer schon in Anspruch genommen wird. Bildung steht für die Gestaltung der Welt durch begriffliche Fähigkeiten, die – in der Tradition der phronesis – immer auch die Aufgabe haben, sich selbst zu befragen und damit offenzuhalten für die Welt, das Andere und das Tribunal der Erfahrung.

Bildung an ihren Grenzen

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