Читать книгу Tod unterm Tannenbaum - Группа авторов - Страница 8
SYBILLE BAECKER Engel mit Schuss
ОглавлениеRot.
Ziemlich dunkles Rot und zähflüssig, stelle ich fest, als ich mit einem Essstäbchen vom Asia-Imbiss in der Masse rühre. Rot passt in die Jahreszeit – in zwei Wochen ist Weihnachten. Mutig ist es trotzdem, denke ich und bekomme leichte Zweifel. Hatte ich mir das wirklich gut überlegt?
Das Klingeln meines Telefons befreit mich vorläufig von einer Antwort.
„Samira Pieschl, private Ermittlungen. Was kann ich für Sie tun?“, rattere ich meinen Spruch runter und versuche dabei, beschäftigt, erfolgreich und zuverlässig zu klingen.
„Ich möchte gern mit der Chefin sprechen“, höre ich am anderen Ende eine weibliche Stimme.
„Das tun Sie bereits.“ Früher hätte ich auf ein, zwei Tasten getippt und mich mit mir selbst verbunden.
„Ah“, dringt es an mein Ohr, ein wenig überrascht, dass es sich bei mir offensichtlich um einen Ein-Frau-Betrieb handelt oder meine zahllosen Angestellten gerade allesamt in der Kaffeepause sind.
„Arbeiten Sie auch außerhalb Stuttgarts?“
„Das kommt drauf an. Mit wem spreche ich denn, bitte?“, erinnere ich meine Gesprächspartnerin an die Grundsätze gepflegter Konversation. Mein Blick fällt auf den Eimer mit roter Farbe. Meine Auftragslage ist gerade etwas mau und ich wollte die Zeit nutzen, meinem Büro etwas mehr Klasse zu verleihen.
„Oh ja, Entschuldigung. Christine Habegut aus Tübingen.“
„Und was kann ich für Sie tun, Frau Habegut?“
„Nun, sagen wir es mal so: Mir ist ein Engel abhandengekommen.“
So etwas kann in der Vorweihnachtszeit passieren, wenn man den Buchsbaum im Vorgarten mit Christbaumschmuck verziert. „Alter, Größe, Gewicht?“, frage ich mit professioneller Detektiv-Routine und hoffe, dass sie mein boshaftes Grinsen nicht heraushört.
„Könnten wir das vielleicht persönlich besprechen?“
„Sicher, das muss ich Ihnen dann aber bereits in Rechnung stellen.“
„Wann können Sie in Tübingen sein?“
Kuno – eigentlich Konrad Landshut, Polizist, Ex-Kollege und mein Mann für alle Fälle – ist wenig begeistert, als ich ihn kurz darauf um sein Auto bitte.
„Mein Wagen ist noch in der Werkstatt …“, erkläre ich.
„Und nächstes Jahr feiern wir Weihnachten im Juli. Eine Werkstatt kannst du dir doch gar nicht leisten.“
„Deswegen steht er ja noch da.“ Zerknirschtes Lächeln meinerseits.
„Oh Mann, Pieschl!“
Ich hasse es, wenn er das sagt. Aber der Wagenschlüssel, den er mir entgegenhält, versöhnt mich. „Keine Kratzer und keine Strafzettel, wenn ich bitten darf.“
„Tübingen, warum bist du so hügelig“, schwirrt mir ein Ohrwurm im Kopf, mit dem vor einiger Zeit zwei Studentinnen ihre Liebe zur Universitätsstadt via Internetvideo verbreitet hatten. Tübingen, geografischer Mittelpunkt Baden-Württembergs. Ehemals Heimat von Gôgen und Gelehrten, heute hauptberuflich Universitätsstadt mit niedrigem Einwohner-Altersdurchschnitt und grünem Oberbürgermeister. Theoretisch könnte man die Strecke zwischen Bad Cannstatt und Tübingen in einer knappen Dreiviertelstunde bewältigen. Theoretisch. Die Praxis sieht anders aus: Dicht gedrängt schiebt sich der Feierabendverkehr mit Tempo 50 über die B 27. Ich benötige geschlagene 75 Minuten, bis ich Kunos Wagen in einer Parkbucht am Neckar abstelle. Innerlich an die vorweihnachtliche Gutmütigkeit der Ordnungshüter appellierend, verzichte ich darauf, ein Parkticket zu ziehen und marschiere Richtung Innenstadt.
Wir haben uns in der Tchibo-Filiale am Holzmarkt verabredet. Trotz meiner Verspätung ist meine Auftraggeberin noch nicht da – oder schon wieder gegangen. Ich hoffe Ersteres, gestatte mir einen Espresso und platziere mich mit Tässchen am Stehtisch vorm Fenster mit Blick auf die alte Stiftskirche. Wenig später betritt eine elegant gekleidete Dame das Geschäft, dezent geschminkt, ansehnliche Figur. Ende 20, schätze ich. Sie bestellt einen Cappuccino und gesellt sich mit leichter Skepsis im Blick zu mir. Mit meinem Outfit werde ich dem Image des Kino-Schnüfflers gerecht: Alte Bundeswehrjacke, abgetragene Converse, dazwischen verschlissene Jeans. Aber es ist ja bekannt, dass sich hinter so einer abgewrackten Fassade stets ein grandioser Verstand verbirgt.
„Frau Pieschl?“
Ich erkenne die Stimme vom Telefon. Die Musterung und ihr selbstgefälliges Auftreten gefallen mir nicht. In Anbetracht meines leeren Auftragsbuches widerstehe ich jedoch dem Impuls, die Frage zu verneinen und mich wieder auf den Weg zurück zu Büro und Farbeimer zu machen. „Ja“, entgegne ich knapp, schlürfe meinen Espresso und schaue den Passanten beim Flanieren zu.
„Danke, dass Sie so schnell kommen konnten.“ Sie stellt sich neben mich und bemüht sich um Blickkontakt. „Kennen Sie die Firma ‚Engel‘?“
Ich zucke die Achseln. „Was machen die? Weihnachtsdekoration?“
„Schokolade“, wird mein Firmenwissen verbessert. „Eine sehr hochwertige, teure Schokolade. Wir hatten einen Stand auf der chocolArt, das ist der Schokoladenmarkt, der Anfang Dezember in Tübingen stattfindet.“
Kenn ich. Ich war mit Kuno am vergangenen Wochenende auf eben diesem Markt. An eine „Engel“-Schokolade kann ich mich spontan nicht erinnern. Ist aber vermutlich auch nicht meine Preisklasse.
Sie nippt an ihrem Cappuccino, leckt dezent den Schaum von ihrer Oberlippe. Dem äußeren Schein nach könnte man meine potenzielle Auftraggeberin als sündige Schoko-Verführung beschreiben. Ich entspreche da eher der Ritter-Sport-Variante: klein, knackig und kompakt.
„Ich will Sie nicht lange aufhalten. Ihre Zeit ist sicherlich kostbar.“ Ihr Blick verrät, dass sie nicht glaubt, was sie da sagt. „Es geht um einen meiner Mitarbeiter. Ich habe Zweifel an seiner Loyalität.“
Aha, der abhandengekommene Engel.
„Hat er Ihnen Schokolade geklaut?“
„Nein, ich vermute, er verkauft meine Rezepte an die Konkurrenz.“
Betriebsspionage. Das ist doch mal eine Abwechslung im tristen Schnüfflerdasein. Statt um gebrochene Herzen geht’s hier um schnöden Mammon.
Sie wühlt in ihrer Gucci-Handtasche und holt zwei Pralinchen hervor, packt beide aus und schiebt sie mir auf der Folie hin.
„Probieren Sie.“
„Ist da Alkohol drin?“, frage ich misstrauisch.
„Ein bisschen Kognak, aber das ist nicht der Rede wert.“
Kommt ganz darauf an. „Danke, ich muss noch fahren.“ Ich schiebe die Pralinen wieder in ihre Richtung. 27 Monate. Das lass ich mir von zwei Schoko-Kugeln nicht kaputt machen. Ich presse entschlossen die Lippen aufeinander. Christine Habegut verzieht kurz den Mund.
„Nun … die linke Praline kommt aus meiner Produktion. Die rechte von meinem Konkurrenten. Hätten Sie sie probiert, da bin ich sicher, hätten Sie keinen Unterschied geschmeckt.“ Die Schokoladenfachfrau greift erneut in ihre Tasche und legt ein Foto auf den Tisch. „Michel Laferré.“ Sie spricht den Namen französisch aus. „Er arbeitet noch nicht lange für mich. Wir sind ein kleines Unternehmen, und da war es wohl nicht schwer für ihn, an die geheimen Rezepturen zu kommen.“
„Haben Sie Ihren Verdacht ihm gegenüber schon geäußert?“
„Nein. Ich möchte, dass Sie ihn durchleuchten, und sollte sich mein Verdacht bestätigen, werde ich natürlich entsprechende Maßnahmen ergreifen.“
Durchleuchten! Bin ich ein Röntgengerät? Ich schaue auf das Bild. Meine Augenschlitze verengen sich. Das Foto zeigt das Gesicht eines Mannes, etwas jünger als ich, vielleicht um die 30. Der Bart lässt ihn älter aussehen. Die Augen. Ich habe die Augen schon einmal gesehen. Die gehörten aber nicht zu einem Michel Laferré. Damals hieß er Dieter Bosch und war spezialisiert auf Anlagenbetrug. Aalglatter Yuppie. Mir verdankt er vier Jahre mietfreies Wohnen. Anscheinend ist er wieder draußen und hat von Immobilien auf Süßwaren umgeschult.
Ich habe wohl etwas zu lang auf das Bild gestarrt. Frau Habegut schaut mich erwartungsvoll an. „Kennen Sie ihn?“
„Ich bin mir nicht sicher. Kann mir den Burschen mal anschauen.“ Kommen wir zum Geschäftlichen. „Ich arbeite allerdings nur gegen Vorkasse. 500 pro Tag, plus Spesen.“
Sie zückt ihr Scheckbuch und bezahlt mich für die nächsten drei Tage.
Natürlich klemmt ein Strafzettel hinterm Scheibenwischer, als ich zu Kunos Auto zurückkehre. Ich lege ihn auf den Beifahrersitz, wo ich ihn versehentlich vergessen werde.
Dieter Bosch. Ein Typ, der über Leichen ging. Hat einen Familienvater eiskalt ausgenommen und nicht eine Miene verzogen, als er von dessen Selbstmord erfuhr. Leider konnte man ihn für Letzteres nicht zur Rechenschaft ziehen. Nachdem ich aus dem Polizeidienst ausgeschieden war, hatte ich nicht damit gerechnet, ausgerechnet ihn so bald wiederzusehen. Gedankenverloren klopfen meine Finger auf das Lenkrad. Schokolade mit Kognak. Speichel sammelt sich auf meiner Zunge. Die wären bestimmt lecker gewesen.
Ich habe die Rolle gerade in den Eimer getunkt, als Kuno in mein Büro schneit. Er trägt noch seine Uniform, nimmt die nasse Mütze vom Kopf und betrachtet grinsend die rote Farbe. „Sattelst du jetzt um von Privatschnüffler auf Pornoqueen?“
„Das wird meine Weihnachtsdekoration“, erinnere ich ihn an das bevorstehende Fest der Liebe. „Was willst du? Ich hab keine Zeit.“
„Du streichst dein Büro. Du hast alle Zeit der Welt. Und du hast vergessen, mir mein Auto wiederzubringen.“
Nicht vergessen. Es war Absicht, in der Hoffnung, dass Kuno kommen würde.
„Kannst du dich an Bosch erinnern? Dieter Bosch?“
Kuno lässt sich auf meinen Besucherstuhl fallen, streckt die Beine von sich und denkt nach. „Soweit ich weiß, ist er seit einigen Wochen auf Bewährung draußen. Warum?“
Ich erzähle ihm von meiner neuen Klientin. Er schüttelt den Kopf. „Wenn du kein gutes Gefühl hast, nimm den Fall nicht an.“
„Und wie denkst du, soll ich meine Miete zahlen? Und deine teuren Weihnachtsgeschenke?“
„Schenk mir ein Lächeln, das reicht schon.“
Ich verziehe die Lippen zu einem gequälten Grinsen. „Bleibt immer noch die Miete.“
„Ich kann dir Geld leihen, wenn es gerade so eng ist.“
Nein, das will ich nicht.
Mit dem Vorschuss von der Habegut kann ich mein Auto bei der Werkstatt auslösen und verbringe die nächsten Tage in Tübingen, um Dieter alias Michel zu beschatten. Seine Chefin hat mir seine Adresse in Tübingens Westen verraten. Eine kleine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus anno dazumal. Eine schicke Villa am Neckar kann sich der ehemalige Anlagenberater nach vier Jahren Knast anscheinend nicht mehr leisten.
Nach zwei Tagen langweiligen Observierens habe ich am Freitagmorgen Glück. In Tübingens Innenstadt bauen Vereine ihre Stände für den jährlichen Weihnachtsmarkt auf, am Haagtorplatz laufen die letzten Vorbereitungen für die traditionelle Open-Air-Aufführung der Feuerzangenbowle am Abend. Bosch hat frei und gönnt sich ein Frühstück im Ranitzky. Ich wärme mich an einem heißen Tee am Nachbartisch. Die grauhaarige Perücke auf meinem Kopf juckt und irgendwie rieche ich auch ein bisschen muffig nach Staub und Mottenkugeln. Ich habe mich als rüstige Rentnerin kostümiert, damit Bosch keinen Verdacht schöpft. Hoffentlich sehe ich in 30 Jahren nicht wirklich so altbacken aus. Dank meiner vermuteten altersbedingten Schwerhörigkeit macht der abtrünnige „Engel“-Mitarbeiter sich nicht die Mühe, beim Handy-Gespräch verstohlen zu flüstern. Und so erfahre ich gemütlich Tee schlürfend von einer abendlichen Verabredung zur Warenübergabe. Treffpunkt am Bügeleisen. Mir bleiben zehn Stunden, um herauszufinden, was wohl das „Bügeleisen“ ist.
Am Marktplatz entdecke ich in einem Geschäft mit regionalen Spezialitäten auch die „Engel“-Schokolade – interessanterweise fehlt die Variante mit Kognak. Ich erkundige mich beim netten Verkäufer nach eben dieser.
„Da hat’s koi mit Alkohol“, erfahre ich und bin doch etwas erstaunt. Vielleicht ein neues Produkt, welches die gute Frau Habegut erst auf den Markt zu bringen gedenkt.
Zurück in meinem drittklassigen Cannstatter Büro reiße ich trotz Kälte und Regen die Fenster auf, um den frischen Farbgeruch hinauszuscheuchen. Das Rot an der Wand zu meiner Rechten macht sich gut. Ich behalte die Handschuhe an und massiere die Kopfhaut unter meinen kurzen Strubbelhaaren. Die Perücke wird fürs Erste in Rente geschickt. Am Rechner recherchiere ich ein wenig über die Firma meiner Klientin, dann rufe ich Kuno an.
„Christine Habegut aus Tübingen. Kannst du die mal überprüfen?“
„Samira, in zehn Tagen ist Weihnachten und dann darfst du dir was wünschen.“
„Kuno, es ist wichtig.“
„Bei dir ist immer alles wichtig. Und was habe ich davon?“
„Du rettest mir vielleicht das Leben“, säusle ich und ahne nicht, wie recht ich damit haben sollte.
Am Abend ist Tübingens Innenstadt gerammelt voll. Unweihnachtlich schieben und drängeln sich die Massen an den zahlreichen Ständen vorbei. Ich habe Mühe, Dieter Bosch nicht aus den Augen zu verlieren. Auf Kostümierung habe ich verzichtet, ich setze stattdessen auf Winterjacke, Mütze und dicken Schal als ausreichenden Erkennungsschutz. Während Studenten und Einwohner sich am Haagtorplatz zur heißen Bowle zusammenfinden, schlendert Bosch erst Richtung Marktplatz, dann zum Holzmarkt, um schließlich die Neckargasse abwärts das Treiben allmählich hinter sich zu lassen. Auf der Eberhardsbrücke kann man tatsächlich wieder frei atmen. Er steigt die Stufen zur Neckarinsel hinunter. In Anbetracht des Angebots in der Innenstadt und des kalten, klammen Wetters ist hier verhältnismäßig wenig los. Ich verfolge Bosch in gebührendem Abstand. Die alten Platanen geben mir guten Schutz. Im „Seufzerwäldchen“ verliere ich ihn kurz aus den Augen. Hier trafen sich in früherer Zeit verliebte Pärchen zum Stelldichein und man hörte es gelegentlich aus dem Unterholz seufzen, erinnere ich mich an eine Beschreibung, über die ich bei meinen Recherchen im Internet gestolpert war, als mir plötzlich ein „Engel“ den Weg versperrt.
Meiner Kehle entkommt wenig später eher ein Stöhnen statt eines Seufzens. Jemand hatte mir von hinten irgendetwas über den Schädel geschlagen. Mein Kopf brummt und ich spüre leichte Übelkeit, als ich zu mir komme. Es ist dunkel und kalt. Ich stelle fest, dass man mich meiner Jacke beraubt hat. Stattdessen hat man mir irgendeinen anderen Kittel verkehrt herum angezogen und die Ärmel am Rücken zusammengebunden. Eine Art laienhafte Zwangsjacke. Fühlt sich gar nicht gut an.
Über mir höre ich einen Zug über die Schienen gleiten und ahne, wo ich mich befinde. Das „Bügeleisen“ ist die Westspitze der Neckarinsel und kurz vor dem spitzen Ende verläuft die Eisenbahnbrücke.
Eine Taschenlampe leuchtet auf, blendet mir direkt in die Augen. Ich verziehe das Gesicht.
„Na, Pieschl, wieder munter?“ Dieter Bosch.
„Was man so munter nennt“, knurre ich. „Kannst du mit der Funzel mal woandershin leuchten?“
Er schnauft verächtlich durch die Nase, senkt aber den Schein der Lampe.
„Du hast ein Alkoholproblem, hab ich gehört.“
„Hatte.“
„Hast.“ Er stellt die Lampe zur Seite, zieht eine Flasche Wodka hervor und kommt auf mich zu. „Ich hab ein Geschenk für dich.“
Mein Herzschlag verdoppelt sich. Erst sehe ich Engel und dann kommt Bosch mit Geschenken. Schöne Bescherung.
„Ist doch noch gar nicht Weihnachten.“ Meine Stimme klingt alles andere als ruhig. Ich zerre an den verknoteten Ärmeln des Kittels.
Bosch setzt sich neben mich auf die kalten Steine. Verdammt, hat mein Hirn was abgekriegt, oder trägt er tatsächlich einen roten Mantel?
„Mach schön den Mund auf.“
Einen Teufel werde ich! Ich drehe das Gesicht zur Seite, presse die Lippen fest zusammen. Wenig später hat er mich rücklings auf die Platte gedrückt und sitzt über mir. Ich will um Hilfe schreien, da landet der erste Schwung Alkohol in meinem Mund. Ich huste, spucke. Der Wodka brennt in meiner Kehle, ruft augenblicklich Erinnerungen wach. In einem stetigen Fluss gießt Bosch das Zeug über meine Lippen. Ich verschließe den Mund, so fest es nur geht. Der Alkohol läuft in meine Nase, meine Ohren. Kalt meinen Nacken entlang. Verdammt, ich komme aus dieser Scheißjacke nicht heraus!
„Komm, ein Schlückchen für Papa. Wodka magst du doch so gern.“
Bosch hat seine Hausaufgaben gemacht. Ich winde mich unter ihm wie ein Fisch auf dem Trockenen. Irgendjemand muss uns doch hören! Das ist doch hier nicht das Ende der Welt.
Mir gelingt es, den Kopf ein kleines Stück zur Seite zu drehen. „Was willst du?“, presse ich mühsam hervor, ertappe mich dabei, wie meine Zunge über meine Lippen gleitet. Schmecke das scharfe, wärmende Zeug.
„Am dritten Advent hast du mich hochgenommen. Erinnerst du dich? Ich hatte damals andere Pläne für Weihnachten.“
Der tote Familienvater sicherlich auch. Die Flüssigkeit tröpfelt über mein Gesicht. Brennend. Verlockend.
„Alkoholikerin, einsam, pleite … weißt du, wie viele Menschen sich an den Weihnachtstagen das Leben nehmen?“, redet Bosch weiter. Mit der freien Hand drückt er mir die Nase zu. Als ich nach Luft schnappe, schüttet er den Alk in meinen Rachen. Ich verschlucke mich, huste, Tränen steigen mir in die Augen. Mir wird heiß. In meinem Kopf höre ich das Rauschen eines Zuges. Ich bekomme Angst. Verfluchte Scheißangst.
„Ich hatte viel Zeit in den letzten vier Jahren und hab mich so auf unser Wiedersehen gefreut. Was habe ich mir nicht alles ausgemalt. Aber ich hätte nicht gedacht, dass du es mir so leicht machen würdest“, triumphiert er und hält mir erneut die Nase zu. Das Spiel wiederholt sich. Es sind gefühlte Ewigkeiten, aber dauert vermutlich nur wenige Minuten. Ich verfluche mich, weil ich nicht gegen ihn ankomme, weil ich mich tatsächlich wie eine dumme Anfängerin so habe überrumpeln lassen. Warum habe ich Kuno nicht gebeten, mitzukommen? Rückendeckung. Eigensicherung. Jetzt ist es zu spät.
„Da kommt …“, dringt Christine Habeguts Stimme plötzlich herüber. Sie stockt, kommt im Engelskostüm aus der Unterführung auf uns zu. „Was machst du …?“
„Verschwinde!“, zischt Bosch, unterbricht einen Augenblick die Alkoholzufuhr, um sie mit einer Handbewegung wegzuscheuchen.
„Hilfe!“, schreie ich aus Leibeskräften. Bosch schlägt mir wütend ins Gesicht. Ich ignoriere den Schmerz, mobilisiere all meine Kräfte, drehe und winde mich unter seinem Gewicht, schreie erneut. Wieder ein Hieb ins Gesicht. Er hätte sich besser als Knecht Ruprecht statt als Weihnachtsmann verkleidet! Der Geschmack von Alkohol vermischt sich mit dem von Blut.
Im nächsten Augenblick wimmelt es an dem kleinen Eck von Menschen. Jemand zerrt Bosch von mir, drückt ihn zu Boden, legt ihm Handschellen an. „Kripo Tübingen, Sie sind verhaftet. Sie haben das Recht …“
Ich höre nicht weiter zu, rapple mich hoch, zerre an den Ärmeln meiner Jacke, als jemand mit einem Messer den Knoten auf meinem Rücken löst.
„Mensch, Pieschl …“, höre ich Kunos vertraute Stimme.
Das wurde aber auch Zeit!
Sie bringen mich in eine Klinik. Zur Sicherheit. Verdacht auf Gehirnerschütterung durch den Schlag auf den Hinterkopf. Kuno will mich vermutlich auch vor mir selber schützen. Wir sind beide nicht sicher, wie ich auf die ungewollte Ration Ethanol reagiere.
Als ich aufwache, schmerzt mein Kopf, als wollte ein Steinmetz aus meinen Gehirnzellen kleine Weihnachtssterne meißeln. Ich entdecke Kuno neben meinem Bett.
„Hey“, kommt es heiser aus meiner Kehle. Ich warte auf die Gardinenpredigt. Aber Kuno schweigt.
„Okay, ich hab Scheiß gebaut“, übe ich Selbstkritik.
Kuno deutet ein Nicken an, richtet sich ein Stück weit auf. „Deine Klientin ist zwar recht wohlhabend, hat aber tatsächlich nichts mit der Firma „Engel“-Schokolade zu tun. Das hast du richtig recherchiert“, beginnt er. „Ich habe herausgefunden, dass sie Briefkontakt zu Bosch hatte, während er im Gefängnis saß. Ehrenamtliches Engagement zur Unterstützung bei der Resozialisierung. In diesem Fall ging der Schuss leider offensichtlich nach hinten los. Ich wollte dich informieren, konnte dich aber nicht erreichen. Hab mir Sorgen gemacht und die Kollegen vor Ort informiert.“
„Woher wusstest du, wo du mich findest?“
„In deinem Büro lag eine Notiz auf deinem Schreibtisch: Warenübergabe ‚Tübinger Bügeleisen‘.“
„Du warst ohne meine Erlaubnis in meinem Büro?“, empöre ich mich.
„Beschwer dich nicht, sonst gibt’s nichts zu Weihnachten.“
„Die Bescherung fällt dieses Jahr sowieso aus. Ich bin pleite.“ Das Honorar von der Habegut hatte ich direkt in die Autowerkstatt gesteckt, der Rest reicht gerade noch für ein paar Butterbrezeln.
„Dir fällt schon noch was ein“, befindet Kuno zuversichtlich.
Er hat gut reden. Da er mir unbestritten das Leben gerettet hat, ist er in der Geschenkefrage aus dem Schneider. Vielleicht – wenn er es besonders gut meint – bekomme ich noch einen Schokoladenengel von ihm. Kuno schaut mich abwartend an.
„Ich …“ Ich zögere, versuche seinen Blick zu deuten. „Kuno, wenn du denkst, dass ich wegen dieser Sache rückfällig werde, irrst du dich.“ 27 Monate. Ich schaue ihm fest in die Augen. „Wünsch dir was anderes!“
Er erwidert meinen Blick, lächelt. „Na ja, da liegt noch ein unbezahlter Strafzettel in meinem Auto …“