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Cusanus’ Dekonstruktion der „Kästchenmetaphysik“ des Spätmittelalters

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Das cusanische Denken lässt keinen Spielraum für rationalistische Versuche, die Symbolsprache weisheitlich-religiöser Traditionen auf vermeintlich elementare naturwissenschaftliche, anthropologische, moralische oder offenbarungstheologische Gewissheiten zurückzuführen. Es ist nicht nur immun gegen den modernen Dualismus von „notwendigen Vernunftgewissheiten“ und „geoffenbarten Glaubensgewissheiten“, sein mystagogisches Wahrheitsverständnis widersteht auch der auf Duns Scotus (1266–1308) zurückführbaren, in Immanuel Kant (1724–1804) kulminierenden modernen Versuchung, transzendentale Vollkommenheitsprädikate (wie das Wahre und das Gute) auf formal distinkte, eindeutig unterscheidbare Bedeutungskerne zurückzuführen und in der Konsequenz Wahres, Gutes und Schönes eindeutig unterscheidbaren Wertsphären zuzuweisen.50 In Übereinstimmung mit der Transzententalienlehre des |74|Thomas von Aquin51 hält Cusanus vielmehr daran fest, dass Wahres, Gutes und Schönes nur aus unserer beschränkten Erkenntnisperspektive unterscheidbar sind. In der Fülle göttlichen Lichts fallen alle Vollkommenheitsprädikate in eins.52 Und an diesem Ineinsfall hat sich unser Streben nach Weisheit und Vollkommenheit auszurichten, sofern es nicht der idolatrischen Versuchung erliegen möchte, endliche (theoretische, praktische, ästhetische oder anthropologische) Bestimmungen absolut zu setzen.

Es ist von daher kein Zufall, dass Cusanus in seinem retrospektiven Spätwerk über seine lebenslange „Jagd nach der Weisheit“ dem bereits zitierten Kapitel zur „Wissenschaft des Lobes“ eine Meditation über den Ineinsfall aller Vollkommenheitsprädikate im göttlichen Licht voranstellt. Fand er diese Vollkommenheiten doch „alle und noch mehr auf dem Feld des Lobes angebaut“ (in laudis compo plantata; c. 18 n. 51.7). Der Ineinsfall aller Vollkommenheiten ist uns durch die Wissenschaft des Lobes erschlossen, und genau aus diesem Grund ist dieses „Feld“ für unser Wirklichkeitsverständnis fundamental.

Aus der spätmodernen Retrospektive betrachtet kommt das cusanische Denken damit der für die „Kästchenmetaphysik“ der Moderne charakteristischen, fundamentalistischen Versuchung zuvor, konkurrierende, wissenschaftliche (z.B. Darwins Evolutionstheorie), praktische (z.B. Kants Freiheitsphilosophie), ästhetische (z.B. Nietzsches Übermensch) oder religiöse (z.B. deontologisch pervertierte Bibelzitate)53 Identitätsmarker zu verabsolutieren. Fundamental ist allein, was sich per definitionem nicht vergegenständlichen, kompartimentalisieren oder auf fetischartige, semantische Leitmarkierungen zurückführen lässt. Beruht die Wissenschaft des Lobs doch im Kern auf der nicht-identischen Wiederholung einer öffentlich wahrnehmbaren spirituellen Praxis, die zugleich alle sinnlich-affektiven, kognitiven, und praktisch-voluntativen Kapazitäten des Menschen für sich in Anspruch nimmt und doch keine subjektive Erfolgsgarantie für sich Anspruch nehmen kann: „Müht euch mit Furcht und Zittern um euer Heil! Denn es ist Gott, der in Euch sowohl das Wollen als das Vollbringen bewirkt um seines Wohlgefallens willen.“ (Phil. 2.12f.).54

|75|Hierin liegt der symbolisch-realistische Kern der cusanischen Gegenbewegung gegen den unreflektierten Fortschrittsoptimismus seiner proto-modernen Zeitgenossen. Das Feld des Lobes bewahrt den Betrachtenden vor der Idolatrie aufgeblähten Wissens. Wo Gelehrte endlichen Gewissheiten „göttliche Ehren“ erweisen („als ob sie ihre Vernunft nicht von Gott hätten und zu seinem Lobpreise!“),55 verstrickt das Streben nach Vollkommenheit sich in einem Irrgarten narzisstischer Selbstverblendung. Folglich bedarf es nicht nur des Gotteslobes; es bedarf sogar einer scientia laudis, einer Wissenschaft, die das Streben nach Vollkommenheit an die Gnadengabe eines schöpferischen Lichts zurückbindet, das allein die Demütigen erleuchtet. Zwei Zitate aus Cusanus’ (nach seiner eigenen Lektüreanweisung)56 grundlegen Schriften De dato patris luminis und De querendo dei mögen den zentralen Stellenwert dieser spirituellen Grundhaltung seines philosophischen Denkens verdeutlichen:

„Ein Unwissender kann nicht durch sein eigenes Erkenntnislicht zum Erfassen der Weisheit gelangen. […] Aus diesem Grund muss der Intellekt aktiviert werden durch eine Gandengabe des Schöpfers […] Diese alles aktivierende Erleuchtung aber, die eine Gabe von oben ist, steigt herab vom Vater aller Gaben, dessen Gaben Lichter oder Theophanien sind.“ „Deswegen irrten all die Stolzen und Hochmütigen, die sich für Weise hielten und auf ihre eigene Begabung vertrauten […]. Sie verschlossen sich den Weg zur Weisheit, weil sie glaubten, sie sei nichts anderes als das, was sie mit ihrer eigenen Vernunft maßen. […] Darum war denjenigen Philosophen, die Gott nicht ehrten, kein anderes Ende beschieden, als dass sie an ihrer Eitelkeit zugrunde gingen.“57

Im Gegenzug zu spätmittelalterlichen, scholastischen und humanistischen Bestrebungen, eine „autonome“ Sphäre philosophischer Vernunft zu konstruieren, begreift Cusanus sein philosophisches Denken als Teil einer mystagogischen Praxis, die dazu anleitet, in allen endlichen Vollkommenheiten eine Gnadengabe des unbegreiflichen „Vaters aller Lichter“ zu erblicken.

Doch die cusanische Mystagogie dekonstruiert nicht nur die spätmittelalterlich-scholastische Kompartimentalisierung differenter Wertsphären. Wer dem Geschmack der göttlichen Weisheit auf die Spur kommen möchte, muss auch der analytischen Kompartimentalisierung differenter Sinnesmodalitäten widerstehen. Fallen im göttlichen Licht doch auch Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Tasten ineins.58 In Übereinstimmung mit dem symbolischen Realismus der biblisch-patristischen Tradition appelliert die cusanische Mystagogie an den poetischen Sinn für „metaxologische“59 Zwischenräume, die der analytischen Dekomposition widerstehen. Dieser Sinn fürs Metaxologische führt mich zum zweiten Teil meiner kurzen Skizze der cusanischen Alternative, zur franziskanischen Version von Moderne.

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