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|76|Die spätmoderne Gotteskrise im Lichte der cusanischen Vernunftkritik

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Die auch in christologischer Hinsicht problematische (und im Ergebnis heterodoxe),60 auf distinkte „Fakultäten“ und „Module“ fokussierende Kästchenmetaphysik spätmittelalterlicher Scholastik verleitete moderne Denker dazu, poetische Symbolsprachen als sekundär oder epiphenomenal zu betrachteten. Dabei wären wir ohne einen Sinn für die poetischen Tiefenschichten unserer Lebenswelt nicht einmal in der Lage, das Gesicht eines Menschen „sprechen zu sehen“61 oder zwischen der saturierten Präsenz eines beseelten Lebewesens und der seelenlosen Verfügbarkeit einer Konservendose zu unterscheiden.

Wenn Poetinnen und Poeten in sich die Gaben des Malers, Komponisten, Liebhabers, Küchenchefs und Parfümeurs vereinen, dann kommt die philosophische Idolatriekritik nicht daran vorbei, die wirklichkeitserschließenden Kraft poetischen Sprechens als wissenschaftlich fundamental zu betrachten. Cusanus hatte demnach gute Gründe, dem sensus communis (Gemeinsinn), der das harmonische Zusammenspiel unserer fünf Sinne (Sehen, Hören, Tasten, Schmecken, Riechen) sicherstellt, einen gnoseologisch zentralen Stellenwert zuzuweisen.62

Im Gegensatz dazu provozierte die wissenschaftliche Marginalisierung poetischen Wissens eine Krise unseres Vertrauens in den symbolischen Realismus unserer Alltagswirklichkeit. Hierin liegt das Paradox der post-skotistischen Version von Moderne: Die Obsession für analytische Präzision hat uns (wie selbst undogmatische Neurowissenchaftler einräumen)63 „out of touch“ mit genau jener Wirklichkeit geraten lassen, die das „wissenschaftliche Weltbild“ der Moderne seinen gläubigen Anhängern zu erschließen versprach.

Im ungünstigsten Fall eines naiv-szientistischen Rationalismus im Stile populärer „Neurophilosophien“ führte dies dazu, die für den alltäglichen Blick in das Gesicht eines geliebten oder verhassten Menschen charakteristische, paradoxe Sichtbarkeit unsichtbarer, seelischer oder geistiger Wirklichkeitsgehalte auf das trügerische Hintergrundrauschen funktionaler Informationsverarbeitungsprozesse zu reduzieren. Im günstigeren Fall eines über die Grenzen unseres modernen Wissenschaftsideals kritisch reflektierenden Rationalismus erschienen solche Phänomene als Ausdruck irreduzibler, subjektiver „Bedingungen der Möglichkeit“ wissenschaftlicher Rationalität.

Die letztgenannte, auf Kant, Fichte, Hegel, Schelling und Nietzsche zurückgehende Variante moderner Kästchenmetaphysik verneint nicht die Bedeutung der metaphysischen |77|Symbolsprache der Vergangenheit.64 Der „schöne Schein“ poetischer Fiktionen erscheint als unhintergehbar genau in dem Maße, wie er uns erlaubt, eine klare Grenze zwischen objektiv Bestimmtem und subjektiv Unbestimmten zu ziehen oder dialektisch zwischen diesen Polen zu oszillieren. Die romantische und postmoderne Tradition legitimierte sogar eine gewisse Grenzverwischung zwischen den Polen, wenngleich sie damit nur geringfügig vom rationalistischen „Entzauberungsprogramm“ der Moderne abwich; gingen romantische oder postmoderne Grenzüberschreitungen doch (zumindest in Kontinentaleuropa) nahezu pflichtmäßig mit Gesten ironischer und/oder erhabener Selbstdistanzierung einher.65

So erschloss Kants programmatische Erklärung, die Philosophie habe dem Wissen Grenzen zu ziehen, um für den Glauben Platz zu bekommen,66 der szientistisch marginalisierten Theologie der Moderne im Ergebnis kaum mehr als eine Spielwisse zur fideistischen Kultivierung dessen, was der katholische Performanzkünstler Christoph Schlingensief im Angesicht seines herannahenden Krebstodes als „Christlichen Märchenpark“67 bezeichnete. Doch man muss die Symbolsprache dieses modernen „Märchenparks“ im Lichte seiner spätmittelalterlichen Vorgeschichte begreifen, wenn man ihren historischen Stellenwert verstehen möchte; ist der für die post-kantische Tradition moderner Theologie charakteristische Mangel an Glaubwürdigkeit doch keineswegs Immanuel Kant anzulasten.

Kants „kopernikanische Wende“ brachte lediglich mit beispielloser Präzision auf den Begriff, was William Hoye als das „praktische Vorurteil“ der Moderne bezeichnet.68 Und auch dieses Vorurteil zeichnete sich bereits in den streitbaren Innovationen des franziskanischen Spätmittelalters ab. Erscheint doch bereits bei Duns Scotus die Theologie als scientia practica.69

Diese franziskanische Position scheint unseren modernen Intuitionen gerechter zu werden als die etwas fremdländische Position des Dominikaners von Aquin. Der moderne Christ möchte handeln, und er tut dies natürlich in der biblischen Hoffnung, dass sich sein Handeln in der Liebe zu Gott vollenden möge. So fügt sich das Neue zum Alten, lehrte doch bereits Duns Scotus’ proto-kantische Version des kategorischen |78|Imperativs, dass Gott unbedingt zu lieben sei: deus est diligendus.70 Verglichen damit scheint der heilige Thomas in einer Form aristotelisch-hellenistischer Theoriegläubigkeit stecken geblieben zu sein – als bestünde die höchste Bestimmung des Menschen in der kontemplativen Nabelschau eines „Denkens des Denkens“.

Doch Thomas’ Verständnis der höchsten Bestimmung des Menschen entsprang nicht seiner Aristotleslektüre; es verdankte sich vielmehr einer gründlichen Lektüre der Freundschaftsmystik des Evangelisten Johannes.71 Aus diesem Grund ist die aristotelische „Politik der Freundschaft“ der kontemplativen Bestimmung menschlichen Strebens bei Thomas nicht mehr (aporetisch) nachgeordnet, sondern gleichgestellt. Oder genauer, sie erfüllt sich in einer proto-cusanischen Form von Koinzidenz: der kontemplativen Freundschaft mit Gott. Die philosophische Liebe zum Erkennen vollendet sich (wie bei Cusanus)72 in der Erkenntnis der Liebe Gottes.

Genau aus diesem Grund ist die thomanische Theologie mehr als eine praktische Disziplin: speculativa tamen magis est quam practica.73 Das kontemplative Erkennen markiert gleichsam den „kleinen Unterschied“, der die vollendete Liebe von einem melancholischen „acting out“ unterscheidet. Man kann das auch etwas schlichter ausdrücken: Bei Thomas und Cusanus ist Liebe immer noch das, was sie schon war, als die Welt erschaffen wurde und Eva Adam „erkannte“ (Gen. 4.1).

Im Unterscheid dazu tendierte das westlichen Christentum im Gefolge von Duns Scotus dazu, das theologische Nachdenken über die Spuren des Unsichtbaren in unserer sichtbaren Alltagsrealität auf ein praktisches Problem zu reduzieren. Die biblische Lehre, dass die, die reinen Herzens sind, „Gott schauen“ (Mt 5.8) werden, erschien deshalb mehr und mehr als ein praktisches Postulat – eine voluntaristische Fiktionen, die religiös musikalische Individuen dazu motiviert, den moralischen Anforderungen moderne Zivilgesellschaften gerecht zu werden, ohne das symbolische Erbe ihrer Vorfahren rückstandslos entsorgen zu müssen. Theoretische Betrachtungen können unter den Vorzeichen der für dieses Denken grundlegenden Kompartimentalisierung von Theorie und Praxis allenfalls noch antinomische Spielräume des Nichtwissens freilegen. Und so bleibt die Entscheidung „zu glauben“ oder „nicht zu glauben“ zuletzt dem subjektiven Belieben des Individuums überlassen. Religion wird, ebenso wie der platonische Eros und die aristotelische „Politik der Freundschaft“, zu einer „sentimentalisierten“74 Privatangelegenheit.

Doch man glaubt nur, was man sieht – selbst wenn dieses „Sehen“, wie bei Adam und Eva, Cusanus, den Kirchenvätern und in den biblischen Schriften, nur den Charakter eines tastenden Vorgeschmacks der eschatologischen „Schau Gottes“ hat.75 Wer hingegen |79|nur sieht, dass man glauben kann, und sich ansonsten mit der voluntaristischen Bejahung theoretisch uneinsehbarer, subjektiver Fiktionen zu arrangieren hat, glaubt eben genau dies – er glaubt, dass man Dinge glauben kann, von denen man weiß, dass sie nicht so sind. Um mit Mark Twain zu sprechen: „Faith is believing what you know ain’t so.“76

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die angesehensten Repräsentanten nach-kantischer Vernunftkritik, von Schelling und Hegel bis hin zu Habermas, Dieter Henrich und Manfred Frank, die Bedeutung der symbolischen Glaubenswahrheiten der Vergangenheit nüchterner einschätz(t)en als ihre pastoral motovierten, theologischen Interpreten.77 In seiner (in mehrfacher Hinsicht) prophetischen Retrospektive auf die Geschichte deutscher Philosophie und Religion hatte Heinrich Heine dies bereits 1834 deutlich gesehen und mit Blick auf Kants postulatorische Wende mit unübertrefflicher Ironie auf den Punkt gebracht:

„Immanuel Kant […] hat den Himmel gestürmt […] und der alte Lampe [Kants langjähriger Diener] steht dabei, mit dem Regenschirm unterm Arm, als betrübter Zuschauer, und Angstschweiß und Tränen rinnen ihm vom Gesichte. Da erbarmte sich Immanuel Kant, und zeigt dass er nicht nur ein großer Philosoph, sondern auch ein guter Mensch ist, und er überlegt und halb gutmütig und halb ironisch spricht er: ‚Der alte Lampe muss einen Gott haben, sonst kann der arme Mensch nicht glücklich sein – der Mensch aber soll auf der Welt glücklich sein – Das sagt die praktische Vernunft – meinetwegen – so mag auch die praktische Vernunft die Existenz Gottes verbürgen‘“78.

Von wenigen Ausnahmen (wie Hamann und Kierkegaard) abgesehen, erscheint die nach-kantische Theologie der Moderne als eine aus ihrem mystischen Nährboden herausgerissene, pastoral orientierte Spezialdisziplin, die sich auf historisch vermittelte Formen „geoffenbarten“ Wissens stützt, um diesen einen fideistisch oder postulatorisch fundierten Sinn abzugewinnen, der unserem theoretischen Erkennen unzugänglich bleibt. Das symbolisch fundierte Wissen des Glaubens erscheint konsequenterweise nicht mehr als Kulminationspunkt geschöpflichen Erkenntnisstrebens, sondern als ein unter den Markenzeichen von Konfessionen und Kirchen vertriebenes Alternativ- oder Zusatzangebot zu den grundlegenderen Einsichten der scientific community. Indem es seine kontemplativen Ankergründe vernachlässigte, provozierte das westliche Christentum folgerichtig die ikonoklastische Gegenbewegung atheistischer Vernunftkritik, die |80|mit einem gewissen Recht für sich in Anspruch nimmt, der legitimere Konkursverwalter des „christlichen Erbes“79 zu sein.

Die Bedeutung des Nikolaus von Kues liegt demgegenüber darin, dass ihm unter den verschärften Bedingungen des spätmittelalterlichen Niederganges christlicher Gelehrsamkeit noch einmal gelang, was der Dominikaner Thomas von Aquinas bereits angesichts der Aristotelesrezeption des 13 Jahrhunderts zu erreichen versucht hatte: den symbolischen Realismus der in Ost und West bis zum 12. Jahrhundert nahezu ungebrochenen Tradition christlicher Orthodoxie zu rekonstruieren.

Genau das prädestiniert Cusanus’ frühmoderne Synthese vormoderner Philosophie dazu, uns eine orthodoxe Alternative zur franziskanischen Moderne zu erschließen, die der säkularisierten Theologie des zu Ende gehenden digitalen Zeitalters auf Augenhöhe gegenüber zu treten vermag. Streng genommen bewohnt die post-kantische Theologie der Moderne (ob atheistisch-säkular oder kirchlich-pastoral) immer noch die heterodoxen Trümmer einer erstarrten Form spätmittelalterlicher Scholastik. Die cusanische Orthodoxie hat uns einen Weg gewiesen, aus diesem Dunkel herauszufinden, ohne „out of touch“ mit unserer spätmodernen Lebenswelt zu geraten. Hat Orthodoxie doch nichts mit dem starren Festhalten an den patriarchalen Doktrinen talibanartiger Kleriker gemein. Um mit der feministischen Philosophin Sarah Coakley zu sprechen: „Orthodoxy [is] a demanding and ongoing spiritual project, in which the language of the creeds is personally and progressively assimilated. “80

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