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Einleitung

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Die Veröffentlichung von Ingeborg Bachmanns Gedichten aus dem Nachlass war die literarische Sensation des Jahres 2000.1 Die Erscheinung dieser bisher streng unter Verschluss gehaltenen, zum Großteil zwischen 1962 und 1964 entstandenen Texte lässt zunächst schon aufgrund ihrer Zahl aufhorchen: Die über hundert lyrischen Gebilde, eine Auswahl aus einem geschützten Konvolut, das an sich doppelt so groß ist, stellen einen aus der Versenkung plötzlich aufgetauchten Kontinent dar, der an Umfang mit Bachmanns bisher bekannten poetischen Ländern vergleichbar ist. Diese literarische Entdeckung zwingt berufsmäßige Leser wie einfache Lyrik-Liebhaber dazu, das Bild von Ingeborg Bachmann als Lyrikerin grundlegend zu revidieren, weil sie wesentliche Unterschiede zu den bisher veröffentlichten Gedichten offenbart. Das, was im Waschzettel mit großer Emphase als das „intime, aufwühlende, poetische Vermächtnis“ einer großen Dichterin angekündigt wurde, widerlegt die von Bachmann selbst in Umlauf gebrachte fable convenue, wonach sie nach ihrer Hinwendung zur Prosa in den sechziger Jahren bis auf wenige Ausnahmen aufgehört habe, „Gedichte zu schreiben, weil ihr der Verdacht“ gekommen sei, sie könne „jetzt Gedichte schreiben, auch wenn der Zwang, welche zu schreiben, ausbliebe.“ (GuI, 40) Die neue Publikation bestätigt indessen die Realisierung ihrer im selben Interview aus dem Jahr 1963 angedeuteten Absicht, auch wieder Gedichte zu schreiben, aber „so neu, daß sie allem seither Erfahrenen wirklich entsprechen.“ (Ebd.)

Die Veröffentlichung der Gedichte Ende 2000 wurde durch eine wirkungsvolle, in Die Zeit ausgetragene Kontroverse medial vorbereitet. Dort wurde die Frage heftig diskutiert, ob es zulässig sei, Bachmanns private lyrische Notate, die nicht für die Veröffentlichung bestimmt waren, einem breiten Publikum zugänglich zu machen, zumal sie brisante Details aus ihrem Privatleben enthielten.2 Zur Diskussion stand auch das grundsätzliche Problem, ob es sich bei Bachmanns lyrischen Entwürfen überhaupt um Gedichte handle. Während Peter Hamm in der publizistischen Initiative einen von der „Rachsucht“ der Erben inspirierten Skandal wittert und in den lyrischen Texten bloß „herausgeschleuderte Worte und Sätze“ sieht, die aufgrund des intimen Charakters zum Voyeurismus verleiten und keinen „poetischen Mehrwert“ aufweisen, begrüßt Reinhard Baumgart die Veröffentlichung von diesen „Fast-Gedichten“; als „Schmerzdokumente“ machen sie in seinen Augen anschaulich, wie schwer es ist, eine saubere Trennungslinie zwischen Kunst und Leben zu ziehen. Die heikle Debatte wird dann in der Zeit mit zwei Beiträgen von Hans Höller und Nikolaus Schneider weiter geführt, die den Schwerpunkt der Diskussion von der Legitimität der Publikation des Nachlasses auf den richtigen Umgang mit den Gedichten verlegen. Höller sieht in der Veröffentlichung der posthumen Gedichte den Anlass, den ästhetischen Kunst- und Autonomiebegriff zu hinterfragen, der Positionen wie der von Peter Hamm zugrunde liege, nämlich eine fragliche „Werkreligion“, die Ingeborg Bachmann selbst im Roman Malina dementiert habe. Plädiert Hans Höller dafür, dass sich der Lyrikinterpret auch mit dem „Lebensschlamm“ (Hamm) auseinandersetzen solle, so meint hingegen Nikolaus Schneider, dass die Deutungsarbeit von der Biographie und den persönlichen Dramen abzusehen habe. Was seiner Meinung nach zählt, ist „die Bereitschaft, Gedichte gründlich und vorurteilsfrei zu lesen“ und die Aufmerksamkeit auf die sprachlichen Eigenschaften der Texte zu lenken.3

Mit diesen repräsentativen Positionen wird ein Spannungsfeld entfaltet, auf das sich die vielen Rezensionen, die das Erscheinen des Buches begleiten, immer wieder beziehen. Gegenüber den ersten Stellungnahmen richtet sich nun der Fokus der Polemik immer mehr gegen die Bachmann-Erben und den Verlag und weniger gegen die Gedichte, die von den meisten Rezensenten als solche akzeptiert werden. Mehrere Kritiker bemängeln, dass der philologische Umgang mit dem lyrischen Nachlass im Vergleich zu den Editionen des Todesarten-Projekts und der „letzten Gedichte“4 zu wünschen übrig lasse. Die Nachlässigkeit, mit der diese Gedichte der interessierten Öffentlichkeit präsentiert wurden, lasse – so der Tenor der Kritik – die Realisierung einer kritischen Gesamtausgabe umso notwendiger erscheinen. Auch die von den Erben ins Feld geführten Argumente für die Freigabe der Gedichte – die große Faszination, die von ihnen ausgehe, sowie der Wunsch, die Arbeitsweise der Dichterin zu veranschaulichen – wurden wiederholt problematisiert ebenso wie die Begründung für die Auswahlkriterien der Texte. In der Frage nach der ästhetischen Qualität der Gedichte überwiegen nun die Stimmen, die den von Peter Hamm noch negierten „poetischen Mehrwert“ aus verschiedenen Perspektiven nachweisen und Reinhard Baumgarts Feststellung eines „unverwechselbaren Tonfalls“ bestätigen. Bald entdeckt man „auch im Fragmentarischen, womöglich Unfertigen dieser Gedichte überdurchschnittliches Sprachgefühl, überlegte Komposition und Stimmigkeit“,5 bald ist von „süchtig machenden“ Gedichten die Rede oder sogar von poetischen Fragmenten, die „kostbarer sind als die Summe der frühen Italiengedichte.“6 Und anlässlich des Erscheinens der italienischen Taschenbuchausgabe zählt der Kritiker Enzo Golino die posthume Lyrik zu einem der „bedeutendsten Werke“7 der europäischen Nachkriegsliteratur. Interessant ist auf jeden Fall der Umstand, dass selbst dann, wenn das ästhetische Niveau der Gedichte nicht oder nur teilweise anerkannt wird, aus ihnen doch ein neues Bachmann-Bild gelesen wird.8

Mit der wachsenden Distanz zum Zeitpunkt der Veröffentlichung setzt allmählich auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Sammlung ein, die sich eine vorsichtige Beschreibung vornimmt sowie eine erste Bewertung der Texte im Kontext des Gesamtwerks vorschlägt. Einen bemerkenswerten Anfang in diese Richtung macht Klaus Dieter Post, der in den Gedichten einen thematischen Zusammenhang ebenso wie eine einheitliche rhetorische Strategie erkennen kann. Er sieht in der Verlusterfahrung eine übergreifende Thematik und im „Gedanken der poetischen Distanzierung und Engführung“ eine konsequente „Werkidee“, die die Texte des Bandes verbindet. Er warnt davor, die negativen und destruktiven Aspekte einseitig hervorzuheben, und weist stattdessen auf eine doppelte Bewegung der Textgestaltung hin, auf eine Dialektik von „Stimme und Gegenstimme“: Der Darstellung von „Krankheit, Martyrium und Folter, als Erlebnis der Verwüstung, als apokalyptische Vision, als Agonie und Wahnsinn, als Selbstaufgabe, Todesobsession und Wunsch nach Verlöschen“ antworte regelmäßig eine zweite Stimme, die „als Trotz und Widerstand, als Appell, als Aufruf zur Revolte, als Drohung und Rachegelüst, als Aggression und Hysterie, als blasphemisch-zynische Umwertung und Destruktion“ hörbar werde.9

Ähnlich wie Klaus D. Post plädiert auch Alexander von Borman für einen von mehreren Seiten geforderten behutsamen Umgang mit den Gedichten und deren Anerkennung als eigenständige poetische Texte: „Das Rauhe, Ungeschliffene, der nachgelassenen Gedichte sollte nicht einem vorläufigen Status zugeschrieben werden, als ob nur der Feinschliff ausgeblieben sei.“10 Im Zentrum von Bachmanns bewusster Arbeit am Wort steht in seinen Augen einerseits eine Ästhetik des Fragments romantischen Ursprungs und zum anderen das „Vergehen des Wortes in Musik, zwei Formmotive, die sich mit der Negativbesetzung von Sehnsucht interpretieren lassen.“11 Ferner erkennt er darin auch einen Vorgriff auf die Depotenzierung der Subjektivität in der postmodernen Poetik.

In Übereinstimmung mit diesen Einschätzungen sieht Dieter Burdorf in den nachgelassenen Gedichten nicht ein Nebenprodukt, sondern einen wesentlichen Bestandteil von Bachmanns lyrischer Produktion – durch sie werde die Gestalt jenes dritten Gedichtbandes im Umriss durchsichtig, der in den sechziger Jahren so sehnsuchtsvoll und vergebens von der Kritik erwartet wurde. Burdorf betrachtet die Gedichte zwar im engen Bezug zur Prosa des Todesarten-Projekts, er stellt aber gleichzeitig fest, dass sie keineswegs „in dieser Vorbereitungsfunktion, diesem Entwurfcharakter“ aufgehen.12 Wie Alexander von Bormann erblickt er gerade im Rohzustand der Texte deren „spezifischen poetischen Reiz“ sowie eine innovative Möglichkeit poetischen Sprechens, die „die drohende Auflösung des poetischen Ich präzise auch im Zerfall der Sprache dokumentiert“,13 ähnlich wie dies in der Lyrik von Emily Dickinson oder Sylvia Plath geschieht.

Die angedeutete Tendenz zur positiven Bewertung der Gedichte setzt schließlich Hubert Lengauer fort, der über die Bedingungen reflektiert, unter denen die Veröffentlichung der nachgelassenen Lyrik zu einem regelrechten Skandal werden konnte. Ähnlich wie Burdorf und Schneider tritt er dafür ein, die Texte nicht biographisch zu verkürzen, sondern die literarische Dimension auch jener Stellen verstärkt zu berücksichtigen, die den Leser in ihrer Direktheit schockieren können, denn Bachmanns Texte seien „wie immer fragmentarisch und überarbeitungsbedürftig, in Versanordnung, Bildlichkeit etc. ganz klar als lyrische Gedichte kenntlich“.14 Lengauer verurteilt den Anspruch vieler Kritiker, Kunst und Leben sauber zu trennen und „die Verarbeitung von, Lebensschlamm‘ zu Marmorstatuen [zu] wünschen“. Bachmann selbst habe mit ihrem Bekenntnis zum „ungereinigten Schluchzen“ (I, 172) eine genaue Grenze von Leben und Schreiben negiert, andererseits habe sie sehr nachdrücklich auf Diskretion bestanden und die biographischen Aspekte ihrer Werke stark verrätselt. Angesichts dieser Ambivalenzen kommt Lengauer zum Schluss, dass das Problem „von Biographie und Leben, von Deutung und Diskretion […] offenbar nicht generell lösbar [ist], nur historisch: im Sinne von diskursiver Veränderung und von Fall zu Fall.“15

Als Fazit der Diskussion lässt sich festhalten: Die breite mediale Resonanz des Streites um das Verhältnis von Biographie und Werk bzw. um den Status der Gedichte ebenso wie die Gewichtigkeit der an der Kontroverse beteiligten Stimmen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Texte aus dem Nachlass im Vergleich zu den „klassischen“ Werken der Bachmann in der wissenschaftlichen Diskussion nur eine sehr bescheidene Aufmerksamkeit erfahren haben.

Der vorliegende Band versammelt die Beiträge der internationalen Tagung „La lirica postuma di Ingeborg Bachmann“ (Die posthume Lyrik Ingeborg Bachmanns), die am 26. und 27. Februar 2009 in Verona stattfand. Die Tagung, die von einer Gruppe italienischer Germanisten aus Verona organisiert wurde, beschäftigte sich erstmals systematisch mit den Gedichten im Band Ich weiß keine bessere Welt und setzte sich eine wissenschaftliche Erforschung dieses Textkorpus sowie dessen Verortung im Gesamtwerk der Autorin zum Ziel. Die Diskussion konnte dabei auf zwei einschlägige Monographien in italienischer Sprache sowie auf die Übersetzung der Gedichte durch Silvia Bortoli16 aufbauen, Veröffentlichungen, die das lebhafte und beständige Interesse für Ingeborg Bachmann in Italien bezeugen.17 Im Zentrum der Tagung stand die Frage, ob in den lyrischen Texten aus Bachmanns Nachlass eine neue Poetik – wie unbestimmt und fragmentarisch auch immer – zu erkennen sei, eine Theorie etwa „des verstörten und verstörenden Sprechens“ (Höller), und wenn ja, durch welche sprachlich-rhetorischen Verfahren sich der mehrmals beschworene „unverwechselbare Tonfall“ dieser Lyrik auszeichne. Was tritt an die Stelle der typischen Verbindung mythologischer, märchenhafter und historisch konnotierter Elemente, die die spezifische Signatur der frühen Lyrik ausgemacht hatte?18 Weiters ging es um die Eigenständigkeit der Gedichte gegenüber der Prosa der Todesarten, die von Isabella Rameder in ihrer Monographie, der bisher umfassendsten Studie zum Thema in deutscher Sprache, problematisiert wurde.19 Diskutiert wurde die Frage, ob es zulässig sei, die Autonomie der Gedichte so zu reduzieren, wie dies Rameder tut, wenn sie sie als bloße Inkunabeln für die Sammlung und Entwicklung von Motiven sieht, die erst in der Prosa konsequent entfaltet werden. Dass Ingeborg Bachmann allerdings ernsthaft daran gedacht hat, die Gedichte dem Piper Verlag zur Veröffentlichung anzubieten, scheint die Notwendigkeit zu bestätigen, das lyrische Textkorpus in seiner Selbstständigkeit gegenüber der Prosa der Todesarten zu betrachten.20

Die Beiträge, die in unterschiedlichen Perspektiven die thematischen und formalen Charakteristika der Texte beleuchten, gehen bewusst von einer Vielfalt methodologischer Ansätze aus, von textimmanenten Lektüreverfahren wie von kulturwissenschaftlichen, sozialgeschichtlichen oder diskursanalytischen Lesarten. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht sollte vor allem das reiche Spektrum von intertextuellen und intermedialen Bezügen rekonstruiert werden, das die Nachlassgedichte mit der deutschen Kulturgeschichte wie auch mit der italienischen Musik- und Opernkultur21 verbindet. Aus textgenetischer Perspektive geht es vor allem um die komplexen Bezüge der posthumen Gedichte zur Prosa der Todesarten. Im Mittelpunkt der Diskussion steht insbesondere auch die Konfrontation mit den problematischen und widersprüchlichen Aspekten von Bachmanns poetischem Nachlass. Fragwürdig erscheint etwa die direkte Verschränkung von individuellem Schmerz und kollektiver Geschichte, die diese Texte charakterisiert, eine Identifikation von privater Passionsgeschichte und kollektivem Leiden an der Geschichte, die sich im Kontext der aktuellen Diskussion um die Erinnerungskultur sowie um das Verhältnis von Opfern und Tätern in der deutschen Geschichte als äußerst problematisch erweist. Der Selbststilisierung der Dichterin zur Märtyrerin und zum stellvertretenden Opfer der Geschichte steht allerdings in den Gedichten auch der Kampf gegen die „schwachsinnige Moral der Opfer“ (KBW 20) gegenüber und damit das Bewusstsein der Dichterin, dass „die Opfer keinen Weg zeigen“ (IV, 335) können.

Eröffnet wird der Band mit einem Beitrag von Hans Höller, der mit Bezug auf die Bachmannsche Formel von „Politik und Physis“ in den Gedichten aus dem Nachlass den Weg einer neuen Poetik aufzeigt. Er liest diese Texte als Versuch, aus den primären Artikulationsformen physischer wie psychischer Krankheit eine neue „Politik“ des Schreibens zu gewinnen, die sich den destruktiven Wirkungen der gesellschaftlichen Realität aussetzt und zu einer Revolte aufruft, wie sie sich exemplarisch am Gedicht Eintritt in die Partei ablesen lässt, das den Band Ich weiß keine bessere Welt eröffnet. Höllers Beitrag kann nicht zuletzt als kritische Auseinandersetzung mit einem ästhetischen Formbegriff verstanden werden, der die negativen Reaktionen der Kritik auf den Band bestimmt hat und der angesichts der posthumen Gedichte der Bachmann seine ganze Fragwürdigkeit zu erkennen gibt. Der Beitrag von Isolde Schiffermüller nimmt den Horizont der von Höller angerissenen Fragestellungen auf, er legt jedoch den Akzent vor allem auf die Schwierigkeiten beim Lesen der Gedichte und beim Versuch, aus ihnen eine neue kohärente Poetik abzuleiten. Ausgehend von den heftigen und kontroversen Reaktionen der Pressekritik auf den Band Ich weiß keine bessere Welt wird das Verstörungspotential der posthumen Gedichte befragt und deren eigentümliche Ambivalenz aufgezeigt: Als Dokumente einer radikalen Krise, die sich im Medium der Poesie artikuliert, bleiben diese Texte doppelt lesbar, als symptomatische Aufzeichnungen einer Krankheit ebenso wie als Fragmente einer meta-poetischen Reflexion, die die frühere Poetik der fünfziger Jahre in Frage stellt. Während Höller auf die Stimmigkeit und Geschlossenheit der Poetik des „ungereinigten Schmerzes“ Nachdruck legt, hebt Schiffermüller mehr das Diskontinuierliche und Kontingente von Bachmanns Arbeit am Wort hervor.

Anhand eines vertieften textimmanenten Kommentars setzt sich der Aufsatz von Anton Reininger mit der ästhetischen Form der Gedichte sowie deren linguistischen und semantischen Strukturen auseinander. Er kann dabei Bezüge zu klassischen Topoi der literarischen und religiösen Tradition sowie zur Zeitgeschichte und zur zeitgenössischen Literatur, insbesondere zur Lyrik von Gottfried Benn aufzeigen. Reininger liest die posthumen Gedichte als Zeugnisse einer radikalen Krise der Ausdruckskunst, einer existentiellen Bedrohung jener ästhetischen Distanz, die seiner Meinung nach für das frühere lyrische Werk von Bachmann konstitutiv war, und sieht sie zugleich als extremen Versuch, diese Krise noch im Medium der Dichtung selbst zu beantworten. Der Beitrag von Walter Busch schließt an diese Lesart an, er betrachtet die Gedichte aus dem Nachlass jedoch aus einer anderen methodologischen Perspektive: nicht allein als Zeugnisse einer persönlichen und ästhetischen Krise der Dichterin, sondern vor allem als Dokumente für das Zerbrechen der Nachkriegspoetik der fünfziger Jahre, die als „diskursive Formation“ im Sinne von Michel Foucault verstanden werden kann. Im, archäologischen‘ Blick auf die Bruchstücke einer Ausdruckskunst des lyrischen Ich werden nicht nur die Formen und Materialien erkennbar, die Bachmanns Poetik bestimmt haben. Auch die Krankheit, die in vielen Gedichten thematisiert wird, stellt sich anders dar, nämlich als Heimsuchung der poetischen Sprache durch die kollektiven Stimmen und Ausdrucksformen der Epoche.

Ging es in den ersten Beiträgen um allgemeine und transversale Fragestellungen, so steht im Essay von Arturo Larcati eine exemplarische Gedichtanalyse im Mittelpunkt. Am Beispiel des Gedichts An das Fernmeldeamt Berlin zeigt er auf, wie das „ungereinigte Schluchzen der Verzweiflung“ (von Bormann) und die wenig artikulierte Sprache der „verratenen Kreatur“ (Bossinade) mit einem analytischen Blick auf die deutsche Gesellschaft der sechziger Jahre einhergehen. Dementsprechend steht der Text beispielhaft für ein sprachlich extrem reduziertes Sprechen als Ausdruck einer reduzierten, vom Leiden gezeichneten Existenz und zugleich für ein allegorisches Schreiben, das unter der sprachlichen Oberfläche die Zeichen der jüngsten deutschen Geschichte aufblitzen lässt. An das Fernmeldeamt Berlin stellt in dieser Sicht einen repräsentativen Text bzw. eine Art symbolischer Mitte von Ich weiß keine bessere Welt dar, nicht nur weil das Gedicht die wichtigsten Problemkonstanten der Sammlung gebündelt vorführt, sondern weil es sich auch durch einen neuen, sehr aggressiven Ton auszeichnet: Im Unterschied zur Lyrik der fünfziger Jahre gibt Bachmann in den posthumen Gedichten, so die These von Larcati, die schöne Verbrämung des Leidens auf, um das Befreiungsversprechen des Zornes zur Geltung kommen zu lassen und die Aggressivität zum Vehikel einer Erneuerung der poetischen Sprache zu machen.

Eine Reihe von Beiträgen setzt sich mit den thematischen und intertextuellen Bezügen der posthumen Gedichte zur Prosa der Todesarten auseinander. Eine überraschend neue und provokatorische Sicht auf diese Fragestellung schlägt Anna Maria Carpi vor, wenn sie die These vertritt, dass sich die neue Sprache, die Ingeborg Bachmann nach ihrem offiziellen Bruch mit der Lyrik gesucht habe, nicht in der Prosa verwirklicht, wie es die verbreitete Meinung will. Diese Sprache realisiere sich vielmehr in der Diktion der posthumen Gedichte, in der sich direkt und unvermittelt eine kreatürliche Erfahrung mitteile, sowie in einem Tonfall, in dem das Echo von Nietzsche und Brecht nachklinge.

Der Beitrag von Fabrizio Cambi beschäftigt sich eingehend mit jenen Texten von Ingeborg Bachmann, die in der Stadt Berlin, dem geopoetischen und lebensgeschichtlichen Ort der Jahre 1963 – 65, entstanden sind. In einem synoptischen Vergleich zeigt Cambi thematische und poetologische Korrespondenzen zwischen den Nachlass-Gedichten und den Entwürfen zur Rede Ein Ort für Zufälle auf und stellt Bezüge zu den Materialien her, die in den Roman Der Fall Franza eingegangen sind. In all diesen Texten geht es um die literarische Verarbeitung einer Krankheit, die über die Existenz des Ich hinausweist und einer Pathographie der kollektiven Geschichte gleichkommt.

Rita Svandrlik konzentriert sich auf ein poetologisches Thema, das im Zentrum weiblichen Schreibens steht, nämlich auf die enge Verbindung von Liebesverrat und Sprachverlust. In der zyklischen Struktur des Gedichtbandes erkennt Svandrlik eine Geschichte, deren signifikative Elemente – Schreiben, Krankheit, Leben, Tod – wieder in der Prosa der Todesarten, insbesondere in Malina, aufgenommen und weiter erzählt werden.

Marie L. Wandruszka beginnt ihren Aufsatz mit der Erörterung einer spezifischen Fragestellung, die in der Auseinandersetzung mit Simone Weil entwickelt wird, der Frage nach dem Verhältnis von Glück und Literatur, die sich im Frühwerk und im Spätwerk der Bachmann auf radikal verschiedene Weise stellt. Sie setzt sich dabei mit einem zentralen Thema der posthumen Gedichte von Ingeborg Bachmann auseinander, mit dem Pathos des weiblichen Opfers und dessen ohnmächtigem Hass, der kein Verzeihen erlaubt. Mit Bezug auf Hannah Arendts Reflexionen über das Böse kann Wandruszka literarische Möglichkeiten der Verarbeitung und Überwindung dieses Pathos aufzeigen, die dem Spätwerk der Bachmann und im Besonderen den Erzählungen des Bandes Simultan zugrunde liegen.

Camilla Miglio konzentriert sich in ihrem Aufsatz auf eine spezifische Gruppe der posthumen Gedichte, nämlich auf den Zyklus der Gaspara-Stampa-Gedichte. Sie erörtert deren komplexes Kompositionsverfahren und zeigt, wie das lyrische Ich die Stimmen eines weiblichen Gesangs fortschreibt, der insbesondere von den Gestalten der Dichterin Gaspara Stampa und der Opernsängerin Maria Callas inspiriert ist. Miglio befasst sich dabei nicht nur mit den Bezügen der Nachlass-Gedichte zur Oper und zur italienischen Kunst und Literatur, sie kann in den Gedichten auch die Ansätze zu einer Ästhetik deutlich machen, die auf dem Begriff der Stimme aufbaut und als „bitterer Stilnovo“ bezeichnet wird.

Der Beitrag von Inge von Weidenbaum schließlich kann als Zeugnis dafür verstanden werden, dass sich die Polemik über die Veröffentlichung der Nachlass-Gedichte noch keineswegs beruhigt hat. Weidenbaum, die ihre Vorbehalte dem Band Ich weiß keine bessere Welt gegenüber in keiner Weise verbirgt, bietet dem Leser vor allem interessante Informationen zum biographischen Hintergrund der Gedichte. Sie liest die Texte des poetischen Nachlasses als Notate einer persönlichen Katastrophe, deren künstlerische Verarbeitung scheitern musste, mit wenigen bezeichnenden Ausnahmen allerdings, nämlich den in Berlin entstandenen Texten und den Gedichten zu den Reisen nach Prag und Ägypten. Indirekt wird damit auch eine literarische Wertung des Textkorpus der Nachlass-Gedichte nahegelegt, die deren Heterogenität gerecht werden kann.

Die Realisierung der Tagung wäre nicht möglich gewesen ohne die tatkräftige Unterstützung von mehreren Personen und Institutionen. Deshalb sei an dieser Stelle auch dem „Dipartimento di Anglistica, Germanistica e Slavistica“ der Universität Verona für die finanzielle Unterstützung der Tagung und der Publikation der Beiträge gedankt. Ebenfalls zu Dankbarkeit verpflichtet sind die Herausgeber dem Direktor des Österreichischen Kulturforums in Mailand, Dr. Georg Schnetzer, der die Initiative großzügig unterstützt hat, dem Direktor der Biblioteca Civica di Verona, Prof. Agostino Contò, der den schönen Rahmen der „Sala Farinati“ für die Tagung zur Verfügung gestellt hat, und dem ehemaligen Präsidenten der Provinz Verona, Prof. Elio Mosele. Schließlich danken wir Frau Mag. Johanna Weber und Frau Mag. Gabriele Holzinger von der Universität Salzburg, die die redaktionelle Arbeit der Tagungsakten begleitet haben.

Arturo Larcati

Isolde Schiffermüller

Verona, Jänner 2010

Ingeborg Bachmanns Gedichte aus dem Nachlass

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