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Hans Christian Andersen hat die berühmte Schnee­königin auch in der Schweiz auftreten lassen – in seinem Märchen «Die ­Eis­jungfrau». Und diesmal siegt der kalte Tod.

Die Gemmiwand mit dem Pass steht da wie ein Riesenfels, den ein wütender Zyklop einmal durch die Gegend geschleudert haben könnte. Literaturliebhaber kenne sie als wildromantische Kulisse für das Literaturfestival Leukerbad und als Schauplatz einer traditionellen Mitternachtslesung – die über dem Abgrund schwankende Gondel in stockfinsterer Nacht suggeriert, dass man sich in einer Zone des Übergangs befindet.

Für den dänischen Märchendichter Hans Christian Andersen mit seinem spätromantischen Flair fürs Transitorische bevölkerten sich Berge, Gletscher und Täler zwischen Berner Oberland, Wallis und dem Genfersee auf seiner Schweizreise von 1861 mit fantastischen Wesen. Die nahmen auch gleich in einer Geschichte Gestalt an: Beim Schreiben fackelte Andersen nicht lange.

Doch bevor er seine Texte publizierte, las er sie in den Salons von Förderern und Bekannten vor, wobei ihn deren Reaktionen oft entweder in Euphorie oder in depressive Verstimmungen stürzen konnten. In seinen Tagebüchern liest sich das so: «Meine Stimmung ist zum Aus-der-Welt-Springen, glaube keinem, nicht einmal mir selbst. – Ich werde bestimmt verrückt.» Durchaus lebensfroh fügt er allerdings an: «Mittagessen bei Ørsteds».

Die Schweiz war für Hans Christian Andersen ein Hort der Ruhe, aber auch eine mächtige Quelle der Inspiration. Die Landschaften hatten es ihm angetan, und Wilhelm Tell stand im Olymp seiner persönlichen Helden ganz oben. Die überwältigenden Reiseerfahrungen aus den Schweizer Bergen schlugen sich in den ersten Sätzen seines Märchens «Die Eisjungfrau» nieder, das Andersen gleich nach seiner Reise von Grindelwald nach Bex zu schreiben begann, und der Protagonist der «Eisjungfrau» lässt sich als luftigere Variante des Schweizer Nationalhelden verstehen – als Wilhelm Tell mit einem Andersen-Herz.

Wie so viele der abgründig-aberwitzigen Texte des Dänen beginnt es mit einer direkten Ansprache des Märchenonkels an seine Leser: «Wir wollen einmal die Schweiz besuchen, uns in dem herrlichen Gebirgsland umsehen, wo die Wälder an den steilen Felswänden emporklettern; wir wollen auf die blendend weissen Schneefelder hinaufsteigen und wieder zu den grünen Wiesen hinabgehen, wo Flüsse und Bäche dahinrauschen.»

Andersen war ein leidenschaftlicher Reisender. Im 19. Jahrhundert war jede Reise ein Abenteuer, vor allem für den mäkeligen Hypochonder aus Odense. In seinen Tagebüchern beklagt er sich auch öfter über körperliches Unwohlsein und andere Unannehmlichkeiten. Seine Tagebücher dokumentieren aber auch, wie er Material für seine Märchen und Romane sammelte. Im Juli 1861 notierte Andersen, noch ganz ohne das Märchenhaft-Wunderbare ins Spiel zu bringen, wie das Wetter die Berglandschaft im Berner Oberland mal unheimlich, mal lieblich in Szene setzt und wie die Jungfrau – der Berg – noch im Dunkeln weiterleuchtet.

In diese Fremdenverkehrskulisse hinein setzte er eine seiner berühmtesten und abgründigsten Figuren aus ei­nem früheren Märchen, die Schneekönigin, und gibt ihr ein zweites Leben als Eisjungfrau. Die Schneekönigin, die den kleinen Kay in ihren Eispalast nach Spitzbergen entführt, wird von seiner treuherzigen Freundin, der kleinen Gerda, besiegt. Doch in der «Eisjungfrau» entkommt der Jüngling dem kalten Tod nicht. Bei einem Sprung in den Genfersee, am Vorabend der Hochzeit mit seiner Geliebten, erwischt ihn die Eisjungfrau in ihrer flüssigen Gestalt und zieht ihn zu sich in die Tiefe.

Dieser Jüngling heisst Rudy und ist ein tollkühner Gämsjäger, ein richtiger Bergler aus Grindelwald. Einer, der es liebt, «hoch oben in den Bäumen Vogelnester zu sammeln, verwegen und kühn, aber lächeln sah man ihn nur, wenn er an dem brausenden Wasserfall stand oder wenn er eine Lawine zu Tal donnern hörte». Das sind Spuren einer frühen Initiation in die Bergwelt, einer Nahtod-Erfahrung, die Rudy als Kleinkind beim Überqueren des Gemmipasses erlebte. Seine Mutter verschwand in einer Gletscherspalte, während er wundersamerweise überlebte. Der erwachsene Rudy verliebt sich in die charmante Walliserin Babette aus dem Dorf Bex, für die er sich als Held beweisen muss – eine Liebesgeschichte, die nicht nur Klassengrenzen überwindet, sondern auch den Röstigraben.

Für Andersens Verhältnisse ist die Liebe zwischen Rudy und Babette äusserst erotisch dargestellt. Die knisternde Ungeduld, mit der sie in der erhabenen Bergkulisse auf die Hochzeitsnacht warten, ist mit Händen zu greifen. Kay und Gerda aus der «Schneekönigin» bleiben dagegen immer «Kinder im Herzen» – nur deshalb dürfen sie zusammenbleiben. Das Begehren zwischen Rudy und Babette muss vor der Hochzeitsnacht durch den Tod in Sehnsucht zurückverwandelt werden. Hier zeigt sich, wie eng Andersens Selbststilisierung als unglücklicher Liebender mit einer Fixierung auf unerreichbare Frauen und Männer mit dem Kern seiner Poetik verbunden ist. Sexuelles Begehren öffnet der Verführung durch die Mächte des Todes Tür und Tor und lässt den Dichter verstummen. Nur wer im Herzen ein Kind bleibt, darf in Andersens Universum lieben – und schreiben.

Christine Lötscher

Inspiration Schweiz

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