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1857 besuchte der russische Schriftsteller Leo Tolstoi die Schweiz. Die Berge liessen ihn kalt, aber in Luzern hatte er ein Erlebnis, das ihn zu einer Erzählung anregte.

Als Tolstoi Anfang April 1857 auf seiner ersten Auslandsreise von Paris her kommend mit dem Zug der Schweizer Grenze entgegenrollte, dankte er Gott, «Sodom» entkommen und am Leben zu sein. Zwei Tage zuvor hatte Tolstoi in Paris die Hinrichtung eines zweifachen Mörders mit angesehen. Das Bild des Mannes, der eine Bibel küsste, bevor ihm der «starke, weisse und gesunde Hals» von der Guillotine durchtrennt wurde, verfolgte Tolstoi in der Nacht darauf in seinen Träumen.

Wie können, fragte Tolstoi, sich die Menschen anmassen, «im Namen Gottes» Gerechtigkeit zu üben? «Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!», heisst es doch in der Bergpredigt. Für Tolstoi hatte dieses Bibelwort auch in der Kunst Gültigkeit: «Erzähle, gestalte, aber richte nicht», schrieb er am Tag nach seiner Ankunft in Genf in sein Notizheft. An diese Maxime wollte sich der 29-jährige Schriftsteller in Zukunft halten.

In der Schweiz wollte er, seinem Jugendidol Rousseau folgend, «zurück zur Natur». Mit einem «unschuldigen Knaben» wollte er durch die Berge wandern. Nachdem sich Tolstoi bei Verwandten in Genf und Clarens mit Schwefelbäderkuren und Lektüre von seinem Pariser Schock wieder etwas erholte hatte, war es so weit: Zusammen mit Sascha, einem elfjährigen Knaben aus dem Bekanntenkreis, brach Tolstoi zu seiner Bergtour auf. Zu Fuss, mit der Postkutsche und dem Schiff reisten die beiden von Montreux über den Col de Jaman ins Simmental, von Spiez nach Interlaken und Grindelwald. Die Reise verlief jedoch enttäuschend: Die Aussicht auf dem Col de Jaman liess Tolstoi «völlig kalt», und es gelang ihm nicht, sich «als Teil des ­unendlichen und schönen Ganzen» zu fühlen. Daher kam er zum Schluss, dass die grossartigen Gebirgspanoramen letztlich nur etwas für die englischen Touristen seien, die nach ihrer Rückkehr von der Schönheit der Bergwelt schwärmen wollten.

Im Juli reiste Tolstoi über Bern nach Luzern, wo er im Schweizerhof, dem besten Hotel am Platz, abstieg. Als er zum ersten Mal in seinem Zimmer ans Fenster trat, wurde er – so schildert er es in seiner autobiografischen Erzählung «Luzern» – von der Schönheit des Sees, der Berge und des Himmels «geblendet und erschüttert». Doch die «seltsam majestätische und zugleich unsagbar harmonische und weiche Natur» schien ihm bedroht durch den Menschen, der gegen die «Bewegung, Asymmetrie» und die «abenteuer­lichen Formen» der Seelandschaft einen «dumm und gekünstelt weissen, schnurgeraden Uferweg» gesetzt hatte, der, so Tolstoi, nur gebaut worden war, damit die Engländer den See entlang spazieren konnten.

Die Engländer! Sie, gegen die er seit dem Krimikrieg, den er in der Festung Sewastopol erlebt hatte, eine heftige Aversion entwickelt hatte, waren Tolstoi in der Schweiz wiederholt auf die Nerven gegangen. Auch beim gemeinsamen Abendessen im Schweizerhof brachten sie ihn in Rage. Wie sie am Tisch sassen, mit ihren wunderbaren Kleidern und ihren schönen, aber völlig teilnahmslosen Gesichtern, und sich nicht für ihren unbekannten Tischnachbarn interessierten! «Dabei sind alle diese Menschen doch bestimmt nicht dumm und nicht gefühllos, sicherlich geht in vielen dieser erstarrten Menschen das gleiche innere Leben vor sich wie in mir. Weshalb berauben sie sich also einer der grössten Freuden des Lebens – des Genusses aneinander, des Genusses am Menschen?»

Nach dem Abendessen spazierte Tolstoi durch die Gassen Luzerns. Plötzlich hörte er die Stimme eines Sängers, die ihm sofort das Herz öffnete. Er folgte der Stimme, bis sich vor ihm eine Strassenszene aufbaute: Er sah ein «winziges Menschlein», das unter den Fenstern des Schweizerhofs zur Gitarre ein Lied sang. Um den Sänger hatte sich ein Halbkreis gebildet; auf den Balkonen des prachtvoll erleuchteten Hotels drängten sich die Gäste, unter ihnen die Engländer.

Alle Umstehenden hörten aufmerksam zu, alle schienen das Gefühl der Freude zu empfinden, das Tolstoi in diesem Moment erfüllte. Als der Sänger seinen Vortrag beendet hatte und mit seinem Hut um eine Spende bat, gab ihm, abgesehen von Tolstoi, niemand etwas. Stattdessen fing die Menge an zu lachen und zerstreute sich, als der Sänger seinen Hut nahm und in einer der Gassen verschwand.

Tolstoi geriet ausser sich vor Zorn. In seinem Kopf spulte sich eine Wutrede gegen die Engländer ab, die in «Luzern» mehrere Seiten umfasst: «Wie konntet ihr, Kinder eines freien menschlichen Volkes, ihr, Christen, ihr … einfachen Menschen, auf einen reinen Genuss, den euch ein armer bettelnder Mensch bereitet hat, mit Kälte und Spott antworten?» Ist es wirklich so, dass in der modernen Klassengesellschaft das «einfache ursprüngliche Gefühl des Menschen für den Menschen» durch «Eitelkeit, Ehrgeiz und Gewinnsucht» abgelöst worden ist?

Dann wendet sich seine Erzählung vom Sozialkritischen ins Theologische: Getreu der Maxime, die er sich bei seiner Ankunft in Genf notiert hatte, dürfe auch er sich nicht zum Richter aufschwingen. Ein Urteil stehe allein Gott zu, der alle Gegensätze – zwischen Armen und Reichen, Glücklichen und Unglücklichen, Gerechten und Ungerechten – «gestattet und befohlen hat. Nur dir, dem nichtigen Wurm, der seine Gesetze, seine Absichten dreist und eigenmächtig zu durchdringen versucht, nur dir scheinen das Widersprüche zu sein.»

In wenigen Tagen brachte Tolstoi die «Luzern»-Erzählung zu Papier und verliess zehn Tage später die Schweiz mit der Erkenntnis, dass er «viel Neues und Wichtiges zu sagen» habe.

Andreas Tobler

Inspiration Schweiz

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