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Unendliche Vervielfachung. Raymond Queneaus Exercices de style und ihre deutschen Übersetzer
ОглавлениеAngela Sanmann (Lausanne)
Abstract: Raymond Queneau’s Exercices de style was first translated into German by Ludwig Harig and Eugen Helmlé in 1961, and retranslated by Frank Heibert and Hinrich Schmidt-Henkel in a new, extended version in 2016. By confronting and analyzing the different versions of Queneau’s Exercices Maladroit, Métaphoriquement, Olfactif and Paréchèses, my essay shows how the French author’s formal strategies and self-imposed constraints in each “exercise”, far from resulting in untranslatability, in fact activate (and even enhance) the creative potential of the translational act. Necessarily, every translator of the Exercices becomes, to a certain extent, a writer in his or her own right. Moreover, I argue that the fundamental principle of Queneau’s œuvre, namely, the “infinite proliferation” of a banal everyday scene, is best realized through translation and its inevitable proliferation of meaning(s) and variations. In this neverending process, every (re-)translation is tied up to its predecessor(s), deliberately or not, in a differential fashion. In my contrastive analysis of the German versions of Queneau’s Exercices de style, I distinguish between (I) retranslation as continuation and (II) retranslation as updating, not only of aesthetics, but also of the social reality represented in Queneau’s texts.
Keywords: Raymond Queneau, Exercices de style, creativity, (re-)translation, infinite proliferation.
40 Jahre nach Raymond Queneaus Tod und 55 Jahre nach Erscheinen der ersten deutschen Exercices de style-Fassung von Ludwig Harig und Eugen Helmlé haben Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel eine erweiterte Neuübersetzung vorgelegt. Der folgende Beitrag stellt ausgewählte Stilübungen in beiden Versionen vergleichend nebeneinander und analysiert sie im Rückgriff auf die von ihren Verfassern formulierten Zielsetzungen. Dabei soll zweierlei gezeigt werden: Erstens, dass sprachliche Kreativität durch die Vorgabe bestimmter Regeln und Koordinaten, wie sie formbewussten (lyrischen) Texten zugrunde liegen, nicht eingeschränkt, sondern im Gegenteil gerade herausgefordert wird – und zwar im Ausgangs- wie auch im übersetzten Text. Zweitens, dass die Grundidee von Queneaus Exercices, die „prolifération infinie“1, die unendliche Vervielfachung eines banal-alltäglichen Themas, sich ihrer Anlage nach überhaupt erst im unabschließbaren Prozess des (Neu‑)Übersetzens realisieren lässt.
Seit Barbara Wright 1958 die erste Exercices-Übersetzung verfasst hat, haben insgesamt mehr als 32 Übersetzungen diese „prolifération“ der ursprünglich 99 Varianten von Queneaus Autobusgeschichte fortgeführt. Bereits im Vorwort zu ihrer englischsprachigen Fassung Exercises in Style reflektiert Wright die Spannung zwischen der Sprache als System und der Eigenlogik der Einzelsprachen, wie sie von Queneau-Übersetzern bis heute fruchtbar gemacht wird – allen Zweifeln an der Übersetzbarkeit der Exercices zum Trotz:
I thought that [Exercices de style] was an experiment with the French language as such, and therefore as untranslatable as the smell of garlic in the Paris metro. But I was wrong. In the same way as the story as such doesn’t matter, the particular language it is written in doesn’t matter as such. Perhaps the book is an exercise in communication patterns, whatever their linguistic sounds. And it seems to me that Queneau’s attitude of enquiry and examination can, and perhaps should? – be applied to every language […]. (Wright 1958/2009: 16)
Queneaus Exercices, so lässt sich folgern, verlangen also geradezu danach, übersetzt zu werden, denn in jeder neuen Fassung verschieben sich, entsprechend der inneren Logik der jeweiligen Zielsprache, die im Ausgangstext angelegten Bedeutungsvektoren und generieren – ganz im Sinne Queneaus – ihrerseits neue Bedeutungen. Auf diese Weise inszenieren Queneau, und nach ihm seine Übersetzerinnen und Übersetzer, die von Wilhelm von Humboldt formulierte Einsicht, dass „die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unbekannte zu entdecken.“ Denn, so Humboldt weiter, die Verschiedenheit der Sprachen „ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst. Hierin ist der Grund, und der letzte Zweck aller Sprachuntersuchung enthalten“ (Humboldt 1820: 27). Queneaus Exercices lassen sich als eine poetisch umgesetzte „Sprachuntersuchung“ im Sinne Humboldts verstehen, die im Vorgang des Übersetztwerdens unendlich potenziert wird – worin sich überhaupt erst ihre Verfasstheit als „prolifération infinie“ manifestiert.
Die besondere Komplexität von Queneaus „Sprachuntersuchung“ liegt nun darin, dass die sprachliche Virtuosität des OuLiPo-Autors sich nicht im Aufstellen bzw. (Über-)Erfüllen oder Unterwandern der selbstauferlegten Regeln erschöpft. Tatsächlich generieren seine poetischen Verfahrensweisen ihrerseits Überschüsse, die sich selbst nicht mehr aus diesen Regeln ableiten lassen: Klangketten, Motivreihen oder doppelte Lesarten – die „Nebenprodukte“ von Queneaus verdichtenden poetischen Prozessen sind so unterschiedlich wie die ursprünglich 99 Stilübungen selbst. Und wiederum ist die Übersetzung der prädestinierte Ort, an dem sich die poetischen Strukturen der Exercices vervielfachen, in jeder zielsprachlichen Fassung neu.