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1 Neuübersetzung als Fortschreibung

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Besonders gut nachvollziehen lässt sich der Prozess der poetischen Vervielfachung in der vergleichenden Analyse zweier Übersetzungen in die gleiche Sprache. Mal variiert die Neuübersetzung die in der Erstübersetzung gefundenen Lösungen (1), mal entwickelt sie diese weiter und spinnt sie fort (2).

(1.) Ein sprechendes Beispiel für die Neuübersetzung als Variation bietet die Analyse der deutschen Übersetzungen von Queneaus Stilübung Botanique, in der es vom Protagonisten heißt: „Mais, des dattes ! fuyant une récolte de châtaignes et de marrons, il alla se planter en terrain vierge“ (Queneau 2012: 142).1 Harig und Helmlé finden für jede der von Queneau verwendeten Redensarten samt ihres botanischen Kontextes eine Entsprechung in der deutschen Sprache: „Aber Pusteblume, um keine Knallschoten zu ernten, schlug er sich in die Büsche und verpflanzte sich dann in Brachland“ (Harig/Helmlé 1961: 135). Die hier gewählte Herangehensweise steht im Einklang mit der von Harig beschriebenen Strategie der „Naturalisierungen“ oder „Umsetzungen“, bei der „an Stelle der scharfen Deckung des Wortmaterials Äquivalenz“ angestrebt werde (Harig 1961: 284). Ähnlich gehen auch Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel vor, die in ihrer Neuübersetzung (ob bewusst oder unbewusst) einzelne Elemente der Erstübersetzung übernehmen und andere variieren oder ganz ersetzen: „Aber, Pusteblume! Da flüchtet er lieber, bevor er Nüsse und Feigen erntet, und pflanzt sich in jungfräuliche Erde“ (Heibert/Schmidt-Henkel 2016a: 104).

(2.) Dass eine Neuübersetzung in Bezug auf die Erstübersetzung aber auch eine Weiterentwicklung darstellen kann, zeigt der Vergleich der deutschen Fassungen der Stilübung Maladroit. In dieser Exercice klagt ein schriftstellerisch ambitionierter Ich-Erzähler über die Mühe, die es ihm bereitet, seine Erlebnisse auf der Plattform des Autobusses niederzuschreiben. In seiner Not versucht er, sich mit Hilfe eines abgewandelten französischen Sprichworts Mut zu machen: „C’est en écrivant qu’on devient écriveron“ (Queneau 2012: 98), heißt es in Anlehnung an die Redewendung „C’est en forgeant qu’on devient forgeron” (dt.: „Nur durchs Schmieden wird man zum Schmied“). In ihrer Fassung von 1961 konzentrieren sich Ludwig Harig und Eugen Helmlé bei der Übertragung des Sprichworts auf das Stilmittel der Wiederholung: „Nur schreibend wird man Schreibender“ (Harig/Helmlé 1961/2007: 80). Ausgespart bleibt in dieser Lesart die Dimension der spielerischen Transformation: Während Queneau nach dem Vorbild „forgeron“ das Kunstwort „écriveron“ (in Anlehnung an „écrivain“) bildet, beschränken sich Harig und Helmlé auf eine relativ wörtliche Übertragung ohne Wortbildungsambitionen.

In ihrer Neuübersetzung lösen Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel sich offenbar stärker vom Original als ihre Vorgänger es getan haben und erschließen sich damit einen Spielraum, der eine kreative Umsetzung des französischen Sprichworts begünstigt. Das Ergebnis ist ein Neologismus, der Queneaus eigener Wortneuschöpfung strukturell verwandt ist: „Übung macht den Schreibster“ (Heibert/Schmidt-Henkel 2016a: 62). „Meister“ und „Schreibster“ stehen in einem ähnlichen Verhältnis zueinander wie „forgeron“ und „écriveron“. Darüber hinaus weckt das Wort „Schreibster“ Assoziationen an aktuell im deutschen Sprachraum geläufige Wendungen wie „Hipster“ oder „Flinkster“ und markiert die Fassung offensiv als eine Re-Inszenierung in der Zielsprache Deutsch. Queneaus poetische Verfahren werden als solche im Deutschen fortgeführt – ein Vorgehen, das mit Hinrich Schmidt-Henkels Aussage korrespondiert, Übersetzen sei für ihn „Schreiben wie der Autor – mit den Mitteln der anderen Sprache“ (Heibert/Schmidt-Henkel 2016c: 18).

Dass Übersetzen aber nicht nur ein „Schreiben wie der Autor“, also nicht nur ein Nachschreiben, sondern in bestimmten Fällen auch ein Fortschreiben des Ausgangstextes sein kann, das die Bedeutungsdimensionen der jeweiligen Stilübung in der Zielsprache noch einmal potenziert, lässt sich beispielhaft an den Übersetzungen der Stilübung Métaphoriquement aufzeigen. In dieser Variante der Autobus-Szenerie greift Queneau auf eine Reihe bildlicher Ausdrücke aus dem Tierreich zurück:

Métaphoriquement

Au centre du jour, jeté dans le tas des sardines voyageuses d’un coléoptère à l’abdomen blanchâtre,2 un poulet au grand cou déplumé harangua soudain l’une, paisible, d’entre elles et son langage se déploya dans les airs, humide d’une protestation. Puis attiré par un vide, l’oisillon s’y précipita.

Dans un morne désert urbain, je le revis le jour même se faisant moucher l’arrogance pour un quelconque bouton.

(Queneau 2012: 33)

Die Passagiere als ein Haufen dicht zusammengedrängter Sardinen, der Autobus als weißer Käfer und der Protagonist selbst als Huhn mit kahlgerupftem Hals – diese Verkettung von Bildspendern aus der Tierwelt bildet nur eine Dimension der vorliegenden Exercice. Zusätzlich lässt sich eine konsonantische Klangkette aus p- und k-Lauten ausmachen, die den gesamten ersten Teil des Textes strukturiert: „coléoptère“ – „carapace“ – „poulet“ – „cou“ – „déplumé“ – „paisible“ – „déploya“ – „protestation“ – („puis“) – („par“) – „précipita“. Allein anhand der lautlich miteinander verbundenen Substantive und Verbformen ließe sich der Ablauf von Queneaus Kürzestgeschichte rekonstruieren.

Mit welchen Strategien reagieren Queneaus deutsche Übersetzer auf diese Verknüpfung aus Motiv- und Klangverkettung? Die Fassungen von 1961 bzw. 2016 lauten:

Metaphorisch

Im Zentrum des Tages, auf den Haufen reisender Sardinen eines Käfers mit dickem, weißem Rückenschild geworfen, kanzelte mit einem Male ein Hähnchen, mit großem, gerupftem Halse eine von ihnen, die friedliebende, ab, und seine Rede breitete sich, feucht von Einspruch, in den Lüften aus. Dann, von einer Leere angezogen, stürzte sich das Vögelchen hinein.

In einer düsteren Häuserwüste sah ich es am selben Tage wieder, als es sich den Dünkel wegen irgendeines Knopfes aus der Nase ziehen ließ.

(Harig/Helmlé 1961/2007: 11)

Metaphorisch

Im Zenit des Tages predigte in einem Käfer mit weißlichem Unterleib, der als Dose für reisende Sardinen diente, ein Hähnchen mit gerupftem Langhals überfallartig einer friedlichen unter ihnen, und seine Worte entfalteten sich klagefeucht in den Lüften. Dann stürzte sich der Jungvogel in eine lockende Leere. Am selben Tage erblickte ich ihn in einer trüben städtischen Wüstenei, als er sich gerade wegen irgendeines Knopfes auf die Hühneraugen steigen ließ.

(Heibert/Schmidt-Henkel 2016a: 10)

Während sich die Erstübersetzung von Ludwig Harig und Eugen Helmlé auf die Bildung einer ü-Klangkette fokussiert („Lüften“ – „stürzte“ – „düsteren“ – Häuserwüste“ – „Dünkel“), greifen Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel Queneaus klangakrobatische Verfahren auf und erfinden sie im Deutschen neu. Entsprechend wird die gesamte Stilübung klanglich durchformt: Neben einer ü-Assonanz, die sich teilweise mit derjenigen aus Harigs/Helmlés Fassung deckt („überfallartig“ – „Lüften“ – „stürzte“ – „trüben“ – „Wüstenei“ – „Hühneraugen“), stehen Echoeffekte („Sardinen“ – „diente“) und Alliterationen („lockende Leere“). Diese Lautspiele bereiten jedoch nur den Rahmen für ein ungleich komplexeres Klanggebilde, mit dem sich die Übersetzer vom Original emanzipieren und es mit den Mitteln der deutschen Sprache fortschreiben. Dazu lassen Heibert und Schmidt-Henkel metaphorische, lautliche und idiomatische Elemente interagieren. Den Ausgangspunkt bildet das bei Queneau angelegte Vogelmotiv („poulet“/„l’oisillon“), das in der Übersetzung auf zweierlei Weise weitergesponnen wird:

1. Aus dem Doppelvokal „ei“ legen die Übersetzer eine Klangkette durch den gesamten Text und spielen damit immer wieder auf das dem Vogelmotiv zuzuordnende „Ei“ an („weißlichem Unterleib“/„reisende“, Anm. A.S.). Auf der Klangebene geht das „Ei“ damit dem Huhn bzw. Hähnchen voraus und findet sich im letzten Satz – entgegen aller Regeln der Etymologie – noch einmal in der „Wüstenei“ wieder.

2. Das bei Queneau angelegte Vogelmotiv („Huhn“/„Jungvogel“) wird in der deutschen Fassung darüber hinaus auch insofern intensiviert, als die Übersetzer für die französische Redewendung „se faire moucher l’arrogance“ (bei Harig/Helmlé: „sich den Dünkel aus der Nase ziehen lassen“) ein das Vogelmotiv fortführendes deutsches Sprichwort einsetzen – wenn es vom Protagonisten dieser Exercice heißt, er ließe sich „wegen irgendeines Knopfes auf die Hühneraugen steigen“. Offenbar haben sich die (Klang-)Motive von „Ei“ und „Huhn“ in der Übersetzung von Heibert und Schmidt-Henkel soweit verselbständigt, dass sie das konventionelle Verständnis von Metaphorik unterlaufen: Denn wenn das Huhn noch insofern mit dem „Hühnerauge“ verknüpft ist, als eine gewisse visuelle Ähnlichkeit zwischen einer Hornhautschwiele und einem Vogelauge besteht, so hat das „Vogelei“ selbstverständlich keinerlei Bezug zur „Wüstenei“. Die poetische Assoziationskraft lässt die Wörter „Ei“ und „Wüstenei“ jedoch auf phonetisch-graphischer Ebene wie selbstverständlich zusammenrücken. Das Hühneraugen-Sprichwort generiert also eine Querverbindung zum Vogelmotiv, die in dieser Form nur im Rahmen des deutschen Wortschatzes möglich ist, während die französische Wendung „se faire moucher l’arrogance“ keinen auch noch so entfernten Bezug zur Welt der Vögel hat. Auch hier erweist sich das Übersetzen als ein ‚Über das Original hinaus-Schreiben‘ mit den im Original angelegten Techniken, ganz im Sinne von Queneaus Idee der „prolifération infinie“.

Die Stilübung Olfactif ist vielleicht das sprechendste Beispiel dafür, dass die sprachliche Virtuosität von Queneaus Exercices gerade nicht auf das jeweilige titelgebende Verfahren beschränkt bleibt, sondern sich darüber hinaus auf einer zweiten oder dritten Bedeutungsebene niederschlägt, die sich bei der Lektüre womöglich erst nach und nach erschließt. Im ersten Teil der Olfactif-Stilübung erzeugt die Aufzählung der im Bus präsenten Gerüche klanglich die Buchstabenfolge des ABC:

Olfactif

Dans cet S méridien il y avait en dehors de l’odeur habituelle, odeur d’abbés, de décédés, d’œufs, de geais, de haches, de ci-gîts, de cas, d’ailes, d’aime haine au pet de culs, d’airs détestés, de nus vers, de doubles vés cés, de hies que scient aides grecs, il y avait une certaine senteur de long cou juvénile, une certaine perspiration de galon tressé, une certaine âcreté de rogne, une certaine puanteur lâche et constipée tellement marquées que lorsque deux heures plus tard je passai devant la gare Saint-Lazare je les reconnus et les identifiai dans le parfum cosmétique, fashionable et tailoresque qui émanait d’un bouton mal placé.

(Queneau 2012: 104)

Die Vielschichtigkeit von Queneaus Exercice, die in der Simultaneität von olfaktorischer Autobus-Variation und homophonem Alphabet besteht, ist eng mit der französischen Sprache und ihrer Vielzahl gleichklingender Worte verbunden. Im Anmerkungsapparat zu ihrer Übersetzung haben Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel Queneaus Alphabet aufgeschlüsselt: „abbés (A, B), décédés (C, D), œuf (E, F), geais (G), haches (H), ci-gîts (I, J), cas (K), ailes (L), aime haine au pet de culs (M, N, O, P, Q), hies que scient aides grecs (X, Y, Z – das Z nur sehr verschlüsselt)“ (Heibert/Schmidt-Henkel 2016b: 182). Wie der Vergleich zwischen den beiden deutschen Olfactif-Fassungen zeigt, realisiert die Neuübersetzung von Heibert/Schmidt-Henkel erstmals dieses homophone ABC. Harig und Helmlé haben ihrerseits eine relativ wörtliche Umsetzung vorgelegt, in der das Klang-ABC nicht hörbar wird:

Geruchlich

In diesem mittägigen S gab es außer dem gewöhnlichen Geruch: Geruch nach Äbten, nach Gestorbenen, nach Eiern, nach Eichelhähern, nach Äxten, nach Verblichenen, nach Kot, nach Flügeln, nach Haßliebe mit Arschfürzen, nach abscheulichen Gasen, nach nackten Maden, nach doppelten WC’s, nach alten Jungfern, es gab den gewissen Duft eines langen, jugendlichen Halses, die gewisse unmerkliche Ausdünstung einer geflochtenen Kordel, die gewisse Herbe schlechter Laune, den gewissen flauen und verstopften Gestank, der so stark war, daß ich ihn, als ich zwei Stunden später vor der Gare Saint-Lazare vorbeikam, sofort wiedererkannte und ihn am kosmetischen, fashionablen und tailoresken Parfum, das von einem falschplatzierten Knopf ausging, identifizierte.

(Harig/Helmlé 1961/2007: 88)

Olfaktorisch

In diesem mittäglichen S wehte einen der übliche Geruch – mal Ah!, mal Bäh!, nach Zeh, nach Deo, nach Äffchen, ach geh! Ha! Ihh! Jottojott! Ka-ka!, nach Elli, Emmi und Enno, nach Pest, Kuh, Ähren, Essen, Tee, Uhu, Pfau, o weh, hicks, üpsel – an, dazu so ein Aroma von langem Junghals, so ein Hauch von geflochtener Borte, so ein beißender Stinkwutgestank, so ein feiger, verklemmter Mief, derart ausgeprägt, dass ich ihn, als ich zwei Stunden später an der Gare Saint-Lazare vorbeikam, wiedererkannte und sogar aus dem kosmetischen, fashionablen Schneiderduft, den ein falsch platzierter Knopf verströmte, noch herausroch.

(Heibert/Schmidt-Henkel 2016a: 69)

Das ‚Verschweigen’ des homophonen ABC in der Erstübersetzung sollte jedoch nicht vorschnell mit einem mangelnden Verständnis seitens der Übersetzer erklärt werden. Ein Blick in Ludwigs Harigs Artikel Raymond Queneau – übersetzt im Saarland. Die Stilübungen und ihre Schwierigkeiten vom 13. Mai 1961 zeigt, dass ihm die klanglich-semantische Komplexität der vorliegenden Stilübung offenbar nicht entgangen ist. Seine vorläufige „Leseart der alphabetischen Laute“ (Harig 1961: 85) heißt:

AB C D E F G
Abbé Zeh De(gen) E(sel) Äff(chen) Ge(n)
HIJ KLM N OPR Q S
Hj. Kah lem En(te) Oper Kuh Ess(en)
T U V W X Z
Tee U(hu) (P)fau Weh (W)ichs Zett(el)

Offen bleibt die Frage, zu welchem Zeitpunkt dieses ABC-Gerüst, dem lediglich das Y fehlt, entstanden ist, ob noch vor oder erst nach der Drucklegung des Übersetzungsmanuskripts. Das Erscheinen der ersten Rezensionen zu den Stilübungen Autobus S. Ende Juni 19613 legt die Annahme nahe, dass die Übersetzung selbst in den vorausgehenden Wochen publiziert sein worden muss, also in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu Harigs Beitrag in der Saarbrücker Zeitung. Insofern ist es nicht auszuschließen, dass Eugen Helmlé und Ludwig Harig erst auf das homophone Alphabet aufmerksam geworden sind, als der Druckprozess schon im Gange und eine weitere Fahnenkorrektur ausgeschlossen war. In diesem Fall wäre es denkbar, dass der Beitrag aus der Saarbrücker Zeitung möglichen Kritikern zuvorkommen sollte. Möglich ist aber auch, dass die beiden Übersetzer mit ihren bis dato erarbeiteten deutschsprachigen Lösungen unzufrieden gewesen sind und deshalb darauf verzichtet haben, das homophone Alphabet in die Buchfassung aufzunehmen. Denn was dem Klang-ABC im vorliegenden Stadium in der Tat noch fehlt, ist die Bindung der mit den einzelnen Buchstaben verknüpften Wörter an das Motto „mögliche Gerüche in einem Autobus“. Dazu fehlt mehreren der gewählten Wörter die klanglich-semantische Doppelfunktion: Während Begriffe wie „Zeh“, „Esel“ und „Äffchen“ oder auch „Essen“, „Tee“ und „Uhu“ beim Leser recht klare Geruchsassoziationen wecken, lassen sich andere Motive wie z.B. „Degen“ oder „Zettel“ entweder allenfalls vage geruchlich zuordnen (Degen – metallischer Geruch; Zettel – muffiger Geruch alter Papiere) oder auch gar nicht, wie im Fall des Worts „Gen“. Andere Begriffe wie z. B. „Oper“ lassen sich zwar unter Umständen mit bestimmten Gerüchen wie z. B. einem aufdringlichen Parfüm in Verbindung bringen, sind aber im Kontext eines mittäglichen Autobusses wenig plausibel.

Zwei Aspekte seien hier festgehalten: Zum einen ist offensichtlich, dass Ludwig Harig sich während der gemeinsamen Übersetzungsarbeit mit Eugen Helmlé bzw. bald nach Drucklegung des Manuskripts im Sommer 1961 intensiv mit Queneaus olfaktorischem Alphabet auseinandergesetzt und ein erstes ABC-Klanggerüst im Deutschen erarbeitet hat – auch wenn sich der genaue Zeitpunkt, an dem der oder die Übersetzer das Alphabet bemerkt haben, nicht mehr rekonstruieren lässt. Zum anderen wäre es mit Blick auf die zitierten Ausführungen Ludwig Harigs zur komplexen Struktur von Queneaus Exercice sicherlich falsch zu sagen, es habe ihm an übersetzerischer Selbstreflexion gemangelt – ein Vorwurf, der bei Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel anklingt. In ihrem Nachwort zur Neuübersetzung versuchen sie sich auch gerade dadurch von ihren Vorgängern abzugrenzen, dass sie für sich und ihre heutigen ÜbersetzerkollegInnen ein gewandeltes Rollenverständnis geltend machen: „In der Literaturübersetzung herrscht ein ganz anderes Selbstverständnis als seinerzeit, auch ein sehr viel ausgeprägteres Selbstbewusstsein im Sinne von Selbstreflexion“ (Heibert/Schmidt-Henkel 2016b: 201). Ohne eine allgemeine Aussage über ‚die‘ LiteraturübersetzerInnen der sechziger Jahre und ihren Grad an Selbstreflexion wagen zu wollen, muss jedoch betont werden, dass Ludwig Harig selbst wiederholt ein hohes Maß an Selbstreflexion unter Beweis gestellt und über seine Übersetzungsstrategien Auskunft gegeben hat. Neben seinem oben zitierten Beitrag aus der Saarbrücker Zeitung, der auch Eingang in die Werkausgabe gefunden hat, liegt von ihm noch mindestens ein weiterer Beitrag mit Bezug zur Queneau-Übersetzung vor: Spiel mit dem Stil: Zur Übersetzung von Texten Raymond Queneaus (Harig 1971). Nicht zu vergessen das Nachwort zur Neuauflage der Exercices-Übersetzung (Harig 1990/2007: 161–168) mit dem Titel Auf dem pataphysischen Hochseil. Zur Übersetzung der Stilübungen von Raymond Queneau, ein Text, der jedoch in größerem zeitlichen Abstand zur Erstpublikation der Übersetzung entstanden ist.

Auch wenn Queneaus homophones ABC in der deutschen Erstübersetzung von Olfactif nicht aus einem Mangel an übersetzerischem Problembewusstsein unterschlagen wurde, bleibt die Tatsache bestehen, dass der Übersetzung von Ludwig Harig und Eugen Helmlé ein wichtiges, wenn nicht das entscheidende Element fehlt. Eine kreative Über- und Umsetzung der Exercice bestünde nämlich, kurz gefasst, darin, die vielschichtige Textstruktur, die sich als Simultaneität von Geruchsassoziation, Autobus-Szenerie und homophonem ABC artikuliert, mit den Mitteln der Zielsprache neu zu inszenieren. Diese Form der „Erhaltung von Komplexität“ (Reichert 1976: 70), erfordert in einem ersten Schritt ein Verständnis für das „Ensemble von Schichten“ (Reichert 1976: 67), das im Ausgangstext vorliegt, und in einem zweiten Schritt die nötige Kreativität im Umgang mit der Zielsprache, in der eine solche Vielschichtigkeit erneut entstehen soll. Dass sich im Hinblick auf das homophone ABC Heiberts und Schmidt-Henkels Suchbewegungen und -ergebnisse teilweise mit denen ihrer Vorgänger überschneiden, vermag kaum zu überraschen, bedenkt man die geringe Zahl an gleichklingenden Worten im deutschen Wortschatz. So finden sich in ihrer deutschen Neuübersetzung (ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt) sieben der von Harig in seinem Zeitungsbeitrag vorgeschlagenen Begriffe: „Zeh“, „Kuh“, „Essen“, „Tee“, „Uhu“, „Pfau“, „Weh“.

Und doch unterscheidet sich die der Neufassung zugrundliegende Übersetzungsstrategie deutlich von der Herangehensweise der Erstfassung, wie sich anhand des letztgenannten Wortes „weh“, dem der Ausruf „o“ vorangestellt wird, exemplarisch zeigen lässt: Hatten sich Ludwig Harig und Eugen Helmlé in enger Anlehnung an das Original ausschließlich auf die Verwendung von Substantiven konzentriert, so erweitern Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel ihre Gestaltungsmöglichkeiten durch den Einbezug von Interjektionen wie z. B. „o weh“ und tragen damit der Tatsache Rechnung, dass es im Deutschen, anders als im Französischen, kaum gleichklingende Substantive gibt, die für die Inszenierung des olfaktorischen ABCs in Frage kämen. Um diese sprachsystematische Asymmetrie zwischen dem Französischen und dem Deutschen zu kompensieren, schöpfen die beiden Übersetzer aus dem breiten Fundus umgangssprachlicher Ausrufe, den der deutsche Wortschatz bereithält („mal Ah!, mal Bäh, […] ach geh! Ha! Ihh! Jottojott! Ka-ka!“), und steigern damit gleichzeitig den Grad an Mündlichkeit und Unmittelbarkeit von Queneaus Stilübung. Dieses übersetzerische Vorgehen erweist sich insofern als besonders gelungen, als es in der Zielsprache neue Motive generiert, ohne dabei den Eindruck willkürlicher Transformation zu erwecken. Heibert und Schmidt-Henkel emanzipieren sich also einerseits merklich von Queneaus Text, orientieren sich aber andererseits an dessen poetischen Verfahrensweisen. Dazu heißt es im Vorwort der beiden Übersetzer:

Die Exercices de Style und ihr Spiel mit der Sprache scheinen zwar untrennbar eng an das Französische und seine Spezifika gebunden zu sein, an Aussprache, Schreibweise und Redeweisen. Aber am übersetzerischen Umgang mit diesen Texten zeigt sich, was das Literaturübersetzen eigentlich ist […]: Es gilt, in der Zielsprache mit ihren Spezifika den geeigneten Spiel-Raum zu finden und zu nutzen (Heibert/Schmidt-Henkel 2016b: 203f.).

Der von der Neuübersetzung in der Zielsprache eröffnete „Spiel-Raum“ besteht nun darin, dass die verschiedenen im Autobus präsenten Gerüche nicht nur aufgezählt, sondern teilweise durch positiv oder negativ konnotierte Ausrufe evoziert werden. Offenbar hat Queneaus sprachspielerischer Übermut die Übersetzer zur Schaffung einer nach eigenen Regeln gebildeten Assoziationskette angeregt, die mit der des Originals korrespondiert, ohne Deckungsgleichheit anzustreben. So komplettieren Heibert/Schmidt-Henkel das homophone Alphabet im Deutschen mithilfe des bei Harig/Helmlé unübersetzt gebliebenen Buchstaben Ypsilon: Das Wort üpsel gibt nicht nur den Klang der ersten beiden Silben des Buchstabens Ypsilon lautmalerisch wieder, sondern enthält, versteckt in einer (im Original nicht angelegten) anagrammatischen Spielerei, gleichzeitig den Verweis auf den (R)ülpse(r), der sich in das Motivfeld „Gerüche“ integriert. An dieser Lösung für den Buchstaben Ypsilon lässt sich der Grad der schriftstellerischen Emanzipation ablesen, den die Übersetzer im kreativen Umgang mit der Zielsprache erlangt haben und den der griechische Queneau-Übersetzer Achilleas Kyriakidis aus seiner eigenen Erfahrung heraus als „translation des inventions“ beschreibt:

Quand on parle d’une traduction des Exercices de Style, on parle d’une translation des inventions, on parle […] d’une fouille pénible mais aussi excitante dans les mines profondes de notre propre langue. Queneau nous conduit jusqu’à un point. Puis, il nous laisse seuls dans les galeries obscures du labyrinthe. On entend son rire. (Assises de la traduction littéraire 1986: 107)

Dass Exercices de style-Übersetzer sich also nicht allein darauf beschränken, Queneaus Ideen in der Zielsprache umzuformen, sondern selbst zu autonom agierenden Erfindern werden (müssen), zeigt der Fortgang der Olfactif-Übersetzung von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel: Für die Wendung „une certaine âcreté de rogne“ (dt.: „ein bestimmter scharfer Geruch der Wut“) setzen sie im Deutschen die sprichwörtliche „Stinkwut“ ein bzw. erweitern diese spielerisch zu „so ein[em] beißende[n] Stinkwutgestank“, ein Wortungetüm, das humorvoll auf den Hang der deutschen Sprache zu Komposita anspielt. Kreativ übersetzen heißt also ausloten und gestalten des zielsprachlichen „Spiel-Raums“ (Heibert/Schmidt-Henkel 2016b: 202), der den Übersetzern zur Verfügung steht bzw. den sie sich im Vorgang des Sprachwechsels überhaupt erst erschließen und der den Bedeutungsschichten des Originals neue hinzufügt.

Umso verwunderlicher, dass die beiden Übersetzer sich dennoch dazu entschlossen haben, den doppelten Boden des Textes, das mitklingende Alphabet, in ihrem (äußerst umfangreichen und höchst informativen) Anmerkungsapparat aufzudecken:

Queneau baut hier zusätzlich zu den geruchsrelevanten Wörtern ein homophones ABC ein: abbés (A, B), décédés (C, D), œuf (E, F) geais (G), haches (H), ci-gîts (I, J), cas (K), ailes (L), aime haine au pet de culs (M, N, O, P, Q), hies que scient aides grecs (X, Y, Z – das Z nur sehr verschlüsselt). Die Übersetzung tut dasselbe mit den Mitteln des Deutschen. (Heibert/Schmidt-Henkel 2016b: 184)4

Warum diese Anmerkung? Wie oben gezeigt, sprechen alle Beobachtungen dafür, dass die Neuübersetzung von Olfactif den deutschsprachigen Leser auf ganz ähnliche Weise heraus- und zum Rätsellösen auffordert, wie Queneau es in seiner französischen Exercice tut. Über die Gründe für den erklärenden Gestus, der mit der Anmerkung einhergeht, lässt sich allenfalls spekulieren: Haben die Übersetzer ihrer eigenen sprachlichen Performance dann doch nicht bis ins Letzte vertraut? Oder haben sie sich im Gegenteil ganz von der Freude über die Vielzahl ihrer originellen Funde leiten lassen und wollten sicherstellen, dass die LeserInnen ihre sprachakrobatische Leistung auch bestimmt nicht übersehen? Wie dem auch sei, ein gewisses Spoiling lässt sich an dieser Stelle nicht leugnen. Denn dem deutschsprachigen Leser wird durch die Anmerkung die Gelegenheit genommen, die Geruchskulisse in Queneaus Exercice selbstständig zu erkunden und dabei irgendwann auf das homophone Alphabet aufmerksam zu werden, sei es nach zwei, drei oder mehr Lektüredurchgängen. Das Entdecken verborgener Bedeutungsschichten ist integraler Bestandteil von Queneaus poetischer „Sprachuntersuchung“, einhergehend mit einer impliziten Aufforderung zum intensiven und wiederholten Lesen, wie die Queneau-Übersetzerin Barbara Wright betont: „The more I go into each variation, the more I see in it“ (Wright 1958/2009: 15). Entsprechend hat Queneau selbst über mehrere Neueditionen der Exercices hinweg konsequent auf jede Art von erläuternder Anmerkung verzichtet, ja „nicht im Traum daran gedacht, sich selbst zu kommentieren“ (Enzensberger 1961: unpag.). Und auch die Übersetzer Heibert und Schmidt-Henkel hätten an dieser Stelle auf einen Kommentar verzichten können: Darf der Leser nicht auch selbst bemerken, welche heimliche Regel neben der „olfaktorischen“ sich noch in dieser Stilübung verbirgt? Bei der wievielten Lektüre auch immer.

Kreativität und Hermeneutik in der Translation

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