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5 Fazit und Ausblick
ОглавлениеDas Übersetzen von Kinderliteratur hat bisher wenig Aufmerksamkeit auf sich ziehen können, auch innerhalb des hermeneutischen Paradigmas, was etwas verwundert. In ihrer umfassenden Darstellung von Geschichte und Leistung dieses Ansatzes hebt Larisa Cercel (2013: 126) die besondere Breite des Blickwinkels bei der namhaftesten Vertreterin hermeneutischen Übersetzungsdenkens im deutschen Sprachraum, Radegundis Stolze, hervor: „Sie demonstriert den hermeneutischen Ansatz an den diversesten Textsorten, reichend von technischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen bis hin zur Bibelübersetzung und Übersetzung von Dichtung.“
Von Texten für Kinder ist in den einschlägigen Monographien, soweit ich sehe, jedoch nur ein einziges Mal die Rede, und zwar ganz en passant in einem Zitat, dessen Aussage noch dazu dringend korrekturbedürftig ist. Reiß/Vermeer dekretieren bezüglich der Funktion des Translats (wobei es hier mehr um textsortenadäquaten Stil als um die Funktion geht): „So soll z. B. ein Fachtext für Fachleute sachlich und klar informieren […]; Kinder erwarten Kindersprache; Geschäftsbriefe sind sachlich und höflich […]“ (zit. in Stolze 1992: 195). Kinder erwarten Kindersprache nicht grundsätzlich, sondern nur dort, wo tatsächlich Kinder sprechen; ansonsten lassen sie sich von ‚erwachsenen‘ Erzählern sehr wohl in sprachliche Regionen entführen, die ihnen (noch) weniger vertraut sind; das ist ja eines der ‚Geheimnisse‘ des Bildungswerts von Lektüre.
Von Texten abgesehen, die man auf mehreren Ebenen lesen kann und deren Faszination nicht zuletzt auf der Mehrfachadressierung beruht, sind Kinderbücher im Allgemeinen aus der Sicht erwachsener Leser inhaltlich nicht in der gleichen Weise deutungsbedürftig wie höhenkammliterarische Texte, denen das Merkmal der Polyinterpretabilität eignet. Daraus abzuleiten, dass das Übersetzen von Kinderliteratur deshalb anspruchslos sei, ist ein Fehlschluss, der zu jenem Prestigedefizit führt, von dem in der Einleitung die Rede war.
Ob es treffend ist, das Übersetzen als solches in Anlehnung an Wittgenstein eine „exakte Kunst“ zu nennen (vgl. Cercel 2013: 60, Ausdruck im Zitat von George Steiner), sei dahingestellt; mir scheint die Charakterisierung als „gelehrte Kunst“ (Kohlmayer/Pöckl 2004) besser zu passen, auch im Sinn der hermeneutischen Lehre, die verlangt, dass ein Übersetzer die Adäquatheit seiner Vorschläge reflektieren und begründen können muss: „Auch wenn seine Übersetzungslösungen im ersten Impuls intuitiv-kreativ erfolgen, muss er in der Lage sein, sie im Nachhinein anhand linguistischer Kriterien zu begründen“ (Stolze 2008: 228).1 In unserem Zusammenhang würde also eine wesentliche Frage lauten: Reden Kinder tatsächlich so, wie ich sie reden lasse?
In Bezug auf den deutschen Sprachraum – das sollte aus den vorangegangenen Ausführungen klar hervorgegangen sein – ist die Frage präziser zu stellen: Wo, sollte sich die Übersetzerin, der Übersetzer fragen, siedle ich die Kinder meiner Geschichte an? Gebe ich ihnen (bewusst) eine regionale sprachliche Identität? Dagegen stehen meist ökonomische Überlegungen; oft ist auch die Logik der Geschichte nicht kompatibel mit der Wahl einer bestimmten deutschen Sprachlandschaft (z. B. wenn die Handlung in einem anderen Land spielt). Die Strategie des Ringelspiel-Verlags ist bisher ein Ausnahmefall, sie dürfte aber in absehbarer Zeit Nachahmer finden. Die gelegentlich gewählte Alternative besteht in der Situierung im sprachlichen Niemandsland, in einer weitgehend neutralisierten Sprache, in der sich Kinder allerdings nicht wiederfinden. Eine neue Orientierungsgröße, die den Medien zu verdanken ist, scheint das TV-Synchronisationsdeutsch von Kinderserien darzustellen. Es dürfte seitens der AdressatInnen auf relativ wenig Ablehnung stoßen, da es vielen Kindern vertraut ist; als Mittel zum Ausbau der Sprachkompetenz und der sprachlichen Sensibilität taugt es freilich wenig.
Bleibt als Erkenntnis, dass das Übersetzen von Kinderbüchern doch keine langweilige und leichte, sondern gerade im deutschen Sprachraum fast immer eine heikle, ja unmögliche Aufgabe ist. Ein deutschsprachiger Kinderbuch-Übersetzer wird sich gelegentlich an den guten Utopisten von José Ortega y Gasset (1937/1963) erinnert fühlen, und das ist eine Assoziation, die ihn einerseits vor Routine und andererseits vor Resignation bewahrt.