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5 Zusammenfassung und weiterführende Gedanken

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5.1 Eine kontinuierliche Tradition des Literaturübersetzens von Cicero über Bruni, Herder und Schlegel bis in die Gegenwart besteht in der rhetorischen Tradition, den literarischen Text als synthetische Einheit aus elocutio und darin suggerierter actio/pronuntiatio zu lesen. Dieser psychophysische Textbegriff (Kohlmayer 1997), der in Novalis’ „schriftlicher Stimme“ (Novalis 1976: 64) am prägnantesten formuliert wurde, ist in der jungen Übersetzungswissenschaft des 20. Jahrhunderts durch den Zerebralismus der vorherrschenden Theorien (Strukturalismus, Funktionalismus, Kognitivismus) verlorengegangen, gehört aber nach wie vor zum impliziten Wissen der Schriftsteller und guten Literaturübersetzer (vgl. Kohlmayer 2002). Eine realitätsnahe Theorie des Literaturübersetzens sollte für die Arbeitsweise der guten Literaturübersetzer empfänglich und relevant sein und kann vermutlich nur aus der Zusammenarbeit von Forschenden und Literatur-Übersetzenden entstehen (Buschmann 2015: 181f.).

5.2 Die in der jungen Übersetzungswissenschaft derzeit propagierte und registrierte Kreativität hat mit der mimetischen Kreativität des Literaturübersetzens wenig gemeinsam, da jene nur als punktuelles Textproblem identifiziert wird, während beim Literaturübersetzen die kreative Aufgabe in der ästhetischen Neugestaltung der gesamten elocutio samt actio/pronuntiatio besteht. Die translatorische Mimesis ist ein permanenter Zwang zur Kreativität; sie ist die Kunst der „geistigen Mimik“ (Novalis 1976: 115), und zwar eine gelehrte Kunst, da sehr viel sprachliches, ästhetisches und kulturelles Wissen dazu gehört (vgl. Kohlmayer/Pöckl 2004a).

5.3 Die „Angemessenheit“ oder „Akzeptabilität“ des kreativen Einfalls, die bei punktuellen Untersuchungen von Kreativität neben der „Neuheit“ als zweitwichtigstes Merkmal der Kreativität gilt (Kußmaul 2007: 17; Bayer-Hohenwarter 2012: 12),1 richtet sich bei der Übersetzung eines literarischen Textes nach der mimetischen Nähe zum Original. Wenn eine Übersetzerin eines literarischen Werkes sich auf ihre Verantwortung gegenüber irgendeiner Autorität außerhalb des Textes stützt (Religion, Ideologie, Politik, Publikum, Usus usw.), um ‚kritische‘ Passagen stillschweigend zu unterschlagen oder abzuschwächen, so führt diese Manipulation, wenn sie entdeckt wird, früher oder später unweigerlich zur Kritik durch die weltliterarische Öffentlichkeit, die unter dem Qualitätstitel ‚Übersetzung‘ immer die möglichst ehrliche Übermittlung der Originalstimme, nicht aber Bevormundung oder selbstständige Autorschaft erwartet.2 Die literarische Übersetzungskritik ist eine Aufgabe weniger der Übersetzungswissenschaft als der Literaturübersetzer selbst oder der mehrsprachigen Schriftsteller. Der gelehrten Kunst des Literaturübersetzens kann nur eine gelehrte Kunstkritik gerecht werden (vgl. Luhmann 1995: 462ff.).

5.4 Literaturübersetzer brauchen erhebliche sprachliche und literarische Kenntnisse. Dennoch lernt man das mimetische oder kreative Übersetzen, musische Begabung vorausgesetzt, (bisher) am sichersten durch das Vorbild guter Literaturübersetzer. Das macht die Selbstaussagen von Literaturübersetzern und das Studium ihrer Arbeitsweise so wertvoll. Die Ausbildung literarischer Übersetzer sollte gelehrten Könnern anvertraut werden, von denen natürlich auch die ‚normale‘ Übersetzerausbildung punktuell profitieren könnte, da Stil im Sinne der Rhetorik auch in nicht-literarischen Texten eine wichtige Rolle spielen kann.

5.5 Die Frage nach der Art, wie ein Text laut gelesen werden sollte („die schriftliche Stimme“), führt in den Kern der Frage, wie ein literarischer Text übersetzt werden sollte. Sprach- und kulturspezifische Hinweise auf die dem Text eingeschriebene Performanz ergeben sich einmal aus den Satzzeichen, die als rhetorische Markierungen zu verstehen sind, und aus den unterschiedlichen akustisch-semantischen Signalen, angefangen von den Grad- und Abtönungspartikeln bis zu den feinsten lexikalischen Nuancierungen (vgl. Kohlmayer 2004b). Es geht beim Lesen um Spuren-Lesen. Bei literarischen Texten gilt: Sag mir, wie du liest, und ich sage dir, wie du verstehst und übersetzt. Literatur ist der Versuch, mit allen Mitteln der Schriftlichkeit interessante menschliche Stimmen hörbar zu machen, auch über Jahrhunderte hinweg. Jedes literarische Buch ist ein „mündliches Buch“ (Novalis 1957: 340) und sollte in der Übersetzung ein Hör-Buch bleiben. Die individuelle akustische Form soll in der anderen Sprache „vivifiziert“ werden (Vgl. Fußnote 28).

5.6 Um die schriftliche Stimme aus einem Text herauszuhören, braucht der Leser laut Nietzsche, dem großen Meister und Theoretiker der Rhetorik, das „dritte Ohr“:

Welche Marter sind deutsch geschriebene Bücher für den, der das dritte Ohr hat! Wie unwillig steht er neben dem langsam sich drehenden Sumpfe von Klängen ohne Klang, von Rhythmen ohne Tanz, welcher bei Deutschen ein „Buch“ genannt wird! Und gar der Deutsche, der Bücher liest! Wie faul, wie widerwillig, wie schlecht liest er! Wie viele Deutsche wissen es und fordern es von sich zu wissen, daß Kunst in jedem guten Satze steckt – Kunst, die erraten sein will, sofern der Satz verstanden sein will! […] Man hat zuletzt eben „das Ohr nicht dafür“: und so werden die stärksten Gegensätze des Stils nicht gehört, und die feinste Künstlerschaft ist wie vor Tauben verschwendet. (Nietzsche 1958: 713; vgl. dazu Kohlmayer 1996: 75f.)

Vielleicht wird dieses innere Ohr für die Stimme im Text am effizientesten durch gut gelesene und bewusst gehörte Hörbücher geschult? Offensichtlich sind die universitären Hör-Säle bisher wenig auf lebendige Rhetorik eingestellt. Und die wachsende Digitalisierung scheint auch eher dem Zerebralismus zu huldigen, als die mündliche und schriftliche Stimme zu pflegen. Wenn die Übersetzungswissenschaft für das Literaturübersetzen fruchtbar werden will, muss sie noch viel von der Rhetorik lernen.

Kreativität und Hermeneutik in der Translation

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