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4 Nachahmung als hermeneutischer Zwang zu rhetorischer Kreativität

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Inwiefern kann man im relativ engen Spielraum der elocutio bzw. der „schriftlichen Stimme“ von übersetzerischer Kreativität sprechen? Der Übersetzer hat zum einen nur das Spielfeld der elocutio, zum andern ist er aber gezwungen, in seiner eigenen Sprache eine performative Ähnlichkeit zu erzeugen. Rhetorische Ähnlichkeit bedeutet, dass man versucht, die dem Text suggestiv eingeschriebene Performanz in der anderen Sprache erneut zum Leben zu erwecken. Der berufliche Zwang zur approximativen rhetorischen Ähnlichkeit ist gleichzeitig ein Zwang zur sprachlichen Kreativität, weil die Sprachen, Kulturen, Figuren, Räume und Zeiten nun einmal weit auseinanderklaffen, worüber endlos räsoniert werden könnte. Um die zahlreichen Widerstände (Kohlmayer 2010a: 149f.; 2012: 131–138, 143f.) optimal zu überwinden, muss man sich sehr viel einfallen lassen. Literaturübersetzen ist ein ständiges Ausprobieren von Möglichkeiten im Rahmen von erzähler- oder figurensprachlichen Grenzen und Gegebenheiten.

Der Übersetzer muss zunächst einmal die performative Gestaltung des Originals – „die schriftliche Stimme“ – erkennen, was ihm nur gelingt, wenn er den Hintergrund der Sprechweise möglichst deutlich durchschaut. Dies ist eine genuin hermeneutische Aufgabe; und die nötige Recherche bzw. das daraus resultierende Verständnis geht weit über das Spielfeld der elocutio hinaus und betrifft nicht nur den Bereich des Plots und der Figuren und ihrer Beziehungen, sondern den gesamten zeitlichen, sozialen und psychologischen Hintergrund des literarischen Textes. Es kommt zu Verstehens-Fragen wie: welche historische Gegebenheit, welcher soziale Status, welche Mentalität, welche Ideologie, welche Intelligenz, welche charakterliche Haltung, welches Selbstbild, welche Gefühlsregung, welche Einstellung zum Partner oder Leser usw. steckt hinter dieser Sprechweise? Mit diesen hermeneutischen Fragen, die das genaue Verständnis eines Wortes oder einer Passage mit der ganzen Welt eines Romans oder Dramas verknüpfen, begibt sich der Literaturübersetzer als recherchierender Leser eventuell auf einen sehr weiten Weg des Verständnisses. Frank Günthers ausführliche Kommentare zu seinen Shakespeare-Übersetzungen, Elisabeth Edls Kommentare zu ihrer Madame Bovary-Übersetzung (Hanser-Verlag 2012) zeigen die enorme Verstehensarbeit von literarischen Spitzenkräften, was aber von vielen weniger prominenten Literaturübersetzern ebenfalls geleistet wird, aber oft unerwähnt bleibt oder zu einem kurzen Nachwort zusammenschnurren muss. Für Literaturübersetzer gibt es im Grunde keine Grenze des Verstehens. Ein inhärentes ‚Problem‘ der Hermeneutik besteht nun einmal darin, dass hinter jedem Aha-Erlebnis neue Fragen und Hinterfragungen lauern. Wenn man beim Lesen einmal mit dem Befragen und Hinterfragen des Originals begonnen hat, wo soll man mit der Recherche aufhören? Das immer tiefere philologische oder gar philosophische Eintauchen in die Welt des Originals kann geradezu verhindern, dass eine literarische oder philosophische Übersetzung tatsächlich am Sprachufer gegenwärtiger Verständlichkeit landet, wie man bei Wilhelm von Humboldt und Schleiermacher oft genug sehen und hören kann (Kohlmayer 2015b: 119–121). Ich vermute, dass sowohl das Fehlen des mimetischen (künstlerischen) Einfühlungsvermögens, von dem Novalis spricht (siehe Fußnote 28), als auch der Überschuss des rein philosophisch-philologisch motivierten hermeneutischen Interesses zu einer erheblichen übersetzerisch-rhetorischen Lähmung und zu frustrierenden Unübersetzbarkeitserfahrungen führen kann.

Dennoch würde ich den hermeneutischen Explorationen von Schleiermachers Vorworten bis zu Frank Günthers Kommentaren keine spezifische Kreativiät (‚originell/kreativ recherchiert‘?) zubilligen. Die intelligente Suche nach Quellen und Dokumenten und nach hintergründigen Zusammenhängen ist, im Gegensatz zu den Suchbewegungen der Naturwissenschaft, weniger abhängig von technisch-kreativem Erfindungsgeist und raffinierten Entdeckungs-Methoden: Es ist normale Routineforschung, auch wenn das eigene Denken dadurch schöpferisch angeregt werden kann, wie etwa Derrida durch seine Husserl-Übersetzung. Man kann beim Verstehenwollen Bedeutungen und Zusammenhänge entdecken, aber man kreiert sie nicht. Ich bin mir aber bewusst, dass man darüber streiten kann.1 In jedem Fall gibt aber das hermeneutisch recherchierte Wissen ein Niveau vor, das dann beim Übersetzen in die Muttersprache nicht leichtfertig unterschritten werden kann. Das ausgangssprachlich angesammelte Wissen ist eine Art hermeneutisches Gewissen des Übersetzers. Noch genauer auf den Punkt gebracht: die Hermeneutik übt einen permanenten Druck aus, beim Übersetzen kreative rhetorische Lösungen zu finden, weil das hermeneutische Wissen das rhetorische Können herausfordert.

Die eigentlich kreative Arbeit des literarischen Übersetzers beginnt (meiner Meinung nach) erst bei der zielsprachlichen Neuformulierung – also bei der neuerlichen Stimmgebung. Und hier empfiehlt die rhetorische Tradition als Maßstab, Spielraum und Grenze der Kreativität seit Herder die Nachahmung der poetischen oder rhetorischen Form der Vorlage. Literarische Übersetzer haben dafür verschiedene Metaphern gewählt, die aber meistens dieselbe Art des mimetischen Engagements bezeichnen.2 Die Suche nach der mimetischen Entsprechung hat gewisse Ähnlichkeiten mit der Arbeit des Schauspielers, wenn er nach einer Möglichkeit sucht, einen Text stimmlich, gestisch, kinetisch optimal lebendig werden zu lassen.3 Das kontrollierende laute Lesen ist für den Übersetzer der ultimative Test, ob die neue „Stimme“ die angestrebte Originalnähe und ästhetische Qualität erreicht.

Wenn auch die subjektiv vernommene und reproduzierte „schriftliche Stimme“ als Kompassnadel oder Navigationsgerät des literarischen Übersetzers gelten kann, so bleibt die ständige Suche nach Aufhebung der sprachlichen und kulturellen Unterschiede dennoch eine außerordentlich vielfältige und schwierige Aufgabe. Die Übertragung von Wortspielen (vgl. Heibert 2015), von Dialekten (vgl. Kopetzki 2015: 81–84) und Soziolekten, von fremdsprachlichen Einsprengseln (vgl. Wright 2016: 136–156), von Komik (vgl. Kohlmayer 1996) usw. usf. gehören zu den vielen kreativen Routineaufgaben (!) von Literaturübersetzern, die immer nur in Kohärenz mit den schriftlichen Stimmprofilen der Erzähler- oder Figurensprache gelöst werden können. Eine zukünftige Poetik des Literaturübersetzens hätte u. a. die Aufgabe, die guten Lösungen bedeutender Übersetzer zu sammeln und zu analysieren. Ich will hier keinen Versuch einer solchen gewaltigen und höchst nützlichen Arbeit unternehmen, sondern zum Schluss nur noch ein weiteres praktisches Beispiel vorlegen, um zu zeigen, wie ein sprachmimischer Künstler ein schwieriges soziolektales Übersetzungsproblem kohärent gelöst hat.

Robert Gover veröffentlichte 1961 den Roman One Hundred Dollar Misunderstanding, der 1965 von Hans Wollschläger als Ein Hundertdollar Missverständnis ins Deutsche übersetzt wurde. In Govers Roman sprechen ein neunzehnjähriger amerikanischer College-Student aus bestem Haus und eine vierzehnjährige schwarze Prostituierte monologisch über das Missverständnis ihres Zusammentreffens, und zwar kapitelweise abwechselnd, sodass der Leser das pikante Ereignis zeitlupenhaft und aus doppelter sprachlicher Perspektive zu hören bekommt. Die Herausforderung für den deutschen Übersetzer bestand in der kohärenten Wiedergabe der kontrastierenden Stimmen und gegensätzlichen Welten des Romans. Der reichlich weltfremde Schnösel, ein Muster an sozialer Arroganz, beginnt das erste Kapitel so:

Immediately, right off the bat, without further ado, here and now, I wish to say that much of what happened to me that fateful weekend is completely unprintable, since it happened with a lady (colored) of ill repute. So all pornography-seekers are warned to seek elsewhere. I wish to make that point quite clear before proceeding further. (Gover 2005: 23)

Dieser Sprachduktus setzt einer analogen Wiedergabe im Deutschen keinen besonderen Widerstand entgegen; er ist gekennzeichnet durch elaborierte, tautologische Sprache, durch Bildungs- und Oberschichtwortschatz, durch emphatische Zurückweisung jeder Kritik an der eigenen Person und puritanisch-snobistische Distanzierung von der Welt der schwarzen Prostituierten, die ja am anderen, nämlich unteren Ende der Gesellschaft lebt. Wollschläger setzt die entsprechenden soziolingualen und rhetorischen Signale:

Bevor ich unverzüglich zur Sache komme, klipp und klar heraus, hier und jetzt und ohne weitere Umstände, möchte ich darauf hinweisen, daß die Ereignisse, die mir an jenem verhängnisvollen Wochenende widerfuhren, zum großen Teil im Druck ganz unmöglich wiederzugeben sind, weil sie mit einer (farbigen!) Dame von übler Reputation in Zusammenhang stehen. Somit kann ich nur all denjenigen, welche auf Pornographie kapriziert sind, von diesbezüglicher Suche abraten; sie wäre vergeblich. Ich wünsche diesen Punkt völlig klargestellt zu sehen, bevor ich des weiteren zu berichten fortfahre. (Gover 1965: 7)

Vielleicht übertreibt Wollschläger den umständlich-hochtrabenden Ton des jungen Mannes, wodurch der deutsche Text über ein Drittel länger und erheblich elaborierter wird als das Original, aber das akustische Profil ist insgesamt gut nachgeahmt bzw. im Deutschen neu geschaffen. Die größere sprachliche Herausforderung ist der Jargon der 14jährigen schwarzen Prostituierten, die in Aussprache, im deftigen Wortschatz, in der reduzierten Grammatik eine extreme Gegenstimme zu dem ehrpusseligen jungen Mann darstellt. Es war vor allem wohl die deftige Mündlichkeit dieser Figur, die das Buch zu einem Kultbuch machte.4 Ihr Erzählbeginn im 2. Kapitel lautet folgendermaßen:

Here goes me, I’m in the big chair. In come this trick by hiss-eff. College Joe. I kin tell them anywhere. She-it! This one walk like he ain got no toes. Jittery? Kee-ryess is he jittery.

Jackie an Carmie upstairs wiff two tricks jes come in a minit fore this one. On’y hiyellas leff is Flow an Francine, so I spect this mothah gonna go up wiff Flow. (Gover 2005: 36)

Für den Slang der schwarzen Prostituierten bietet sich im Deutschen kein vorhandener Jargon an. Also kreiert Wollschläger eine defiziente Sprechweise, die es im Deutschen gar nicht gibt, die er aber in allen zehn Kapiteln konsequent beibehält, so dass das rhetorische Gegeneinander der Stimmen und Milieus für den deutschen Leser zum kohärenten Hörerlebnis werden kann.

Da bin ich also, sitz in dem großn Sessel, und rein komm dieser Kunde ganz von alleine. Is n Kollitsch-Heini. Die erkenn ich auf Anstich.

So n Scheiß! Der wakkel da lang wie ohne Zehen. Bibberich? Kührijeminee, is der bibberich!

Jackie un Carmie sind obn mit swei annern Kundn, wo grad ne Minute vor dem da gekomm. Sin jetz bloß noch swei da von den Halbbluts, Flow un Francine, un denk mir, der Sack da geht wohl mit Flow rauf. (Gover 1965: 23)

Auch hier könnte man sicher das eine oder andere kritisieren, z. B. dass Wollschläger die Sprachbrocken kohärenter5 und rhythmisch flacher macht, oder dass er die doppelte Verneinung („ain got no toes“) wegkorrigiert (warum nicht: „wie mit ohne Zehen“?). Aber die angedeuteten Aussprachemängel oder ‑schlampereien („swei“, „annern“), die dilettantischen Schreibungen („Kollitsch“, „Kührijeminee“), die abweichende („komm“, „wakkel“, „gekomm“, „Halbbluts“) oder auch umgangssprachliche Grammatik („Kundn, wo“), das Vulgärdeutsch („Sack“), die gut erfundenen Redewendungen („auf Anstich“), die dialektnahe Lexik („bibberich“) folgen insgesamt dem Konzept, die Slang-Mündlichkeit der Figur lebendig nachzuahmen. Der Übersetzer hat die zwei Kontrast-Stimmen aus dem Deutschen heraus neu kreiert, was bei dem ‚akademischen‘ Sprecher sicher einfacher war als bei der Neu-Erfindung der Stimme vom unteren Rand der Gesellschaft.

Entscheidend für die Kreativität des Literaturübersetzers ist also offensichtlich nicht die Häufigkeit von einzelnen ‚kreativen‘ Einfällen, sondern das Verstehen und kohärente Neuerfinden der schriftlichen Stimmen, was bei jedem literarischen Text eine neue und individuelle Herausforderung darstellt. Die Kreativität beim Literaturübersetzen ist prinzipiell nichts Punktuelles, sondern etwas Konzeptuelles. Sie setzt voraus, dass man die ästhetische Struktur und Qualität der Vorlage durchschaut und sprachliche Mittel findet, diese in der Übersetzung möglichst zu erhalten. Dabei dient die schriftliche Stimme – von Herder über Schlegel bis heute – als kohärentes tertium comparationis.

Kreativität und Hermeneutik in der Translation

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