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4 Sprachgefühl 4.1 Annäherung an einen umstrittenen Begriff
ОглавлениеMit dieser Frage der jungen Leserin kommen wir nun zum zentralen Punkt unserer Überlegungen. Wissen Verfasserinnen und Verfasser von Kinderliteratur, wie ihre Heldinnen und Helden „in Wirklichkeit“ reden? Findet sich eine achtjährige Grundschülerin in der gleichaltrigen Hauptfigur wieder? Das gilt natürlich in gleichem Maß für Originale wie für übersetzte Werke, denn wir haben es ja mit Texten zu tun, bei denen die „performative Unauffälligkeit“ (Heller 2013) zur elementaren Rezeptionsbedingung gehört; das heißt, das Translat wird nicht als Translat wahrgenommen und schon gar nicht als solches reflektiert.
Wenn Radegundis Stolze in ihrem Einführungswerk in den hermeneutischen Ansatz demonstrieren will, was für „vielfältiges sprachliches Wissen“ (Stolze 1992: 272) zum Handwerkszeug des kompetenten Übersetzers gehört, ruft sie als Theoretiker Mario Wandruszka und dessen Konzept der muttersprachlichen Mehrsprachigkeit (Wandruszka 1979: 13ff.) auf und bemüht als Praktiker den renommierten Übersetzer Curt Meyer-Clason, der die ganze Bandbreite dieser innersprachlichen Mehrsprachigkeit durch Aufzählung von VertreterInnen diatopischer und diastratischer Varietäten eindrucksvoll (und wohl auch ein wenig großsprecherisch) vorführt:
Im Kopf muß das vorhanden sein, womit der Übersetzer arbeitet: vor allem seine Sprache, die Sprache von Vater und Mutter, seiner Geschwister, die Sprache vieler Menschen und Gesellschaftsklassen, seines Landes, seiner engeren Heimat mit ihrem Tonfall, Dialekt, Jargon, Slang. Der Übersetzer muß also im Ohr gespeichert haben, wie ein Handwerker, ein Hilfsarbeiter, ein Bürger der Vorkriegs- und Nachkriegszeit spricht, ein Beamter, ein Landedelmann aus dem Bayerisch-Österreichischen etwa, wie ein Hochschullehrer, ein Schulmann, wie ein Griechenschwärmer oder ein Atomkraftgegner redet, er muß die Suada der Medienarbeiter kennen, aber auch den Tonfall der Toilettenfrau in den Residenzstuben. (Zit. nach Stolze 1992: 272)
Und da Meyer-Clason offenbar bemüht war, nichts auszulassen, was je an Anforderungen an ihn gestellt wurde oder hätte gestellt werden können, fragt man sich, ob denn niemals in den vielen Werken, die er übersetzt hat, ein sprechendes Kind vorgekommen ist, dessen Tonfall im Ohr zu haben nötig gewesen wäre, um seine Äußerungen glaubwürdig wiederzugeben.
Niemand unter den deutschsprachigen Übersetzungswissenschaftlern hat nachdrücklicher als Rainer Kohlmayer betont, dass der Übersetzer sich in seine Figuren einfühlen müsse: „Das Einfühlungsvermögen ist die unhintergehbare Voraussetzung des Verstehens“ (Kohlmayer 2004: 23). Er hat als Theaterübersetzer und Theaterpraktiker naturgemäß primär Bühnenfiguren vor seinem geistigen Auge, aber viele seiner Forderungen lassen sich getrost verallgemeinern und sind auch so gemeint:
Die Originalfiguren haben als ästhetische Schöpfungen des Autors ein Recht auf ihre möglichst authentische Stimme und Sprache. Der Literaturübersetzer übersetzt nicht ‚Text‘, sondern Menschen und menschliche Stimmen. (Kohlmayer 2004: 19)
Dabei gesteht Kohlmayer dem Übersetzer zu, dass ihm die Empathie, die Einfühlung nicht die gesamte Figur in all ihren Facetten erschließt. Deswegen müsse die Fantasie, die er als „Fähigkeit zur emotionalen Hypothesenbildung“ (Kohlmayer 2004: 25; Kursivsetzung im Original) versteht, einspringen und weiterhelfen. Da solche Hypothesen in Bezug auf literarische Figuren nie auf ausreichend abgesicherte Indizien gestützt werden können, also im Stadium der Abduktion bleiben, wird vom Übersetzer Kreativität gefordert: „Der Begriff der ‚Kreativität‘ in der Übersetzungswissenschaft, wenn er nicht auf der Ebene eines Modebegriffs bleiben soll, müsste folglich als abduktive Kompetenz beschrieben werden“ (Kohlmayer 2004: 25; Kursivsetzung im Original).
Kohlmayer, der „der emotionalen Blindheit zerebraler Translationstheorien“ (Kohlmayer 2004: 25) das Einfühlungsvermögen entgegensetzt, fordert hier etwas, was in der translationsdidaktischen Fachliteratur wenig thematisiert wird, um es vorsichtig auszudrücken. Das bedeutet nun allerdings – ich kann das aus eigener Erfahrung behaupten – keineswegs, dass in praktischen Übungen, wenn es um ästhetisch geformte bzw. fiktionale Texte geht, das Hineindenken in Handeln und Sprechen von Figuren eine untergeordnete Rolle spielen würde. Im Gegenteil: Gerade wenn es um direkte Rede geht, sind die Studierenden oft recht unterschiedlicher Meinung darüber, wie denn nun die authentischste Äußerung einer Figur in einer bestimmten Situation lauten müsse. Nach längeren und manchmal ergebnislosen Diskussionen werden auch verschiedentlich Stimmen laut, die nach Anleitungen verlangen. Es müsse doch wissenschaftliche Literatur geben, aus der man lernen könne, was man bislang offenbar nicht richtig beherrsche. Andererseits verhärten sich die Positionen auch im Zug der Diskussion, wobei die Berufung auf das eigene Sprachgefühl eine zentrale Rolle zu spielen pflegt.
Solche Auseinandersetzungen, die nicht mit einem Kompromiss enden, auf den sich schließlich und endlich – und nicht vollends überzeugt – alle einigen, gehören zu den Glücksmomenten der Didaktik. Es genügt meistens, die Studierenden selbst zu der Einsicht kommen zu lassen, dass sich ihr eigenes Sprachgefühl in unterschiedlichen Regionen, in unterschiedlichen Milieus, durch unterschiedliche Lektüreerfahrungen und – was man leicht vergisst – durch unterschiedliche Nutzung der sozialen Medien herausgebildet hat. Dennoch sollten sich Gelegenheiten ergeben und wahrgenommen werden, über das Sprachgefühl und seine Bedeutung für ÜbersetzerInnen nachzudenken. Sowohl in der Sprach- als auch in der Übersetzungswissenschaft begegnet man dem Begriff selten. Das Sprachgefühl hatte einen kurzen öffentlichen Auftritt, nachdem im Jahr 1980 die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung die Preisfrage gestellt hatte: „Ist Berufung auf das ‚Sprachgefühl‘ berechtigt?“
Rufen wir uns in Erinnerung, warum wir überhaupt auf das Problem des Sprachgefühls gestoßen sind. Es ging darum, für Äußerungen (insbesondere in direkter Rede) einen möglichst lebensnahen, glaubwürdigen Ausdruck zu finden. Und entsprechend unserem Thema wollen wir uns im Besonderen die diesbezügliche Aufgabe einer Übersetzerin oder eines Übersetzers von Kinderbüchern vergegenwärtigen.
Sind die von der Akademie publizierten Antworten (Gauger et al. 1982) der Autoren (es sind sämtlich Männer) hilfreich, speziell im Hinblick auf unsere Thematik?
Die preisgekrönte Schrift (Gauger / Oesterreicher 1982) verengt den Horizont von Anfang an auf die transregionale Norm und auf die Dichotomie ‚richtig‘ vs. ‚falsch‘: „Die Berufung auf Sprachgefühl kann ja, offensichtlich, nur berechtigt sein, wenn es Gründe gibt, im Sprachgefühl einen verläßlichen Zeugen für Sprachrichtigkeit zu erblicken“ (Gauger / Oesterreicher 1982: 14). Soll das heißen, dass es in Bezug auf Dialekte oder sprachlichen Substandard kein Sprachgefühl – oder um ganz fair zu bleiben – keine berechtigte Berufung auf das Sprachgefühl gibt? So ist es, sagt Gauger, denn Dialekte sind nicht normiert, also fehlt der Maßstab für die Beurteilung der Richtigkeit.
Die Antwort von Helmut Henne wird ÜbersetzerInnen mehr Zustimmung entlocken. Henne bringt das Konzept der innersprachlichen Mehrsprachigkeit (ohne speziell auf Wandruszka zu verweisen) ins Spiel und sieht ganz realistisch, dass man rückfragen müsse: „Sprachgefühl in welcher Sprache? Wird nicht die Mehrzahl der Deutschsprachigen mehrere Varietäten teilweise sprechen und teilweise verstehen?“ (Henne 1982: 104), um danach zu schildern, wie sich Studierende an der Universität nach und nach die Praktiken des akademischen Diskurses aneignen müssen.1
In Übersetzungen steht man viel öfter als vor einem Urteil über ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ vor der Frage, ob eine Formulierung ‚angemessen‘ ist oder nicht. Angemessen für welche Person, für welche Situation? Hier haben ÜbersetzerInnen von Kinder- und Jugendbüchern vielfach ständig Entscheidungen jenseits übersetzerischer Routinen zu treffen.