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1 Ist translatorische Kreativität ein punktuelles Phänomen?
ОглавлениеDie Selbstverständlichkeit, mit der in der Gegenwart Kreativität angeboten und nachgefragt wird, hat etwas Diffuses, denn schließlich erlangte der Begriff erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ausgehend von den USA, seine unwiderstehliche Popularität.1 Unter dem Stichwort ‚Kreativität‘ findet man im Historischen Wörterbuch der Philosophie von 1976 noch folgende Merkmalbeschreibung:
Relative Übereinstimmung besteht, daß folgenreiche Produkte, die bezüglich des Erwartungssystems der sie auswertenden Gruppe neu sind und dieses Erwartungssystem modifizieren, Anspruch auf den Titel „kreativ“ haben. (Ritter/Gründer 1976, Bd. 4: 1194f.)
Aus der anspruchsvollen Merkmalliste – folgenreich, neu, systemverändernd – ist im heutigen Alltagsverständnis nur noch das Merkmal neu erforderlich, und zwar im Sinne einer Fähigkeit oder eines Produkts, auf einem x-beliebigen Gebiet Neues bzw. Innovatives zu bieten. Die schöpferische Kraft, die seit der Renaissance das ‚Genie‘ der großen Künstler und genialen Erfinder auszeichnete (und bis heute im nichtssagenden Klischee der ‚kongenialen‘ Übersetzung weiterlebt), ist – in kleiner Münze – zu einem festen Bestandteil unseres demokratischen Menschenbildes in der kapitalistischen Marktwirtschaft geworden. Habe den Mut, kreativ zu sein ist auch in der jungen Übersetzungswissenschaft zum Motto der Ausbilder geworden. Die bisherigen Wertmaßstäbe (Treue, Äquivalenz, Adäquatheit, Kompetenz usw.) wurden inzwischen vom pfiffigeren Leitbegriff Kreativität überholt. Hätte man in der obigen Merkmalbeschreibung von 1976 an Stelle von ‚Produkte‘ das Wort ‚Übersetzungen‘ eingefügt, wären höchstens ein Dutzend großer deutscher Übersetzungsleistungen in den Genuss des Prädikats ‚kreativ‘ gekommen, aber sicher keine schlauen Lösungen von Übersetzungsproblemen in Zeitungs- oder Fachübersetzungen, wie das heute (mit einem gewissen Recht) reklamiert wird. In seinem beliebten Ratgeberbuch Kreatives Übersetzen schreibt Kußmaul, die übersetzerische Kreativität, die er als besonderes Qualitätsmerkmal (und als Gegenbegriff zur bloßen Routine) versteht, zeige sich bereits dort, wo aufgrund der Sprachverschiedenheiten eine nicht-wörtliche Wiedergabe gewählt würde (Kußmaul 22007: 13); folglich sei das Übersetzen eine „höchst kreative Tätigkeit“ (Kußmaul 22007: 16). Kußmaul hat jedoch eine ausgesprochen punktuelle Vorstellung von übersetzerischer Kreativität.2 So zitiert er August Wilhelm Schlegels Übersetzung jener Stelle des Hamlet-Monologs, wo „sicklied o’er“ mit der Wortschöpfung „angekränkelt“ wiedergegeben wird, was ihm besonders kreativ vorkommt und den „Kern“ seiner Vorstellung von einer „kreativen Übersetzung“ betreffe (Kußmaul 22007: 30f.). Aber hat Schlegel gerade hier nicht besonders wörtlich übersetzt?3 Wie Shakespeare die Wortbildungsmöglichkeiten des Englischen ausreizt, so beutet Schlegel die Wortbildungsmittel des Deutschen aus und kreiert analog zum Wortbildungsmuster von angegilbt, angeglichen, angegraut, angeheitert, angewärmt usw. sein „von des Gedankens Blässe angekränkelt“. Wird aber wirklich der „Kern“ der literatur-übersetzerischen Kreativität erfasst, wenn der Übersetzer punktuell eine analoge Wortbildung wählt? Hätte Schlegel eine andere lexikalische Lösung gewählt oder kreiert (infiziert, angesteckt, angeschminkt, angebleicht, angeschwächelt usw.), wäre dann seine Hamlet-Übersetzung weniger kreativ?
Die Literaturübersetzer gehen mit dem positiven Prädikat ‚kreativ‘ (bisher) etwas zurückhaltender um. Symptomatisch ist da vielleicht der untertreibende Buchtitel Gutes Übersetzen. Neue Perspektiven für Theorie und Praxis des Literaturübersetzens, hrsg. von Albrecht Buschmann (2015).4 Dass gutes/kreatives Übersetzen von Literatur keinesfalls nur mit einzelnen schwierigen Stellen und punktuellen Lösungen, wie Kußmaul sie in unermüdlicher Genauigkeit bespricht und Bayer-Hohenwarter sie in aufwendigen Verfahren misst und sortiert, gleichzusetzen ist, kommt mir als Literaturübersetzer und Übersetzungstheoretiker offensichtlich vor. Kreatives Literaturübersetzen hat auch mit lebendiger Mündlichkeit, mit Performanz, mit Einfühlungsvermögen, mit ästhetischer Kompetenz, mit Mimesis, mit Kunst zu tun, mit Gesichtspunkten jedenfalls, die bei Kußmaul und Bayer-Hohenwarter, die sich ja auf die Auswertung von Think-aloud-Protokollen ihrer Studierenden beschränkten, gar nicht vorkommen können.5 Im Folgenden soll daher über die kreativen Spielräume beim Literaturübersetzen weniger punktuell nachgedacht werden, wobei wir uns von der Rhetorik leiten lassen.
Dass Rhetorik und Übersetzen seit Ciceros „ut orator“ enge Verwandte sind, ist allgemein bekannt;6 aber der Begriff ‚Kreativität‘ oder ‚Originalität‘ spielt in der Rhetorik keine Rolle; das Stichwort fehlt daher auch im zwölfbändigen Historischen Wörterbuch der Rhetorik. In der deutschen Literatur der Neuzeit wurde die Rhetorik niemals mit Originalität und Innovation assoziiert, eher mit dem Gegenteil, also mit klischeehaften und einengenden Vorschriften, die man bei der Herstellung einer Rede oder eines Textes zu beachten hätte. Die Schubladen und Schemata der rhetorischen Mittel und Techniken schienen die kreativen Einfälle eher abzuschrecken als aufzuwecken. Man braucht nur an die Rebellion des Sturm-und-Drang zu denken, als in einer antirhetorischen Kulturrevolution der traditionelle lateinische Rhetorikunterricht kulturpatriotisch abgewertet wurde, und zwar unter Berufung auf Natürlichkeit und Originalität (wie man dies in der gefälschten Ursprünglichkeit des Ossian zu erkennen glaubte). Dass der damals als naturwüchsiger Barde gepriesene Shakespeare schon bald als Rhetorikexperte entdeckt wurde, zeigt jedoch, dass Rhetorik und Originalität keine Gegenbegriffe sind. Die kurze antirhetorische Rebellion des 18. Jahrhunderts beruhte auf einem gravierenden Missverständnis. Man deutete das rhetorische System als einengendes System von Vorschriften, woran in vielen Fällen die Drill-Methoden des damaligen lateinischen Rhetorikunterrichts schuld gewesen sein könnten. Fragen wir also, wo im Rahmen der gegenwärtigen Rhetorik die damals geforderte ‚Originalität‘ bzw. die heute erforderliche ‚Kreativität‘ angesiedelt sein könnte, wobei es uns letztlich um die spezifische Kreativität beim Literaturübersetzen geht. Wo liegen die Möglichkeiten der Übersetzer‚ ‚Innovatives‘, ‚Neues‘, ‚Kreatives‘ zu produzieren?7