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3.1 Giacomo Leopardi

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Das folgende Gedicht figuriert seit der Werkausgabe von 1835 als Nummer XXXV in Leopardis Canti:

Imitazione

Lungi dal proprio ramo,

povera foglia frale,

dove vai tu? – Dal faggio

là dov’io nacqui, mi divise il vento.

Esso, tornando, a volo

dal bosco alla campagna,

dalla valle mi porta alla montagna.

Seco perpetuamente

vo pellegrina, e tutto l’altro ignoro.

Vo dove ogni altra cosa,

Dove naturalmente

Va la foglia di rosa,

E la foglia d’alloro.

Es handelt sich um die Nachdichtung – als poeta doctus hat Leopardi den Titel Imitazione sicher bewusst gewählt – einer „Fabel“ des heute fast völlig vergessenen Lyrikers, Dramatikers und (vor allem) Politikers Antoine-Vincent Arnault (1766–1834):

La Feuille

De la tige détachée,

pauvre feuille desséchée,

où vas-tu ? – Je n’en sais rien.

L’orage a brisé le chêne

qui seul était mon soutien.

De son inconstante haleine,

le zéphir ou l’aquilon

depuis ce jour me promène

de la forêt à la plaine,

de la montagne au vallon ;

je vais où le vent me mène

sans me plaindre ou m’effrayer ;

je vais où va toute chose,

où va la feuille de rose

et la feuille de laurier.

Leopardi soll diesen Text im Jahre 1818 in einer Zeitschrift gelesen und angeblich nichts über den Verfasser gewusst haben. So geriet er gar nicht erst in Versuchung, die für zeitgenössische französische Leser unmittelbar zu entschlüsselnden biographischen Anspielungen auch in seiner Nachdichtung erkennbar zu machen: Bei der geborstenen Eiche handelt es sich um Napoleon, nach dessen Sturz sich der Dichter für einige Zeit ins Exil begeben musste.

Ein gewissenhafter Vergleich der beiden Texte ist im Rahmen eines kurzen Aufsatzes nicht möglich; einige generische Hinweise müssen genügen: Einer metrisch relativ strengen Vorlage mit einem ziemlich komplizierten Reimschema, bei dem die Alternanzen zwischen männlichem und weiblichem Reim viel zur Wirkung beitragen, steht eine um zwei Verse verkürzte ‚freie‘ Strophe gegenüber, in die sich endecasillabi (Verse 4, 7, 9) ähnlich wie unregelmäßig auftretende Reime gewissermaßen ‚beiläufig einschleichen‘. Der Wechsel von der martialischen Eiche zu der mit weniger Konnotationen behafteten Buche trägt mit dazu bei, der imitatio einen im Vergleich zur Vorlage nüchterneren und intimeren Charakter zu verleihen.

Das muss zur Charakterisierung genügen. Wichtiger sind in dem Zusammenhang, um den es hier geht, die äußeren Umstände. In der Literatur zu Leopardi wird der Titel imitazione öfter mit Verwunderung zur Kenntnis genommen. Warum hat er nicht einfach von ‚Übersetzung‘ gesprochen? Das scheint darauf hinzudeuten, dass zumindest den späteren Kritikern der rhetorisch-poetische Fachausdruck nicht mehr geläufig war. Hätte Leopardi sein Gedicht unter dem Titel traduzione in die Ausgabe seiner Canti aufnehmen können? Wohl kaum. Es musste schon im Titel darauf hingewiesen werden, dass es sich um einen Text handelt, der als eigenständiges Werk des Verfassers gelten darf. Noch heute gibt es in der Rechtsprechung eine klar ausgeprägte Tendenz, nur ‚freie‘ Übersetzungen als schutzwürdiges geistiges Eigentum anzuerkennen (vgl. Körkel 2016). In einer Ausgabe ausgewählter Werke von Leopardi in deutscher Übersetzung findet sich auch die Imitazione unter dem Titel Nachahmung (Leopardi 1978: unpaginiert = 262–263). Die französische Vorlage wurde immerhin mit abgedruckt. Hätte die „Übersetzung einer Übersetzung“ dort Platz finden können?

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