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2.1 Die Rhetorik als Lehrmeisterin der Übersetzung: Texttypologie und Übersetzungsstrategie
ОглавлениеDie Überzeugung, dass die beim Übersetzen anzuwendende Strategie vom Typ des zu übersetzenden Textes abhängt, gilt gemeinhin als Erkenntnis der neueren Übersetzungswissenschaft; sie gehörte jedoch bereits in der Antike zum festen Inventar rhetorischer Lehrmeinungen. Zugrunde lag eine nicht ganz leicht nachzuvollziehende Unterscheidung von res und verba, die sich in derjenigen zwischen figurae elocutionis und figurae sententiae widerspiegelt (vgl. Lausberg 1963: 81–154). Die einen sind dem Bereich der elocutio, die anderen dem der inventio zuzuordnen, doch müssen auch die „Gedankenfiguren“ im Rahmen der elocutio behandelt werden, da sie ebenfalls durch Wörter ausgedrückt werden. Der Unterscheidung zwischen res und verba entspricht derjenigen von unterschiedlichen Texttypen (materiae oder auctores), die besonders klar von Pierre-Daniel Huet (1630–1721) ausgearbeitet wurde. Er korreliert die auctores mit den drei ersten Produktionsstadien der Rede: Die historici berichten über tatsächlich vorgefallene Ereignisse, bei ihnen hat der Übersetzer die inventio und die dispositio zu bewahren, bei der elocutio hat er freie Hand. Bei den rhetores und den poetae geht es in erster Linie um den sprachlichen Ausdruck; er muss im Rahmen der elocutio unter Beachtung der Angemessenheit (aptum) besonders sorgfältig übertragen werden (vgl. Rener 1989: 182–257; Schneiders 1995: 55). Ein gutes Jahrhundert früher hatte Juan Luis Vives eine auf den gleichen Prinzipien beruhende, jedoch subtilere Typologie vorgeschlagen. Er unterscheidet (im Hinblick auf die Übersetzung):
Texte, bei denen es nur auf den allgemeinen Inhalt ankommt ([ubi] solus spectatur sensus);
Texte, bei denen es vor allem auf die Formulierung ankommt (sola phrasis et dictio);
Texte, bei denen es auf beides ankommt (ubi res et verba ponderantur).
(Vgl. Vives 1993 [1532]: 232; Coseriu 1971: 573).
Selbstverständlich spielt die „Dreistillehre“ (genera elocutionis oder dicendi) auch bei der Behandlung der Übersetzung innerhalb der Rhetorik eine Rolle. Der Übersetzer hatte darauf zu achten, in welchem genus (humile, medium oder sublime) sein Text abgefasst war und dementsprechend zu verfahren. Dabei wurde manchmal die Grenze der Einzelsprachen überschritten: Im Zeitalter des „vertikalen“ Übersetzens wurde ein descensus, z. B. eine Übersetzung vom Lateinischen ins Deutsche, als Gattungswechsel betrachtet; der deutsche Text gehörte notwendigerweise dem genus humile an (vgl. Albrecht 2011: 2596).