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2.1 Inventio

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Bei der ‚kreativen‘ (Er-)Findung des Stoffes entsteht ein neuer Plot mit neuen Figuren und neuen Situationen. Die Suchformeln der Rhetorik können als Aufforderungen zur kreativen Erfindung benutzt werden. Denn man braucht ja die Fragen „quis“ oder „quid“ usw. nur auf die eigene Person oder Gegenwart oder auf eine Zeitungsmeldung zu beziehen1 – und schon hat man den ersten Schritt zur Erfindung nie zuvor literarisierter Personen und Ereignisse getan. Beispiele für besonders neue und folgenreiche Plots sind etwa Goethes Werther oder Wedekinds Frühlings Erwachen. Dass sich Werther aus Liebe ausgerechnet an Weihnachten (dem Fest der Liebe) selbst tötet, war eine ungeheure literarische Tat – etwas radikal Neues, wozu Goethe anscheinend durch den Selbstmord eines juristischen Kollegen und seine eigene Liebe zu Lotte, deren Namen er sogar unverschlüsselt stehenließ, angeregt wurde. Wedekinds Frühlings Erwachen präsentierte sexuell erwachende Kinder als Opfer einer verknöcherten Gesellschaft, was als schockierend empfunden wurde; auch Wedekind verarbeitete unter anderem einen Selbstmord aus seiner Schulzeit.

Die (Er-)Findung einer Geschichte, von Figuren und Situationen gehört zweifellos zum kreativen Kerngeschäft der Schriftsteller. Wer Literatur produzieren will, muss in einem ganz einfachen Sinn etwas Neues zu bieten haben, auch wenn das Muster der Fabel (Ödipus, Odyssee usw.) als Palimpsest mehr oder weniger deutlich erkennbar ist.2 Dass dabei selbst in der radikalsten Innovation immer auch Konventionelles und Traditionelles beibehalten und weitergegeben wird, ist selbstverständlich. Nicht alles kann neu sein, sondern nur bestimmte Züge des Werkes. Goethes Werther bleibt im konventionellen Rahmen des Briefromans; ebenso bleibt Wedekinds Kinder-Tragödie in mancherlei Hinsicht ein konventionell gebautes Drama. Man darf behaupten, dass man vom typischen Schriftsteller Innovatives auf der Ebene der inventio (Thematik, Plot, Raum, Zeit, Personen) erwartet. Vom typischen Übersetzer dagegen nicht. Das unterscheidet ihn vom Schriftsteller und vom Bearbeiter. Der Übersetzer braucht auch – trotz aller Empathie – nicht die Konflikte und Strapazen zu erleiden, die den biografischen Hinter- oder Untergrund vieler literarischer Werke bilden. Der Autor ‚übersetzt‘ Erlebtes und Erfundenes in Sprache, der Übersetzer übersetzt Gelesenes einfühlsam in eine andere Sprache.

Kreativität und Hermeneutik in der Translation

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