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2.3 Elocutio
ОглавлениеKreativität wird hier gesehen als Innovation der Sprech- oder Erzählweise. Dies ist wohl die wichtigste Baustelle der schriftstellerischen Kreativität. Erst durch die stilistisch gute oder innovative Schreibweise wird der Plot und seine jeweilige Struktur zu einem starken Text. Der eigene, womöglich unverwechselbare Stil ist nicht nur eine der Besonderheiten der großen Schriftsteller, sondern auch das Wunschziel aller literarisch Schreibenden. Dieser eigene Ton des Erzählers oder die präzise herausgearbeiteten Stimmen der Roman- oder Dramen-Figuren sind die Synthese des gesamten kreativen Schreibprozesses, weil hier auch schon die letzte Stufe des rhetorischen Produktionsprozesses – die actio und pronuntiatio des Lesens – möglichst vorauskalkuliert wird.1 Auf dieser Stufe der Ausarbeitung wird die eigentliche literarische Arbeit geleistet. Ein Plot ist relativ leicht zu finden; kann doch bereits ein aufwühlendes Ereignis oder eine Zeitungsnachricht die wichtigsten Anhaltspunkte liefern (wie oben bei Goethe, Wedekind, Dörrie angemerkt). Die Innovation der genretypischen Gliederung kommt vermutlich seltener vor, da die Gattungen hier oft recht starre Muster vorschreiben. Am schwersten ist es sicher, auf der synthetischen Stufe der elocutio den Erzähler oder die Figuren lebendig und unverwechselbar, d. h. auf dem literarischen Markt als neu erscheinen zu lassen, wie man aus Stoßseufzern von Schriftstellern weiß (siehe z. B. „nerve-wracking“ in Fußnote 8). Die Mühsal des Formulierens ist die Stufe, wo sich der eigentliche kreative Anspruch des Schriftstellers bewähren muss. Und hier ist auch die Stufe erreicht, wo man von übersetzerischer Kreativität sprechen kann, darf oder gar muss.
Dagegen lassen sich mindestens zwei Einwände erheben. Einmal ist jede Übersetzung in einem trivial-materiellen Sinn ein neues Produkt, und absolut jeder Übersetzungsvorgang ist ein Beweis für die sprachliche Kreativität des Menschen.2 Ich bezweifle aber, dass man schon für jede sprachliche Transferleistung den Begriff ‚kreativ’ als positives Qualitätsmerkmal (als Werturteil im Sinne von gut/originell usw.) verwenden sollte, weil der Begriff damit auch auf banalste Routineformeln zuträfe, z. B. auf die Ersetzung von „Bonjour“ durch „Guten Tag“. Es gibt sogar literarische Übersetzungen, die so weit hinter dem ästhetischen Anspruch des Originals zurückbleiben, dass man ihnen keine Kreativität zuerkennen sollte, auch wenn darin einzelne Übersetzungsprobleme durchaus kreativ gelöst wurden; wie es umgekehrt vorkommt, dass eine Übersetzung insgesamt ästhetisch gelungen ist, auch wenn sie einzelne Fehler und Mängel enthält. Hier liegt einer der Stolpersteine einer relevanten literarischen Übersetzungskritik.3 Kurzgesagt: Es kommt beim Literaturübersetzen gerade nicht nur auf die Lösung punktueller Schwierigkeiten an, sondern auf das Konzept des Ganzen. Literaturübersetzen ist, auch wenn es anscheinend nur die lineare Abfolge der elocutio-Stufe betrifft, eine synthetisch-ganzheitliche Tätigkeit.
Der zweite Einwand könnte von Fachübersetzern vorgebracht werden: Die Arbeit der Sach- und Dokumenten-Übersetzer beginnt nicht erst auf der Stufe der elocutio. Führerscheine, Gebrauchsanweisungen, Geschäftsbriefe, Zeugnisse, Kochrezepte usw. haben oft in der Ausgangs- und in der Zielsprache ein unterschiedliches Format. Sie sind bereits auf der Ebene der dispositio, womöglich auch schon auf der der Fakten (Topik) anders zu übersetzen, als der Blick auf das Originaldokument suggeriert. Hier liegen oft fach- oder kulturspezifische Text-Muster vor, die zu erfüllen sind. Aber diese unterschiedlichen Textsortenerfordernisse (Änderungen des Briefkopfes, der Reihenfolge der Informationen usw.) würde ich auch nicht als kreative Herausforderung bezeichnen, da es ja nur um die intelligente Erfüllung normativer Textmuster geht. Wenn der Zweck oder die Angemessenheitskriterien routinemäßig vorgegeben sind, bleibt meines Erachtens nur genau jener punktuelle Spielraum für kreative Lösungen, wie Kußmaul und Bayer-Hohenwarter sie aus ihren Ton-Dokumenten herausdestillieren und analysieren.
Die literarischen Übersetzer erfinden keine neuen Geschichten, keine neuen Figuren, Situationen oder Gliederungen: Sie übernehmen die fertigen Texte samt ihrer Gliederung als Übersetzungsauftrag. Ihre kreative Arbeit beginnt und endet in der Regel (also abgesehen von präzisen Änderungswünschen des Verlags) auf der Ebene der elocutio.4 Gregory Rabassa formuliert das etwas drastischer:
The translator, we should know, is a writer too. As a matter of fact he could be called the ideal writer because all he has to do is write; plot, theme, character, and all the other essentials have already been provided, so he can just sit down and write his ass off. (Hier zitiert nach Wright 2016: 53)
Jeder Literaturübersetzer weiß jedoch, dass der tatsächliche Übersetzungsprozess weder mit dem Drauflosschreiben beginnt noch darin besteht.