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2 Kategorien von Kinderliteratur

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Der Ausdruck Kinderliteratur ist in zweifacher Hinsicht mehrdeutig. Er ist einerseits unscharf als Gegenbegriff zur „richtigen“, zur Erwachsenenliteratur. Heute differenziert man – sinnvollerweise – gelegentlich zwischen Kinder- und Jugendliteratur, ohne dass die Grenze zwischen diesen beiden Kategorien scharf gezogen werden könnte. Als logische Konsequenz werden Kinder- und Jugendliteratur denn auch wieder fast immer in einem Atemzug genannt und wissenschaftlich behandelt (vgl. z. B. das deutsche Referenzwerk von Wild 1990).

Neben der Einteilung, die primär auf das Alter abzielt, ist noch eine andere Kategorisierung zu berücksichtigen. Es gibt das idealtypische Kinderbuch, von Erwachsenen für Kinder geschrieben und illustriert, in dem etwa lebensweltliche Bereiche thematisiert werden (Stadt, Baustelle, Bauernhof; Lebensformen in fremden Ländern etc.). Nicht selten aber findet man auf dem Buchmarkt Publikationen mit intendierter Doppeladressierung. Damit meine ich nicht – was unter diesem Terminus auch manchmal verstanden wird – die unleugbare Tatsache, dass im Verlagswesen Kinderbücher oft durch die Brille von Erwachsenen beurteilt werden, weil sie es ja sind, die die Bücher kaufen und daher ihren Geschmack bedient sehen wollen. Als doppelt (bzw. mehrfach) adressiert bezeichne ich hier – in Übereinstimmung mit der üblichen Verwendung des Ausdrucks – solche Produkte, die sich vorgeblich (ausschließlich) an Kinder richten, aber auch von älteren Leserinnen und Lesern – Jugendlichen oder Erwachsenen – auf einer anderen Ebene mit Vergnügen und Gewinn gelesen werden können. Das weltweit verbreitetste und in die größte Zahl an Sprachen bzw. Varietäten übersetzte Beispiel dieser Art ist der schon erwähnte Kleine Prinz, in dem sich der Erzähler ja explizit an Kinder wendet und z. B. die Phantasielosigkeit der „grandes personnes“ (ein kindersprachlicher Ausdruck für „adultes“, ‚Erwachsene‘) tadelt.

Die Mehrfachadressiertheit ist zweifellos auch das Erfolgsrezept der Petit-Nicolas-Serie des französischen Autors René Goscinny und seines Illustrators Jean-Jacques Sempé (in deutscher Übersetzung: Der kleine Nick):

Ecrites sous forme de courts récits dans lesquels se mêlent l’humour et la tendresse de l’enfance, les aventures du Petit Nicolas mettent en scène un petit garçon dans un environnement urbain pendant les années 1960. Le personnage y livre ses pensées intimes grâce à un langage enfantin créé par Goscinny et les thèmes sont avant tout ceux de l’enfance (la camaraderie, les disputes, les rapports avec la maîtresse d’école, les premières amourettes, …) mais Goscinny y décrypte également le monde complexe des adultes : l’éducation, les disputes familiales, les rapports entre voisins, la relation du père avec son patron, etc.1

Das spanische Pendant Manolito, auf das ich noch zu sprechen kommen werde, funktioniert ganz analog, hatte aber aus kulturideologischen Gründen nicht denselben Erfolg, wird jedoch gleichwohl als Schullektüre für den Fremdsprachenunterricht im Reclam-Verlag angeboten (Lindo 2010; 2013). Damit ist klar, dass Nicolas und Manolito zunächst für gleichaltrige Leserinnen und (wohl vor allem) Leser als Identifikationsfiguren wirken (zumindest insofern, als sie die Probleme des Protagonisten kennen und teilen); als fremdsprachliche Schullektüre lösen die Texte beim postpubertären Lesepublikum aber vermutlich eher ein Gefühl der Überlegenheit aus („ja, so war ich auch einmal; vieles erinnert mich an meine kleinen Geschwister“ etc.); Erwachsene könnte die Lektüre dagegen zum Überdenken und zu einer Relativierung ihrer Erziehungsprinzipien, wo nicht generell ihrer Einstellung zum Alltagsleben anregen.

Eine dritte, zahlenmäßig (besonders unter translatorischem Gesichtspunkt) sehr kleine als Kinderliteratur bezeichnete Klasse konstituiert sich aus Texten, die von Kindern geschrieben wurden. Ich erwähne sie hier der Vollständigkeit halber, gehe aber in der Folge nicht weiter auf sie ein. Eltern und PädagogInnen wissen natürlich, dass es Kinder gibt, die bereits im Grundschulalter umfangreiche Geschichten verfassen; deren Distribution beschränkt sich aber gewöhnlich auf den Verwandtenkreis, sofern sie nicht überhaupt nur ins Familienarchiv wandern. Doch es sind auch schon einzelne Kinder, vorwiegend Mädchen, in die Literaturgeschichte eingegangen. Ihre Werke repräsentieren in etwa das, was man in der Kunst als „art brut“ bezeichnet. Ein berühmter Fall sei immerhin erwähnt, zumal der namhafte Schriftsteller H. C. Artmann als Übersetzer seine Hand im Spiel hatte.2 Angeregt durch die Lektüre zahlreicher konventioneller Beziehungsromane, verfasste die neunjährige Daisy Ashford, die bezeugtermaßen unbeschränkten Zugang zum elterlichen Bücherbestand hatte, Ende des 19. Jahrhunderts Geschichten, deren orthographische Unbekümmertheit noch mehr zum Charme ihrer Werke beiträgt als die altklugen Kommentare der auktorialen Erzählerin. Was die Adressierung betrifft, so kehren sich hier die üblichen Verhältnisse um, denn das literarisch frühreife Mädchen hat handlungsmäßig herkömmliche Liebesromane geschrieben, die wohl für Erwachsene gedacht waren, da sich gleichaltrige Kinder für solche Themen ja noch nicht begeistern.

Kreativität und Hermeneutik in der Translation

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