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4.2 Beispiele

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Kommen wir nun zurück zu unserem Ausgangspunkt für das Kapitel über das Sprachgefühl: Es war die Frage der jungen Leserin aus der Südpfalz, warum die Figuren in Christine Nöstlingers Geschichten „so komisch“ reden. Nun weiß man, wenn man sich für Kinderliteratur interessiert, dass ein falscher Zungenschlag ihrer Heldinnen und Helden der geringste Vorwurf ist, den man der österreichischen Schriftstellerin machen kann. Die Lebensnähe der von ihr geschaffenen Gestalten und ihrer Konflikte ist Anlass für viele einschlägige Preise und für ihr hohes Ansehen in der Branche.

Die Antwort liegt auf der Hand. Während sich LeserInnen etwa in Frankreich, um sich ein Urteil über die sprachliche Authentizität eines jungen Protagonisten zu bilden, fragen würden: Wie alt ist das Kind und in welchem sozialen Milieu bewegt es sich?, muss im deutschen Sprachraum die erste Frage der regionalen Herkunft gelten. Kinder aus Berlin sprechen anders als Kinder in München oder in Wien, auch wenn sie derselben sozialen Schicht angehören. So wie es im deutschen Sprachraum keinen überregionalen Substandard gibt, existiert auch keine gesamtdeutsche Kinder- und Jugendsprache, auch wenn TV-Serien für die Verbreitung einer Reihe von sprachlichen Innovationen sorgen, die von Kindern leicht aufgenommen und oft auch schnell von Erwachsenen in ihren Sprachschatz integriert werden.

Die Verschränkung von Diatopik und Diastratik im deutschen Sprachraum ist ÜbersetzerInnen als Problem wohlvertraut (und gut beschrieben, z. B. bei Albrecht 2005: 243ff.). Dagegen muss man sich bei Übersetzungen aus dem Deutschen in der Regel keine Gedanken über Helvetismen oder Austriazismen machen. Wenn Nöstlingers Kinder über die Schule reden und von ihren Fünfern oder vom Sitzenbleiben erzählen, ist das für italienische oder französische ÜbersetzerInnen kein Anlass, sich irgendwelche Normabweichungen auszudenken.1 Die sprachliche Irritation ist eine rein innerdeutsche. Es scheint, als sollte es zur leichteren Verbreitung österreichischer Kinderliteratur intralinguale Übersetzungen geben. Wir werden gleich sehen, dass die Idee nicht so skurril ist, wie sie auf den ersten Blick anmuten könnte.

Die Tatsache, dass das Deutsche eine plurizentrische Sprache ist, wurde bei der Buchproduktion lange Zeit ignoriert. Was richtiges Deutsch ist, wurde mit demographisch-statistischen Argumenten geklärt. Seit einigen Jahrzehnten wehren sich viele Sprecher jedoch gegen die traditionelle Ansicht, ihr Deutsch sei eine – mit welchen wohlwollenden Adjektiven auch immer belegte – Abweichung von der einzig gültigen Norm. Organisierter (friedlicher) Widerstand hat bei den ‚Minderheiten‘ sowohl zu größerer sprachlicher Sensibilität als auch zur Stärkung des Selbstbewusstseins geführt und im Bereich der für Kinder produzierten Lesestoffe für Initiativen gesorgt, die dem Sprachgefühl Qualitäten abverlangen, die bislang wenig gefragt und noch weniger trainiert wurden. Dazu im Anschluss drei unterschiedlich gelagerte Fälle.

a) Wenn deutsches Lesematerial an österreichischen Schulen verwendet werden soll, kommt es neuerdings relativ häufig vor, dass es an den österreichischen Sprachgebrauch angepasst wird. Eine Mitarbeiterin des Innsbrucker Instituts für Translationswissenschaft etwa bearbeitet die von einem im Rheinland beheimateten Verlag herausgegebenen Lies mal-Hefte für österreichische SchülerInnen, indem sie Lexik, Idiomatik und Syntax an den Sprachgebrauch des Zielpublikums anpasst (z.B. also Schnürsenkel zubinden durch Schuhbänder binden, ausmalen durch anmalen, Grundschule durch Volksschule ersetzt). Diese Art der intralingualen Übersetzung hat in Österreich wenig Tradition und erfordert daher, da die Routine fehlt, sehr viel Konzentration und Fingerspitzengefühl, natürlich auch sprachliches Wissen. Manchmal, aber längst nicht immer, kann man sich heute im Variantenwörterbuch des Deutschen (Ammon et al. 2004) Rat oder Rückendeckung holen. Das Verständnis des deutschen Verlegers für die Bearbeitung kommt in einer bemerkenswerten Formulierung zum Ausdruck: Er ersucht die Bearbeiterin, „besonders auf die Unterschiede in unseren Sprachen[!] zu achten“.2

b) Das zweite Beispiel wurde bereits unter Punkt 3 angesprochen. Es handelt sich um die Manolito-Reihe. Bevor die Innsbrucker Studierenden die Übersetzung eines weiteren Manolito-Bandes in Angriff genommen haben, wurde eine genaue Übersetzungsanalyse eines schon publizierten Buchs erstellt. Neben vielen übersetzerischen Defiziten wurde auch die unüberhörbare sprachliche Verortung im norddeutschen Raum bemängelt.

Die eigene Übersetzung der Studierenden (Manolitos geheimstes Geheimnis, 2004) ist nun sehr bewusst von Austriazismen freigehalten. Dennoch ist die sprachliche Identität Manolitos, der ja als Ich-Erzähler den Büchern seine Stimme verleiht, eine völlig andere als in den Übersetzungen von Sabine Müller-Nordhoff. Wäre die Version der österreichischen Studentinnen vom Hamburger Verlag übernommen worden, hätte die Manolito-Lesergemeinde sie sicherlich herb kritisiert, weil der Protagonist ein neues sprachliches Profil – diesmal ein eher süddeutsches – bekommen hat. Die Aufgabe, die sich die Übersetzerinnen gestellt hatten, war schlicht nicht lösbar, weil die Varietäten-Architektur der deutschen Sprache hier eine unüberwindbare Hürde errichtet.

c) Eine überaus innovative Konstellation stellt die französische Buchreihe Les P’tites Poules mit ihren Übersetzungen dar. Der Autor Christian Jolibois und der Illustrator Christian Heinrich zeichnen für eine Reihe von Büchern verantwortlich, die sowohl zum Vorlesen als auch zum Selberlesen gedacht sind. Die Protagonisten sind Hühner, die mehr oder weniger aufregende Abenteuer – vom Familienzuwachs (Jolibois/Heinrich 2002) bis zur Atlantiküberquerung (Jolibois/Heinrich 2000) – erleben.

Die Übersetzungen erscheinen beim Wiener Ringelspiel3-Verlag in zwei Versionen: in einer österreichischen Übersetzung von Martina Ebmer und in einer – laut Homepage – „deutschlandtauglichen“ Fassung von Heike Kriston. In gewisser Weise handelt es sich um experimentelle, also überaus kreative Übersetzungen, denn für die Sprachenpaare Französisch-Österreichisch und Österreichisch-Bundesdeutsch wird man nirgends ausgebildet. Auf der Homepage des Ringelspiel-Verlags wird natürlich begründet, warum die Bücher immer paarweise erscheinen:

Ökonomisch ist Vereinheitlichung immer die günstigere Variante. Und das Große schluckt mit der Zeit das Kleine. Im Kulturbereich führen solche Entwicklungen zu einer langweiligen Verarmung. Deshalb geht es dem Ringelspiel Verlag um die Erhaltung von Artenvielfalt. Und um die Erhaltung von jeder Menge Spaß in der Kommunikation zwischen deutschsprachigen Menschen aus Österreich und Deutschland.4

Wie die Versionen der P’tites Poules-Serie aussehen, sei an einigen wenigen Beispielen vorgeführt. Die österreichische Varietät manifestiert sich hier (und in anderen Büchern) schon im Titel:

Frz.: La petite poule qui voulait voir la mer
Ö.-dt.: Ein kleines Henderl will das Meer sehen
Dt.: Ein kleines Hühnchen will das Meer sehen

Die Henne Carméla ist des eintönigen Lebens auf dem Hühnerhof überdrüssig. Sie lässt sich lieber von dem weitgereisten Kormoran Pédro Geschichten erzählen, auch wenn nicht alle seine Berichte absolut vertrauenswürdig sind:

Frz. Pédro a beaucoup voyagé! Et même s’il est un peu menteur, la petite poule adore les histoires merveilleuses qu’il raconte. (6)5
Ö.-dt. Pedro ist nämlich weit gereist! Er ist zwar manchmal ein Schmähtandler, aber das kleine Henderl liebt seine wunderbaren Geschichten.
Dt. Pedro ist nämlich weit gereist! Er ist zwar manchmal ein Aufschneider, aber das kleine Hühnchen liebt seine wunderbaren Geschichten.

Und dann macht sich Carméla selbst auf den Weg, eine ganze Nacht lang, bis sie ihre Beine nicht mehr spürt:

Frz. Mais, au matin, ses efforts sont récompensés. Arrivée au sommet d’une dune, elle aperçoit enfin … / … la mer ! (16/18)
Ö.-dt. Aber am nächsten Tag in der Früh wird sie für alle Anstrengungen belohnt […]
Dt. Aber am nächsten Morgen wird sie für alle Anstrengungen belohnt.

Schließlich landet Carméla mit der Flotte des Kolumbus in Amerika und wird dort von einer Hühnerfamilie willkommen geheißen. Der kleine rote Hahn Pitikok nimmt sich ihrer an und lässt Carméla eine Menge neuer kultureller Erfahrungen machen:

Frz. – Pitikok? Je voudrais te demander … Pourquoi les poules de chez vous ont-elles le derrière tout nu ?
– C’est la coutume. Les Indiens utilisent nos plus jolies plumes pour se faire beaux ! Suis-moi dans ma cachette secrète, Carméla, on sera plus tranquilles !
– Chouette ! Dis ? Je peux reprendre de ces bonbons jaunes ?
– C’est pas des bonbons, c’est du maïs ! (35)
Ö.-dt. – Du, Pitikok ? Ich habe eine Frage … warum haben die großen Hendln bei euch eigentlich alle einen nackerten Popsch?
– Das ist bei uns so Brauch. Die Indianer verwenden unsere schönsten Federn, um sich damit zu schmücken! Komm mit in mein Geheimversteck, Carmela! Da haben wir mehr Ruhe.
– Ja, gute Idee! Sag, darf ich noch ein paar von diesen gelben Zuckerln haben?
– Sicher. Aber das sind keine Zuckerln, sondern Kukuruzkörner!
Dt. – Ähm, Pitikok? Ich habe da mal eine Frage … warum haben die großen Hühner bei euch eigentlich alle einen nackten Popo?
– Das ist bei uns so Brauch. Die Indianer verwenden unsere schönsten Federn, um sich damit zu schmücken! Komm mit in mein Geheimversteck, Carmela! Da haben wir mehr Ruhe!
– Ja, gute Idee! Sag mal, kann ich noch von diesen gelben Bonbons haben?
– Klar. Aber das sind keine Bonbons, das sind Maiskörner!

Auch wenn an mehreren Stellen klar ersichtlich ist, dass die (bundes-)deutsche Fassung auf der österreichischen und nicht auf der französischen beruht, also eine intralinguale und keine interlinguale Version darstellt, sind die Unterschiede beachtlich. Da österreichische Kinder im Allgemeinen Bücher lesen, die für den gesamtdeutschen Markt bestimmt sind, kann man ermessen, wie weit die deutschen Fassungen gewöhnlich von ihren alltagssprachlichen Erfahrungen entfernt sind.

Für die beiden Übersetzerinnen stellte der Übersetzungsauftrag sicher eine große Herausforderung an ihr sprachliches Einfühlungsvermögen dar, da österreichische ÜbersetzerInnen nicht gewohnt sind, in Übersetzungen auf die Ressourcen ihrer Varietät zurückgreifen zu dürfen (sondern ihnen im Gegenteil während der Ausbildung alles, was aus bundesdeutscher Sicht diatopisch markiert ist, konsequent „abtrainiert“ zu werden pflegt), und bundesdeutsche TranslatorInnen kaum je in die Situation kommen, Texte aus einer anderen deutschen Varietät ins „Hochdeutsche“ zu bringen.

Kreativität und Hermeneutik in der Translation

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