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1 Inhalt und Aufbau der Bibel als Gegenstand universitärer Lehre
Оглавление‚Nur ein einziges Buch!‘, das war die Reaktion eines Professors für Pädagogische Psychologie, als ich mit ihm über eine Lehrveranstaltung in Bibelkunde ins Gespräch kam. Die übliche Antwort des Theologen, dass es sich in Wahrheit um eine ganze Bibliothek handele, die historische, kulturelle und religionsgeschichtliche Sachverhalte reflektiere, die sich über einen Zeitraum von etwa 1500 Jahren mit mehrfachen grundlegenden Veränderungen im Weltbild und in den anthropologischen Grundannahmen und schließlich im Übergang vom Alten Orient über das persische Reich hin zum Hellenismus erstrecke, war eine wohlfeile Apologie im Rahmen eines universitären Flurgesprächs, die aber letztlich auf das Verdikt ‚nur ein einziges Buch!‘ nicht völlig zutreffend reagierte. Der Hinweis auf die Bibliothek und das Anführen des umfangreichen Wissens, das erst ein Verständnis der über einen langen Zeitraum entstandenen verschiedenen biblischen Bücher eröffnet, hat zwar die wissenschaftliche Theologie verteidigt, nicht aber die Lehrveranstaltung Bibelkunde, in der die genannten Sachverhalte nicht unmittelbar Gegenstand sind, da sie in den Bereich der Einleitungswissenschaften fallen. Bibelkunde nach der in der deutschen Theologie vorherrschenden klassischen Definition umfasst: Inhalt und Aufbau der Bibel nach Kapitel- und Versgruppen geordnet auf der Basis einer deutschen Bibelübersetzung, bzw. in der vollständigen Definition der vom Evangelisch-theologischen Fakultätentag verabschiedeten Bibelkundeordnung:
„Gesamtüberblick über Inhalt und Aufbau der biblischen Bücher anhand des deutschen Textes, wobei in der Regel die Kenntnis der Inhalte nach Kapiteln bzw. Kapitelgruppen erwartet wird. Die örtlichen Prüfungsbestimmungen können vorsehen, dass ergänzend grundlegende biblische Themen und Motive durch das Alte und das Neue Testament hindurch verfolgt werden. Es besteht die Möglichkeit, Schwerpunkte zu vereinbaren. Bei Schwerpunkten sind differenziertere Kenntnisse erforderlich.“1
Diese Inhalte setzen weder die Kenntnis der Quellensprachen Hebräisch, Aramäisch und Griechisch, noch der Geschichte Israels oder des frühen Christentums und auch keine einleitungswissenschaftlichen Grundkenntnisse über die Abfassungsverhältnisse der biblischen Bücher voraus. Der Fakultätentag ergänzt aber als Nr. 3 einen Hinweis auf die nicht obligatorische Berücksichtigung der Einleitungswissenschaften:
„Die örtlichen Prüfungsordnungen können vorsehen, dass grundlegende Einleitungskenntnisse einbezogen werden können, soweit sie für das Verständnis einzelner biblischer Schriften oder des alt- bzw. neutestamentlichen Kanons wesentlich sind.“2
Es lassen sich auf dieser Basis bereits zwei Verständnisse von Bibelkunde idealtypisch unterscheiden: Auf der einen Seite steht eine Bibelkunde, die sich ausschließlich auf Inhalt und Aufbau der Bibel konzentriert, sozusagen eine ‚reine‘ Bibelkunde, und auf der anderen Seite eine Bibelkunde, die Wissen über die Abfassungsverhältnisse der biblischen Schriften, d.h. Einleitungswissen, miteinbezieht, nennen wir sie eine wissenschaftlich verantwortete Bibelkunde. Das letztere Verständnis dürfte ausdrücklich oder unausgesprochen im akademischen Unterricht vorherrschen. Man ist sich dabei zwar bewusst, dass die genannten Kenntnisse nicht unmittelbar Lehr- und Prüfungsgegenstand der Bibelkunde sein können, sieht aber die Notwendigkeit, dass Lehre in Bibelkunde zumindest die Entstehungszeit und die Abfassungsverhältnisse eines biblischen Buches zu skizzieren hat, bevor man sich mit seinen Inhalten befasst. Damit ist das hochschuldidaktische Grundproblem universitärer Lehre in Bibelkunde benannt: Der Erwerb von Kenntnissen über Inhalt und Aufbau der biblischen Bücher auf der Grundlage einer deutschen Bibelübersetzung berührt und überschneidet sich mit Grundannahmen zu einleitungswissenschaftlichen Fragen über die Entstehung der biblischen Bücher. Insofern ist es notwendig, die Frage zu stellen und zu beantworten, wie sich eine wissenschaftlich verantwortete Bibelkunde im obengenannten Sinn und Einleitungswissenschaft sinnvoll zueinander verhalten.
Blickt man kurz auf gängige Studien- und Prüfungsordnungen, wird deutlich, dass es hier unterschiedliche Ansätze gibt.3 Manche Ordnungen, mehrheitlich aus dem Bereich der Pfarramtsstudiengänge, ziehen eine klare Grenze zwischen bibelkundlichem Wissen und Einleitungswissenschaften, andere reflektieren das Verhältnis der beiden Wissensbereiche oder setzen weitere Akzente. Insgesamt wird man sagen können, dass bibelkundliche Lehrveranstaltungen, die in ein umfassenderes und gestuftes exegetisches Curriculum aus Methodenseminar, Einführung und exegetischem Hauptseminar bzw. Basismodul und Ausbau- bzw. Vertiefungsmodul eingebunden sind, und das betrifft in der Regel die Studiengänge für das Pfarramt und großenteils für das gymnasiale Lehramt, in den Studienordnungen eine klarere Grenze zwischen Einleitungswissenschaft und Bibelkunde ziehen, als das in denjenigen Studiengängen der Fall ist, in denen für Lehre in den Fächern Altes und Neues Testament nur ein begrenzter Stundenanteil zur Verfügung steht wie überwiegend in den durch Bachelorstudiengänge abgebildeten Lehramtsstudiengängen und Nebenfächern bzw. Exportmodulen. Hier wird Bibelkunde oftmals gar nicht als eigene Lehrveranstaltung angeboten, sondern der Erwerb bibelkundlichen Wissens als Teilbereich der Lehre etwa in einem bibelwissenschaftlichen Modul genannt. Ob sich das auch genauso in der tatsächlich durchgeführten Lehre auswirkt oder ob nicht gar das Gegenteil der Fall ist, dass nämlich bibelkundliche Lehrveranstaltungen für Pfarramtsstudiengänge und für das gymnasiale Lehramt de facto sehr viel mehr einleitungswissenschaftliches Wissen und quellensprachliche Hinweise einfließen lassen, sollte zumindest bedacht werden. Die Erfahrungen des Autors dieses Artikels weisen jedenfalls in die Richtung, dass bibelkundliche Lehrveranstaltungen an Fakultäten doch eher umfangreicher auf das erwartete, gewünschte und zu erwerbende Wissen in den exegetischen Fächern verweisen oder auch reagieren als dies in den Studiengängen der Fall ist, in denen Bibelkunde etwa 50 % der Lehre im Alten und Neuen Testament umfasst. Angesichts dieser Problematik ist auch auf den Sachverhalt hinzuweisen, dass die zunehmend präskriptive Definition und strukturelle Durchdringung der Lehrveranstaltungen im Modulsystem (Modulbeschreibung, Leistungs- bzw. ECTS-Punkte, Workload usw.) unter Umständen zu einem Auseinanderdriften von Modulbeschreibung und Lehrwirklichkeit führt.
Die hochschuldidaktische Grundproblematik der Lehre in Bibelkunde, das Verhältnis von Einleitungswissenschaften und Inhaltskenntnis der Bibel, differenziert sich weiter aus, wenn man die sehr unterschiedlichen Verhältnisse im Alten Testament und im Neuen Testament in die Betrachtung miteinbezieht. Während die Einleitungsfragen im Neuen Testament einen Entstehungszeitraum der Schriften von ca. 60 bis 90 Jahren (vom Markusevangelium ca. 69/70 n. Chr. bis Pastoralbriefe um 120–150 n. Chr.) und einen erzählten Zeitraum von ca. 4 v. Chr. bis 64 n. Chr. (Tod des Herodes des Großen bis Haft des Paulus in Rom) zu reflektieren haben,4 reicht die erzählte Zeit der alttestamentlichen Schriften von der Schöpfung (nach biblischer Chronologie im Jahr 3761 v. Chr.) bis in die Zeit der Perserherrschaft vor 331 v. Chr. und ihre Entstehung erstreckt sich über ‚ca. 800 Jahre‘, unter Einbeziehung der deuterokanonischen Schriften über einen noch etwas längeren Zeitraum; von den nicht mehr konsensual zu beschreibenden einleitungswissenschaftlichen Problemen des Alten Testaments ganz zu schweigen.5
Als vorläufige Schlussfolgerung dieser Überlegungen wird man festhalten können, dass der vermeintlich intellektuell wenig herausfordernde Lerngegenstand Inhalt und Aufbau der Bibel insbesondere dann erfolgreich gelehrt und gelernt werden kann, wenn er zugleich einleitungswissenschaftliches Grundwissen berücksichtigt. Lehre in Bibelkunde soll demnach einerseits das kritische Bibelverständnis der wissenschaftlichen Exegese voraussetzen und in die bibelkundliche Lehre einfließen lassen und andererseits die Studierenden auf die kritische wissenschaftliche und demnach ergebnisoffene Analyse der biblischen Schriften in der neutestamentlichen und alttestamentlichen Wissenschaft vorbereiten. Folgt man dieser Überlegung zum Verhältnis von Einleitungswissenschaft und Bibelkunde, dann sollte auch die mancherorts durch den Bologna-Prozess ermöglichte Praxis der Anerkennung von Studienleistungen in Bibelkunde, die in Bibelschulen und propädeutischen Bibelseminaren erbracht wurden, neu überdacht werden. Wenn in diesen Einrichtungen die Lehre in Bibelkunde als Vorverständnis für das Alte Testament unkritisch die faktuale Richtigkeit der biblischen Grunderzählung, d.h. mehr oder weniger das Motto „Und die Bibel hat doch recht!“6, zugrunde legt und im Falle des Neuen Testaments dem Narrativ der Kirchenväter folgt, das die Verfasserschaft von Jüngern und Apostelbegleitern für die vier Evangelien annimmt und Fragen zur Abhängigkeit dieser Schriften oder zur Pseudepigraphie der Briefliteratur gar nicht erst stellt, dann können derartige Bibelkunden nicht als Teil eines wissenschaftlichen Studiums anerkannt werden. Studierende, die auf dieser Grundlage an der weiterführenden universitären Lehre teilnehmen, bereiten nicht nur der kritischen Lehre Schwierigkeiten, sondern ihnen steht zudem das verfestigte unkritische Fürwahrhalten vermeintlich historischer biblischer Sachverhalte der Ausbildung eines angemessenen hermeneutischen Reflexionsvermögens dauerhaft im Weg, das für das Studium der Ev. Theologie unerlässlich ist.