Читать книгу Von der dunklen Seite der Macht - Группа авторов - Страница 5
ОглавлениеWas Skandalgeschichten mit uns machen und weshalb wir darüber sprechen müssen
Eine Einführung von Thomas Härry & Michael Herbst
Viel zu oft saßen wir in den vergangenen Jahren vor dem Bildschirm, rieben uns verwundert die Augen und wollten den Nachrichten vom neuesten Leitungsskandal nicht glauben, von dem wir da lasen: „Was, der auch? Wie ist es möglich? Er hat doch so viel Gutes bewirkt, so tolle Bücher geschrieben! Welchem Leiter kann man jetzt noch trauen?“ Sie bemerken die Verwendung der männlichen Form. Das ist der Statistik geschuldet. Wer da gerade gefallen ist, ist in den meisten Fällen ein Mann. Wäre das Bild ein anderes, wenn die Machtverteilung in christlichen Institutionen ausgeglichen wäre? Wir wissen es nicht …
Nun also der nächste Skandal. In Windeseile kursiert er durch christliche und säkulare Medien. Ausführlich wird berichtet, zitiert und die damit verbundenen Hässlichkeiten ans Licht gezerrt. Solche Storys gehören in den entsprechenden Kanälen zu den meistgelesenen und werden in sozialen Netzwerken endlos kommentiert. Wer davon hört, reagiert erschrocken. Andere wollen es nicht wahrhaben, sprechen von Sensationspresse, Erfolgsneid, Übertreibung und Nestbeschmutzung. Bei manchen spürt man eine gewisse Häme; vor allem, wenn die Delinquenten einem sowieso schon mit Vorbehalten betrachteten theologischen oder konfessionellen Lager angehören: „Wir haben’s doch schon immer gewusst, dass man diesem Menschen nicht trauen kann! Dass da etwas nicht stimmen kann, nicht echt ist und im Kern der Sache krankt.“ Erstaunlich, wie schnell auch bislang gleichgültige Beobachter zu scharfsinnigen Analysten mutieren. Zu nachträglich und selbstgekürten Propheten, die das alles scheinbar schon weit im Voraus haben kommen sehen.
Die mediale Aufmerksamkeit solcher Vorkommnisse zeigt noch etwas anderes, nämlich welche Neugier und heimliche Faszination im Menschen geweckt werden, wenn die dunklen Triebe und Taten anderer ans Tageslicht kommen. Auch manchen Christen kann nicht abgesprochen werden, dass sie sich bei aller zum Ausdruck gebrachten Entrüstung heimlich doch an solchen Skandalgeschichten ergötzen. Gaffer gibt es bei allen Arten von Unfällen, nicht nur auf der Autobahn. Für uns alle ist es eben weit komfortabler, sich mit den Abgründen anderer zu beschäftigen als mit den eigenen.
Die Liste ist lang und umfasst alle Stränge
der weltweiten Kirche
Anlass dazu gab und gibt es genug. Die letzten Jahrzehnte haben der weltweiten Christenheit eine ganze Reihe von Skandalen beschert. Leitende mit großer Leuchtkraft stolperten, stürzten und mussten über Nacht den Posten räumen: Evangelisten, Repräsentanten großer Denominationen und Bewegungen, Pastoren bekannter Kirchen, Theologen, Gründer von christlichen Sozialwerken. Sie trugen und tragen Namen wie Jimmy Swaggard, Jim Bakker, Ted Haggard, Mark Driscoll, Bill Hybels, John Ortberg, John Howard Yoder, Jean Vanier, Ravi Zacharias. Es gibt Dutzende weitere Personen auf der Liste gefallener Leitfiguren der christlichen Welt. Einige Namen sind vergessen, andere ragen als dunkle Mahnmale in den Erinnerungen derer auf, die sie näher kannten. Als wir vor einigen Monaten im kleinen Kreis über einige dieser Vorkommnisse sprachen, meinte jemand: „Ist es nicht bezeichnend, dass es vor allem Amerikaner sind? Und dass sie aus Frömmigkeitskreisen mit rigiden Moralvorstellungen kommen?“
Ersteres fällt tatsächlich auf. Wir empfinden, dass starke Führungspersonen in der amerikanischen Öffentlichkeit mit besonderer Begeisterung gefeiert werden. Manche von ihnen scheinen das Rampenlicht bewusst zu suchen und sich darin zu sonnen. Umso tiefer dann der Fall, wenn das Monument vom Sockel stürzt.
Das Zweite hält einem genaueren Blick nicht stand. Man kann das Phänomen des moralischen Scheiterns christlicher Leitungspersonen nicht vorschnell in die Ecke evangelikaler Kreise schieben, deren Ethik an manchen Stellen konservativ konnotiert ist. Nein, Scheitern macht vor keinem konfessionellen oder politischen Lager halt. Ob katholisch, evangelisch, liberal oder konservativ – aus allen Kreisen mussten sich in den vergangenen Jahrzehnten Leitungspersonen (vereinzelt auch weibliche) Untersuchungskommissionen oder Gerichtsverfahren stellen. Mussten zurücktreten, wurden sexueller, finanzieller oder zwischenmenschlicher Übergriffe überführt. Haben die Sorgfaltspflicht verletzt, ihre Macht missbraucht, begünstigt, Gesetze übertreten, Menschen missbraucht, verletzt, gemobbt, enttäuscht und Kirchenaustritte provoziert. Auch in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Geben wir es zu: Wir sitzen alle im selben Boot.
Sezieren, beschönigen, verteufeln:
Wie Christen mit scheiternden Leitfiguren umgehen
Sind die medialen Schlammschlachten ausgetragen und die Untersuchungen abgeschlossen, wird es um die vormals so präsenten Leitungspersonen meistens still. Auf den Rednerlisten und Büchertischen der Kongresse tauchen ihre Namen und Titel nicht mehr auf. Ihre Blogs und Accounts auf sozialen Netzwerken werden gelöscht. Je größer der Skandal, umso radikaler vollzieht sich der Bruch und der damit einhergehende Rückzug aus der Öffentlichkeit. Kaum einer weiß, wo sie wohnen, was sie tun, wie sie leben. Es ist ein Schweigen, bei dem wir nur vermuten können, von welchen Gefühlen und Regungen es begleitet wird. Sind es Schuld und Scham? Sind es Trotz, Selbstschutz, seelischer Zusammenbruch? Reue vielleicht oder aber stille Selbstrechtfertigung? Wir wissen es nicht.
Und wie verhalten sich die Organisationen, die von diesen Menschen gegründet und geleitet wurden? Manche geben sich einen neuen Namen, der alle Assoziationen mit dem Skandal verhindern soll. Andere entfernen sämtliche Bilder und Nennungen der fehlbar gewordenen Leitungspersonen aus dem Internetauftritt und suchen so den Schatten dunkler Vergangenheit zu entkommen. Neue Leiterinnen und Leiter werden eingesetzt. Alle Aufmerksamkeit wird auf das Neue und die Zukunft gelenkt. Das Alte ist vergangen und man wünscht sich nichts mehr, als dass alles neu wird …
Mit Verzögerung zieht die breite Öffentlichkeit nach. Die Bücher der Gefallenen verschwinden auch aus den Regalen der Buchhändler. Eine Zeit lang erscheinen neue, welche die Geschichte noch einmal aufrollen und bisher Unbekanntes zum Besten geben. Er gibt Analysen, Bewertungen, Insiderberichte. Irgendwann verstummen auch diese Stimmen. Das Leben geht weiter, ein nächster Skandal löst den alten ab. Und so werden aus vormals strahlenden, für Segen, Erfolg und Inspiration stehenden Namen stumme Mahnmale der Geschichte. Synonyme für Scheitern, Schuld, Totalversagen.
Wie aber ergeht es denen, die einmal Seite an Seite mit solchen Leitungspersonen gelebt und gearbeitet haben? Ihren Ehepartnerinnen und Ehepartnern, Kindern, Freunden, Mitarbeitenden, Geldgebern? Denjenigen, die durch diese Leiter zum Glauben an Christus gefunden haben? Wir können nur vermuten, wie groß ihr Schmerz und ihr Leid sein müssen. Je mehr sie ihr Vorbild geliebt, geachtet und ihm vertraut haben, umso schmerzlicher muss die plötzliche Konfrontation mit seinen Abgründen sein. Da hat ein Mensch, den sie doch so gut zu kennen glaubten, Dinge getan, die sie ihm oder ihr nie zugetraut hätten.
Dann die Opfer. Sie waren dem Versagen, der Willkür und den Übergriffen dieser Leitungspersonen am meisten ausgesetzt. Sie haben am meisten gelitten und tun es auch dann noch, wenn die Öffentlichkeit sich längst neuen Themen zugewandt hat. Viele werden Monate und Jahre brauchen, um ihre traumatischen Erfahrungen aufzuarbeiten. Um mit den persönlichen und finanziellen Verlusten klarzukommen, die ihnen zugefügt wurden. Um Heilung und Wiederherstellung zu erfahren. Der ihnen zugefügte Schaden wiegt am schwersten.
Wie es uns persönlich geht,
wenn es wieder mal passiert
Es gibt noch eine weitere Gruppe von Betroffenen, die größte von allen: die Frauen und Männer, welche diese Leitungspersonen eher von Weitem kannten, sich aber von ihnen inspirieren ließen. Wir, die beiden Herausgeber dieses Buches, zählen uns zu dieser Gruppe, zu der vielleicht auch Sie als Leserin und Leser gehören. Wir haben die Bücher mancher dieser Führungspersonen gelesen. Wir haben ihren Vorträgen gelauscht und wurden inspiriert. Wir waren Teil ihres internationalen Publikums. Das Scheitern dieser Leitfiguren hat uns kaum traumatisiert, aber es hat uns irritiert und verunsichert. Es hat uns erschreckt und viele Fragen aufgeworfen. Es hat uns der Illusion beraubt, das sei nun endlich eine integre Führungskraft, der man vertrauen könne.
Jede und jeder von uns verarbeitet die Skandalgeschichte einer bis dahin geachteten Führungsperson anders. Das trifft auch auf uns beide zu. Ich (Thomas Härry) kann es am Beispiel der Enthüllungen um Bill Hybels beschreiben. Über viele Jahre hinweg habe ich die Leitungskongresse von Willow Creek besucht und tue es bis heute. Ich habe mehrmals die Gemeinde in Chicago besucht und viel von dieser Arbeit profitiert. Als mich 2018 kurz nach dem Willow Leitungskongress in Dortmund die Nachrichten zu den Vorwürfen gegen Hybels erreichten, wollte ich es zuerst nicht wahrhaben – ein weitverbreitetes Reaktionsmuster bei unerwünschten Ereignissen. Ich ordnete es unter dem Versuch ein, einen erfolgreichen Leiter zu sabotieren, und war zuversichtlich, dass sich die Vorwürfe (Machtmissbrauch, sexuelle Übergriffe, Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen, Schaffung einer Angstkultur unter Mitarbeitenden) bald widerlegen lassen würden. Dem war nicht so. Bald war klar, dass hier Folgenschweres und Verwerfliches geschehen war. Es ist wohl so, dass Schuld und Verantwortung aufseiten von Hybels nicht zu leugnen sind.1 So etwas macht mich unendlich traurig und kann mich ein paar Tage lang richtiggehend lähmen. Ich war enttäuscht, auch wütend. Wenn das alles stimmt: Wie kann dieser Leiter so leichtsinnig sein Lebenswerk aufs Spiel setzen? Wie kann er so mit ihm anvertrauten Menschen umgehen? Ich dachte an den Schaden für diese Gemeinde und für die weltweite Tätigkeit für Menschen in Führungsverantwortung. Etwas später erfasste mich ein Stück Resignation und darin der Gedanke: Diese Gemeinde, diese ganze Arbeit, aller internationale Einfluss, wird von der Bildfläche verschwinden – weggefegt wie ein unstabiles Haus nach einem Wirbelsturm. (Gott sei Dank hat sich das, Stand heute, nicht erfüllt!) Dann wieder hatte ich die Menschen vor Augen, die Teil dieser Gemeinde waren: Frauen und Männer, die dank dieser Gemeinde in Chicago das Evangelium gehört und zum ersten Mal verstanden haben. Die sich haben taufen lassen und zu treuen Mitarbeitenden geworden sind. Ich dachte an ihre im Vergleich zu meiner noch viel größeren Enttäuschung. Dachte an die Opfer, an Mitarbeitende im direkten Umfeld von Hybels, die gelitten haben. An seine Familie, seine Kinder. Und da packt mich manchmal noch immer die Wut: Mensch, wie konntest du nur so töricht handeln! Und zugleich weiß ich: Keiner ist gefeit. Ich selber auch nicht.
Mir (Michael Herbst) geht es weitgehend ähnlich. Ich hatte in den 1980er-Jahren in der christlichen Zeitschrift „Schritte“ zum ersten Mal von dieser ungewöhnlichen Gemeinde in einem Vorort von Chicago und ihrem charismatischen Pastor gehört. Im Jahr 2000 war ich zum ersten Mal dort, beim „Summit“, danach noch fünf Male – und jedes Mal fasziniert. Von Hybels, ja, aber fast noch mehr von der Leidenschaft und dem Commitment (und der herzlichen Gastfreundschaft) der „Creeker“ und von ihrem Mut, immer wieder Altes, das einmal so innovativ war (erinnern Sie sich an den Seekers’ Service?), sterben zu lassen, wenn es nicht mehr der Aufgabe dieser Gemeinde gerecht wurde. Alles wurde einem untergeordnet: Religiös schwach oder gar nicht geprägte Menschen sollen lebendige, mündige Christenmenschen werden. Ich schaute den künstlerischen Ausdrucksmitteln mit offenem Mund staunend zu, hörte die Musik, bewunderte den liebevollen und professionellen Einsatz des Care Center und lernte von den Predigern und studierte die klugen Leitungsideen, die Hybels vertrat. Kurze persönliche Begegnungen kamen hinzu. Wenn mich etwas irritierte, dann war es diese fast royale, einsame und schwach kontrollierte Stellung an der Spitze der Gemeinde, die Hybels für sich beanspruchte und von der Gemeinde zugebilligt bekam. Seit 2005 war ich dann selbst Sprecher auf den deutschen Willow Creek Leitungskongressen. Die Willow-Gemeinschaft wurde und blieb ein Stück Familie und geistliche Heimat, vor allem das Team in Gießen und das Netzwerk in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Bleibt! Trotz allem. Denn: Hybels ist nicht Willow. Und doch saß der Schock tief. Die ersten Tage nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe ging es meiner Frau und mir wie Thomas Härry: Schockstarre, Kopfschütteln, ungläubiges Staunen, Traurigkeit – und Enttäuschung. Ich habe mir aber nicht erlaubt, alles für bare Münze zu halten, was es an Vorwürfen gab. Die „Unschuldsvermutung“ gilt ja auch für Menschen wie Bill Hybels. Es spricht freilich vieles dafür, dass Bill Hybels Grenzen überschritten und Menschen übergriffig behandelt hat. Seither warte ich, dass er sich erklärt, nicht nur rechtfertigt, dass die Betroffenen ein Wort des Bedauerns, eine Geste der Buße hören. Mich macht auch der Gedanke traurig an die von Willow Enttäuschten, die aus der Gemeinde Ausgewanderten, die am Glauben nach allem, was geschah, Verzweifelten. Denke ich an Bill Hybels, dann gibt es auch (auch!) den Gedanken: Da hat einer ein großes Lebenswerk kurz vor dem Ziel selbst im Blick auf die eigene Person zerstört. Wie tragisch! Allerdings sollte das Bedauern für den mutmaßlichen Grenzüberschreiter nie größer werden als das Mitfühlen mit denen, die Schaden erlitten haben. Willow bleibt ein Stück Heimat, und ich hoffe, bete und wünsche, dass sich die Gemeinde erholt und die durch die Vorwürfe Abgestoßenen eine neue geistliche Gemeinschaft finden.
Im Rückblick auf diese und ähnliche Ereignisse stellen wir noch etwas anderes fest: Die Tatsache, dass sich ähnliche Geschichten seit Menschengedenken wiederholen, zeigt, dass Gott sie seinem Volk und seiner Gemeinde zumutet. Er verhindert nicht in jedem Fall, dass sein Ruf Schaden nimmt. Er stellt sich nicht immer schützend vor seine Gemeinde. Er fängt nicht alles auf, wehrt nicht alles ab. Wir kennen die Gründe dafür nicht wirklich, aber wir beginnen zu realisieren, dass er uns damit vor eine Aufgabe stellt: Wir müssen lernen, mit solchen Ereignissen umzugehen. Sie zu verarbeiten. Und vor allem begreifen, wie gefährdet jede christliche Nachfolge und im Speziellen jede christliche Führungstätigkeit ist. Vor allem: dass wir Führungskräfte respektieren, auf sie hören, sie gerne auch mögen, aber sie nicht anhimmeln (was für ein Wort!) und das, was sie sind, sagen und tun, nicht unkritisch hinnehmen. Dass wir also damit rechnen, dass auch sie Sünder sind, die Umkehr und Vergebung täglich (und manchmal besonders) brauchen. Darum schreiben wir nicht ein weiteres Buch über Qualität und Effektivität guter Leitung, kein christliches „From Good to Great“ (Jim Collins), sondern ein Buch, das sich den dunklen Seiten der Leitung widmet und nach Prophylaxe und Therapie fragt.
Noch etwas ist uns aufgetragen: Wir sind aufgefordert, aus dem Versagen von Führungskräften die richtigen Schlüsse zu ziehen. Was gilt es hier zu lernen? Zum einen für uns als Leitende, die wir für Menschen, Gruppen und Organisationen Verantwortung tragen? Lassen sich solche Skandale verhindern – oder zumindest einige davon? Wo nicht: Wie helfen wir den betroffenen Menschen, Kirchen und Organisationen, solche Schadensereignisse aufzuarbeiten? Wie verarbeiten wir sie für uns selbst und ganz persönlich? Und was hilft einer betroffenen Organisation, sich von einem solchen Tsunami zu erholen?
Es waren solche Fragen und Überlegungen, die uns zur Herausgabe dieses Buches veranlassten.
Was soll und will dieses Buch?
So schmerzlich, unangenehm und anspruchsvoll es ist: Wir müssen über Leitungsversagen sprechen. Müssen darüber schreiben. Angesichts ihres Zunehmens in den letzten Jahren brauchen wir nicht in erster Linie ein weiteres gutes Führungsbuch. Wir brauchen ein Orientierung gebendes Buch über das Scheitern von Führungspersonen. Jedes gute Führungsbuch verdient es, gelesen und gelebt zu werden. Was uns aber fehlt, ist eine neue Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass manche Leitende den Halt verlieren und abstürzen. Gerade weil dabei nicht nur die Führungsperson Schaden nimmt, sondern Dutzende, Hunderte, manchmal Tausende von Mitbetroffenen, kommen wir nicht darum herum, uns eingehender damit zu beschäftigen. Dieses Buch will einen Beitrag dazu leisten.
Damit verbunden sind auch ein paar Dinge, die wir nicht wollen.
Wir wollen die alten und neuen Skandalgeschichten nicht erneut aufwärmen. Das geschieht in diversen Medien und wird künftig vielleicht da und dort Gegenstand historischer Forschung sein. Unsere Aufgabe ist es nicht.
Wir wollen auch nicht analysieren, was genau ein Jim Bakker oder ein Bill Hybels falsch gemacht haben und weshalb Jean Vaniers oder Ravi Zacharias’ Sexgeschichten zeitlebens nie ans Licht gekommen sind.
Wir wollen uns nicht an den Gefährdungen und Sünden anderer ergötzen.
Wir wollen keine neuesten Enthüllungen ans Licht zerren.
Wir wollen aber genauso wenig Geschehenes relativieren, verharmlosen oder rechtfertigen.
Wir wollen auch nicht belehren und behaupten, es gäbe sieben niet- und nagelfeste Maßnahmen, dank derer Führungspersonen garantiert nicht scheitern.
Wir wollen etwas anderes.
Im ersten Teil dieses Buches wollen wir der Realität in die Augen schauen: Führungskräfte scheitern öfter, als wir es gerne hätten. Diese Tatsache versuchen wir in einen größeren Rahmen zu stellen und einzuordnen: ins große Bild der Bibel. Des Reiches Gottes. Ins Bild der Dynamiken, die in Organisationen wirken. Und im menschlichen Herzen. In jeder und jedem von uns.
Deshalb wollen wir uns selbst in die Reihe der Betroffenen und Gefährdeten stellen und nicht so tun, als könne uns so etwas niemals passieren.
Wir wollen zeigen, wie risikoreich die Aufgabe der Führung ist. Wo darin überall Fallen, Versuchungen und Abgründe lauern.
Und wir wollen lernen.
Wir wollen lernen, wie man mit eigenen Fehltritten umgehen kann.
Wie man mit den Fehltritten bewunderter Vorbilder umgehen kann.
Wir wollen zeigen, dass es kein Führen mit strahlend weißer Weste gibt.
Wir wollen hören und verstehen, was hilft, wenn es schiefläuft – bei uns selbst, bei anderen.
Wir wollen lernen, wie man wieder aufsteht, nachdem man gefallen ist.
Im zweiten Teil dieses Buches richten wir den Blick nach vorne.
Wir wollen verstehen, was uns hilft, dieselben Fehler nicht endlos zu wiederholen.
Was Organisationen tun können, um ihre Leitenden zu schützen, aber auch zur Rechenschaft zu verpflichten. Welche präventiv wirkenden Strukturen und Kontrollmechanismen mithelfen, Organisationen und deren Führungspersonen vor schmerzlichen Skandalen zu schützen.
Wir fragen nach Erfahrungen langjähriger Führungskräfte und lassen sie berichten, was ihnen hilft, den Gefährdungen des Leitens proaktiv zu begegnen.
Wir wollen die Bibel zu Wort kommen lassen und darauf hören, in welche schützenden Ordnungen Jesus Christus Leitende hineinstellt.
Über diese vielfältigen Auseinandersetzungen hinaus wollen wir mit diesem Buch den Glauben an unseren dreieinigen Gott stärken. Er ist wie kein anderer vertraut mit der schon seit Jahrtausenden dauernden Geschichte unzähliger Skandale im Leben von Leitfiguren des Glaubens. Wir nehmen staunend zur Kenntnis, dass er das Handtuch noch immer nicht geworfen hat. Dass er uns noch immer Leitung und Verantwortung anvertraut und neue Chancen gibt.
Deshalb wollen wir auch Mut machen. Mut, in unseren Leitungsaufgaben mit ihm zu ringen, zu glauben, zu hoffen – gerade angesichts schmerzlicher Schönheitsfehler an der Kirche und ihren Leitungspersonen – uns selbst eingeschlossen.
Sie begegnen in diesem Buch unterschiedlichen Autorinnen und Autoren mit unterschiedlichen Zugängen zum Thema. Manche Aussagen stehen in einer gewissen Spannung zu anderen. Diese inhaltliche und ökumenische Weite in der Beurteilung ist bewusst gewählt. Sie gibt Einblick in die Vielfalt christlicher Standpunkte beim Thema Scheitern von Führungspersonen. Mögen diese Beiträge zu weiterführenden Gesprächen anregen, bei denen auch unterschiedliche Sichtweisen ihren Platz haben und den Diskurs bereichern. Mögen dieses Buch Ihnen und Ihrer Organisation helfen, Führung nachhaltig zu gestalten!
Dank
Eine Reihe von Menschen haben uns bei der Konzeptionierung und Entstehung dieses Buches in besonderer Weise inspiriert, beraten und begleitet.
Wir danken Ulrich Eggers herzlich für die Ermutigung zu diesem Buch.
Wir danken Kai Scheunemann von Gerth Medien für seine überaus freundliche und kundige Begleitung dieses Projekts. Du hast uns großartig unterstützt!
Wir danken den weiteren Mitarbeitenden bei Gerth Medien, die kompetent an der Entstehung dieses Buches mitgewirkt haben.
Wir danken unseren Mitautorinnen und -autoren, die sich auf unsere Anfragen eingelassen und wegweisende Texte für dieses Buch verfasst haben. Ihr habt diesem Buch die nötige Weite, Tiefe und Relevanz verliehen!
Wir danken unserem Herrn Jesus Christus für seine ungebrochene Treue gegenüber seiner Kirche und ihren Führungspersonen. Danke, dass du uns Hinkende noch immer segnest und uns allen gerne hilfst, bessere Leiterinnen und Leiter zu werden!
Thomas Härry
Michael Herbst
Im September 2021