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Aus & vorbei:

Wenn alles den Bach runtergeht

Von Johannes Justus

Vor einigen Jahren rief mich an einem kalten Frühjahrstag ein aufgelöster Pastor einer größeren Freikirche an. Er teilte mir am Anfang des Telefonats mit, dass er meine Zeit sehr kurz beanspruchen will, weil er nur meinen Rat bräuchte.

Doch das Gespräch wurde immer länger. Er beschrieb mir darin seine Situation als völlig ausweglos. Als Präses unseres Pfingstbundes werde ich häufig von Leitern und Kirchen konsultiert, „wenn alles nicht mehr hilft“. Manchmal fühle ich mich dann wie ein Scheidungsanwalt. Lange Zeit wünschte ich mir, dass ich gerufen werde, bevor eine Situation ausweglos wird. Mit der Zeit lernte ich aber, dass es wohl nie so kommen würde, und lernte unter diesen Umständen zu arbeiten.

Im Folgenden beschreibe ich meine eigene Vorgehensweise als Mediator und nicht die Guidelines meiner Kirche. Gleichwohl war ich einige Zeit in der Gemeindeberatung des Bundes Freikirchlicher Pfingstgemeinden tätig und mein persönlicher Ansatz lehnt sich teilweise an die übliche Vorgehensweise des Bundes an.

Die Lage, in die sich dieser Pastor hineinmanövriert hatte, klang ernst, daher sicherte ich ihm zu, kurzfristig zu ihm zu reisen. Ich sagte einige Termine ab und reiste mit meiner Frau zu ihm nach Hause. Wir trafen uns als Ehepaare und sie schilderten uns unter Tränen die Krise, in der sie sich befanden.

Sein Führungsstil hatte zu einem großen Gemeindekonflikt geführt. Die Gemeinde drohte in viele Teile zu zerbrechen. Alle seine Versuche, die Konflikte zu managen, führten nur dazu, dass sich noch weitere auftaten. Sie fühlten sich hilflos, ausgegrenzt und von den eigenen Glaubensgeschwistern verfolgt, da er als Pastor einer Reihe von Schuldzuweisungen ausgesetzt war. Diese Konflikte stürzten seine Familie ebenfalls in eine Krise, sodass er anfing nicht nur seinen geistlichen Dienst, sondern alle Teile seines Lebens infrage zu stellen. Der vollständige Rückzug aus allen Bereichen des kirchlichen Lebens schien für ihn die beste Lösung zu sein.

Nachdem wir ihnen längere Zeit schweigend zugehört hatten, schlug ich ihm vor, dass ich als Nächstes das Gespräch mit seinem Gemeindevorstand und allen anderen Konfliktparteien suchen würde. Darüber hinaus bot ich ihm an, die Führung in einem Begleitungs- und Schlichtungsprozess zu übernehmen, falls auch die anderen Konfliktparteien dem zustimmen würden. Auf diesen Prozess musste er sich einlassen. Wenn alles den Bach runtergeht, wünscht man sich nichts mehr als eine schnelle Lösung, damit Leid und Schmerz möglichst zeitnah gelindert werden. Doch geht es in solch verfahrenen Situationen nicht ohne einen längeren Prozess der Mediation, Aufarbeitung und Beratung. Auch die Krise kam nicht über Nacht, sondern hat sich über einen längeren Zeitraum entwickelt. In dieser Kirchengemeinde sollte der Prozess über zwei Jahre dauern, bis alle Seiten wieder Frieden fanden, neue Wege gehen konnten und der Dienst dieses Pastors wiederhergestellt wurde.

Erste Hilfe und Analyse

Es folgten in kurzer Zeit mehrere Gespräche mit allen Konfliktparteien, um mir ein klares Bild zu verschaffen. Ich bat sie, in dieser Zeit keine weiteren Schritte zu unternehmen und auch keine Entscheidungen zu treffen. Alle durchlebten gerade eine Phase der Überspannung und Orientierungslosigkeit, in der keine weisen Entscheidungen getroffen werden konnten.

Wenn die Krise ihren Zenit erreicht, kommen Leitende oft in einen Zustand der Unzurechnungsfähigkeit. Daher empfehle ich immer, einen externen Berater zu konsultieren. In den eigenen Kreisen, die Teil der Krise sind, stößt man als Betroffener entweder auf solidarischen Zuspruch oder auf massive Anfeindungen. Beide Seiten sind in ihrem Urteil befangen. Darüber hinaus zerbrechen unter Umständen große Teile des eigenen Lebens und man steht vor Versagen, Ohnmacht und Hilflosigkeit. Fragen nach dem Sinn, nach eigener Schuld und nach Gott werden laut, und häufig ist man nicht in der Lage, diese Fragen zu beantworten. Hier ist eine professionelle Begleitung notwendig, die die Metaperspektive einnimmt. Durch seine Distanz kann der Berater die Sache nüchterner betrachten. In einem ersten Schritt wird er Erste Hilfe für die Betroffenen leisten und gleichzeitig die Situation analysieren.

Der innere Kreis

Ich empfehle, dass der Berater vorübergehend Teil des „inneren Kreises“ des zu Begleitenden wird. Zum inneren Kreis zähle ich Personen, denen man erlaubt, einen wirklich zu kennen, und dem man die Geheimnisse des eigenen Herzens anvertraut. Es sind Menschen, vor denen man laut denken kann. In dem inneren Kreis offenbart man auch seine Schwächen, Ängste und Zweifel. Dieser Kreis hat das Mandat, die eigenen Schwächen anzusprechen, für die man oft betriebsblind ist. Sie können sich mit einem freuen und mit einem weinen. Sie werden einen nicht bekämpfen oder beneiden. Sie fangen einen auf, wenn man gefallen ist.

Teil des inneren Kreises zu werden hat natürlich nicht nur Vorteile. So kann man als Begleiter von der Person, die man begleitet, vereinnahmt oder von der gegnerischen Partei als befangen eingeschätzt werden. In der säkularen Psychologie würden einige Experten von dieser Vorgehensweise abraten. Doch ist im christlichen Sektor eine Transparenz der Führungskraft in sehr vielen Lebensbereichen notwendig, damit der Begleitungsprozess gelingen kann. Daher halte ich es für sinnvoll, dass man im Prozess als „geistliche Geschwister“ und Kollegen auch auf einer freundschaftlichen Basis zusammenarbeitet. So entsteht mehr Transparenz, da der geistliche Leiter eher Vertrauen fassen kann und eher bereit ist auch unangenehme Punkte anzusprechen. Ich stelle am Anfang solcher Begleitungsprozesse immer klar, dass das Ergebnis des Prozesses offenbleibt und ich bei aller Sympathie professionell agieren werde. In anderen Seelsorgefällen würde ich von dieser Vorgehensweise abraten.

Auch Jesus schien solch einen kleinen Kreis von Jüngern zu haben, der ihm näherstand als die anderen Jünger. Es waren die Apostel Johannes, Petrus und Jakobus der Ältere (Mt 26,37; Mk 5,37; 9,2; 13,3; 14,33; Lk 8,51; 9,28; Joh 13,23 usw.).

Jeder Leiter sollte über solch einen inneren Kreis verfügen, denn er beugt vielen Stolpersteinen vor. Die größten Fehler begehen Leitende, wenn sie über einen langen Zeitraum ihre Arbeit nicht mit anderen reflektieren und sich kein Feedback einholen bzw. Räume in ihrem Leben haben, die allen anderen verborgen bleiben. Führungspersönlichkeiten, die keinem Gegenüber Rechenschaft ablegen, verlieren auf Dauer das richtige Maß aus den Augen. Die meisten Führungspersönlichkeiten, die sich selbst aufgrund von Fehlverhalten in eine schwere Krise manövriert haben und die ich begleitet habe, hatten keinen funktionierenden inneren Kreis.

Je früher eine Führungspersönlichkeit sich für andere Menschen öffnet, die reif und vertrauenswürdig sind und so einen „inneren Kreis“ bilden, desto besser. Diese vertrauenswürdigen Wegbegleiter zu finden benötigt Zeit. Vielleicht beginnt man mit einer Person, aber es sollten meiner Meinung nach mindestens zwei Personen werden.

Dieser Kreis ist nicht statisch und verändert sich mit den Aufgaben und Rollen der Führungskraft, da derselbe innere Kreis wahrscheinlich nicht in allen Lebensabschnitten hilfreich sein wird. Eine Führungskraft, die ihre Tätigkeit wechselt, sollte in ihrem inneren Kreis bald jemanden berufen, der mit den Herausforderungen der neuen Tätigkeiten vertraut ist. Als ich Pastor einer kleinen Pfingstgemeinde in der niedersächsischen Provinz war, hatte ich andere Persönlichkeiten in meinem inneren Kreis als gegenwärtig in dem übergemeindlichen Dienst.

Sollte man sich in der späteren Phase des eigenen Dienstes kurzfristig auf die Suche nach einem inneren Kreis begeben, muss man darauf achten, dass man sich nicht Berater sucht, die das eigene Fehlverhalten billigen. Leider musste ich in der Vergangenheit besonders bei Untreue und sexuellen Übertretungen feststellen, dass sich betreffende Leiter gerne an säkulare Berater wandten, die nichts Verwerfliches an ihrem Handeln fanden. Dies war meist nicht hilfreich und führte dazu, dass Ehen zerbrachen und die Leitenden nicht mehr in den geistlichen Dienst zurückkehren konnten.

Der innere Kreis hat aber nicht nur korrigierenden Wert. Er schützt in der Krise auch durch sachlichen Rat. Wenn die Übertretung eines Leiters oder einer Leiterin größere Ausmaße annimmt, wird die Öffentlichkeit unbarmherzig. Es entstehen Internetseiten, die nur den Zweck verfolgen, die betreffenden Führungspersönlichkeiten öffentlich zu diskreditieren. Sich mit allen Anschuldigungen auseinanderzusetzen kostet viel Kraft und schmerzt ungemein. Der innere Kreis hilft den Betroffenen, sich auf das Wesentliche zu fokussieren, unangebrachter Kritik nicht zu viel Gehör zu schenken und, wenn notwendig, einen Heilungsprozess zu beginnen.

Den Fokus überprüfen

Wenn ein geeigneter Berater gefunden wurde und Teil des inneren Kreises geworden ist, erfolgt die Analyse des Geschehenen. Was ist eigentlich passiert und warum? Dieser Frage gilt es sich nun gemeinsam zu stellen, damit sie beantwortet werden kann. Häufig hilft dabei, erst einmal Distanz zu dem Geschehenen zu schaffen, indem man den Betroffenen eine zeitliche Pause oder einen Urlaub gibt, sodass sie das alte Umfeld zunächst verlassen. Die Länge des Zeitraums ist von der Schwere des Fehlers und von dem Ausmaß des entstandenen Schadens abhängig. In manchen Fällen reichen einige Wochen und der oder die Leitende kann in dieser Zeit noch einige operative Aufgaben übernehmen. In anderen Fällen müssen Leitende für mehrere Monate freigestellt werden.

Während der Analyse sind Ehrlichkeit und Einsicht der betroffenen Führungskraft gefragt, andernfalls kann der Begleitungsprozess nicht beginnen. Schaut man auf das eigene Scheitern, steht man in der Gefahr, auf zwei Seiten vom Pferd zu fallen. Die einen reden sich das Geschehene schön und machen Aussagen wie: „So etwas passiert doch jedem einmal“ oder „Eigentlich haben doch die anderen Schuld daran gehabt und weniger ich selbst“. Andere stürzen sich in Selbstverdammnis. Beides ist nicht hilfreich.

Die Werte nachjustieren

Mein nächster Schritt als Berater ist, die Werte der Führungsperson in Erinnerung zu rufen. Was war der Grund, dass sie die eigenen Werte aus dem Blick verloren hat? Jede Leitungskraft sollte klare Werte haben – sie machen gute Leiter und Leiterinnen aus. Drei Werte halte ich in Bezug auf geistliche Führungskräfte für essenziell, wobei ich betonen muss, dass meine Aufzählung nicht erschöpfend ist.

Der erste Wert sollte die Gottesfurcht sein. Das Wort mag für den einen oder anderen etwas altmodisch klingen, allerdings ist Gottesfurcht für jeden Glaubenden essenziell, besonders für Personen mit einer Leitungsfunktion. König Salomo schrieb, dass die Gottesfurcht „der Anfang der Erkenntnis“ ist (Spr 1,7). Auch das Neue Testament spricht häufig von der Gottesfurcht (z. B. Röm 11,20ff; Phil 2,12f; 1Petr 1,17ff). Für Johannes darf sie nicht als eine Furcht vor Gott verstanden werden (1Joh 4,17f). Resümierend lässt sich sagen, dass sie die Einsicht ist, dass wir in Christus keine Autonomie über das eigene Leben haben, denn „man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29). Sie schlägt sich in der Praxis als eine Ehrfurcht vor der neutestamentlichen Ethik nieder. Als Christen können wir nichts mehr fürchten oder lieben als Gott selbst und folglich werden wir seinen Anweisungen das größte Gewicht in unserem Leben als Glaubende einräumen. Leider begegnen mir immer wieder Geistliche, die klare biblische Werte bagatellisieren.

Darüber hinaus ist es essenziell, dass Leitende mit Stolz umgehen können. Über Stolz wird in christlichen Kreisen viel gesprochen und doch ist keine leitende Person, die gute Arbeit macht, davor gefeit. Führungspersonen werden sogar nahezu blind dafür, wenn sie über lange Strecken ihres Lebens erfolgreich waren. Sehr einflussreiche Führungspersonen stehen in der Gefahr, ab einem gewissen Punkt ihres Lebens fast schon an Realitätsverlust zu leiden, besonders dann, wenn ihnen jahrelang zugejubelt wurde. Selbst bei offensichtlichem Fehlverhalten ihrerseits sind sie dann nicht mehr in der Lage, Fehler einzugestehen. Sie haben dies in einer gewissen Weise verlernt. Stolze Persönlichkeiten sind so überzeugt von sich, dass sie sich in ihre Ideen, Ansichten und Vorlieben verlieben und sie zum Maßstab für andere machen. Die Bibel sagt, dass Gott dem Stolzen widersteht (Jak 4,6). Es ist sehr unangenehm, Gott als Widerstandskraft zu erfahren.

Jesus wird im Neuen Testament das Attribut „wahrhaftig“ zugeschrieben (Mk 12,14; Offb 19,11), denn er galt als absolut vertrauenswürdig. Wahrhaftigkeit ist eine innere Haltung, die nach Wahrheit sucht. Im kirchlichen Sprachgebrauch verwendet man in Bezug auf Leitende auch den etwas abgegriffenen Begriff Integrität. Geistliche Leitungspersönlichkeiten sollten tun, was sie sagen, und sagen, was sie getan haben.

Aus meiner Sicht scheitern die meisten Leitenden, wenn sie einen oder mehrere dieser Werte aus den Augen verlieren. Leitende werden nicht im luftleeren Raum geformt, sondern schauen auf einen Sozialisationsprozess zurück, der auch säkulare Prägungen enthält. Jeder Glaubende steht vor der Herausforderung, dass er Dinge als gebräuchlich verstehen kann, die ihm nach der Bibel fremd sein sollten. Schon zu Paulus’ Zeiten standen die Glaubenden vor dieser Herausforderung, daher ruft er sie im Römerbrief auf, ihr Denken zu erneuern: „Richtet euch nicht länger nach den Maßstäben dieser Welt, sondern lernt, in einer neuen Weise zu denken“ (Röm 12,2; NGÜ). Besonders Leitende sollten darauf achten, dass ihr Denken permanent erneuert wird und sie ihre Werte immer wieder nachjustieren.

Neue Wege beschreiten

Der Pastor, den ich eingangs erwähnte habe, hatte einige seiner Werte aus dem Blick verloren. Die vielen Jahre, in denen er eine gute Arbeit geleistet hatte, blieben nicht unhonoriert. Er genoss ein gewisses Ansehen in seiner Kirchengemeinde und darüber hinaus. Er wurde als Sprecher in andere Kirchen eingeladen. Das ganze Lob ließ ihn immer mehr glauben, dass der Erfolg auf seine eigenen Fähigkeiten zurückzuführen war, auch wenn er es selbst nicht so formuliert hätte. In der Folge ging er mit seinen Mitarbeitern zunehmend diktatorisch um. Er wollte in allen Bereichen des gemeindlichen Lebens seinen Einfluss bewahren – wurde kontrollierend und beherrschend. Entscheidungen seiner Mitarbeiter, die sie in mühseligen Prozessen über lange Zeiträume erarbeitet hatten, wurden von ihm infrage gestellt und oft rückgängig gemacht. Er übte Druck auf seine Mitarbeiter aus, wenn sich Dinge seiner Kontrolle und seinem Mitspracherecht entzogen oder er anderer Meinung war als seine Mitarbeiter. In einer kleinen Kirchengemeinde ist es oft üblich, dass Pastoren auf alle Geschehnisse Einfluss nehmen. Allerdings ist dies nicht empfehlenswert, weil es ihnen kostbare Zeit und Ressourcen raubt und die Entwicklung der Glaubensgeschwister ausbremst. In einer großen Kirchengemeinde ist dieses Verhalten richtig kontraproduktiv. Man muss als Führungskraft andere Personen bevollmächtigen, freisetzen und ihnen vertrauen. Dies gelang ihm leider nicht und hatte zur Folge, dass alle wichtigen Mitarbeiter ihm die künftige Zusammenarbeit verweigerten.

Hätte man ihn vor Jahren getroffen und ihm von solch einem beherrschenden Führungsstil berichtet, hätte er klargestellt, dass solch ein Führungsstil ungeeignet sei. Doch über die Jahre des Erfolgs ist er für seine eigenen Fehler blind geworden.

Wie gut, dass er in unserem Begleitungsprozess einsichtig war. Er ließ sich führen und überdachte seine alten Vorgehensweisen, auch wenn dies schmerzhaft war. Er arbeitete intensiv an seinem Charakter und bat seine Mitarbeiter um Vergebung für sein Fehlverhalten. Schließlich konnte er nach einem längeren Befriedungsprozess wieder die Hauptleitung seiner Kirchengemeinde übernehmen.

Wann Rehabilitierung möglich ist

Man könnte sagen, dass der Erfolg einer Rehabilitierung von zwei Faktoren abhängig ist: von dem Ausmaß der Übertretung der Führungskraft und von ihrem Umgang mit den Folgen.

Wenn eine leitende Person wenig Bereitschaft zeigt, ihren falschen Kurs aufzugeben, wird es kaum Möglichkeiten für sie geben, in den kirchlichen Dienst zurückzukehren. Die Einsicht, dass man sich auf einen falschen Kurs begeben hat, muss zeitnah kommen. Je länger eine Führungsperson auf dem falschen Kurs verharrt, desto schwerer wird ihre Rehabilitierung. Dass Gott gnädig vergibt, trifft nicht zwingend auf Menschen zu. Selbst wenn die Betroffenen sich gegenseitig Vergebung zusprechen, so bleibt ein Misstrauen und macht die Aufnahme der alten Tätigkeit mit der Zeit immer unwahrscheinlicher.

Doch auch wenn man rechtzeitig einlenkt, bedeutet das nicht, dass man als Führungskraft wieder an der alten Wirkstätte tätig werden kann. Manches Mal sind die zwischenmenschlichen Beziehungen durch das Fehlverhalten des Leiters oder der Leiterin dermaßen erschöpft, dass eine Rückkehr zu den „guten alten Zeiten“ unrealistisch ist. Das muss man schlicht akzeptieren. Damit will ich keine Hoffnungslosigkeit propagieren, doch muss man sich von dem Gedanken verabschieden, dass alles so wie früher werden kann. In mehreren Fällen musste ich kirchlichen Führungskräften auch die Ausübung eines neuen Berufs nahelegen.

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass das gesellschaftliche Urteil immer besser ausfällt, wenn die betreffende Führungskraft ihre Schuld selbst zur Sprache bringt. In der Wirtschaft kann z. B. jemand, der sich selbst anzeigt, eine Strafmilderung aufgrund tätiger Reue erfahren. Ähnlich verhält es sich im Urteil der Glaubensgeschwister.

Ich habe bereits bei allerlei Übertretungen von Führungspersonen als Berater fungiert: bei Machtmissbrauch, Manipulation, sexuellen Übertretungen, Veruntreuung von Geldern und fahrlässigem Handeln. Leider war eine große Zahl nicht bereit, ihre Übertretungen zeitnah einzusehen. Bei einigen brauchte es eine längere Leidenszeit, andere wurden nie einsichtig. Manches Mal machte man auch dämonische oder teuflische Kräfte für die eigenen Übertretungen verantwortlich. In den meisten Fällen aber war das große Ego der Person der Grund für die Uneinsichtigkeit.

Besonders schwer sind frisch Verliebte von ihrem Kurs abzubringen. „Kann denn Liebe falsch sein?“, wurde ich von einem Leiter gefragt, der mit einer Mitarbeiterin in der Kirchengemeinde fremd gegangen war. Meine Antwort fiel kurz aus: „Ja.“ Für Ehebruch finden christliche Führungskräfte häufig sehr geistlich anmutende Gründe. Besonders in der frühen Verliebtheitsphase lassen Menschen sich zu irrationalen Dingen hinreißen und argumentieren unvernünftig. Nur ein halbes Jahr später bereuen sie dann die eigenen Handlungen sehr. Die Phase der Verliebtheit hält nie allzu lange an, da sich der Körper nach einigen Monaten an die sensorische Veränderung im Gehirn gewöhnt.

Wie eine Rehabilitierung möglich ist

Wenn die Führungskraft einsichtig und korrekturbereit ist, kann der nächste Schritt der Wiedereingliederung erfolgen. Dies kann unter Umständen bedeuten, dass sie sich in eine seelsorgerliche bzw. therapeutische Behandlung begibt. Beispielsweise brauchen Paare eine engmaschige Begleitung, wenn die Ehe aufgrund der Übertretungen der Führungskraft in Mitleidenschaft gezogen wurde. Dies erfordert oft zusätzliche seelsorgerliche Qualifikationen. Ein Berater ist nicht zwingend ein Therapeut und ich empfehle, diese beiden Aufgaben zu trennen.

Bei Leitenden, die einsichtig sind, erlebe ich sehr häufig, dass sie Mühe haben, sich selbst zu vergeben, und es ihnen daher auch schwerfällt, in den geistlichen Dienst zurückzukehren. Sie betrachten die eigene Person als unehrenhaft oder unwürdig und werden vom schlechten Gewissen geplagt, wenn sie wieder vor einem Publikum stehen.

Der gnadenlose Umgang vieler Glaubensgeschwister mit ihnen macht es ihnen nicht leichter. Die Sensationslust der Menschen führt häufig dazu, dass die Krise der Führungskraft für eigene Zwecke ausgeschlachtet wird und viele peinliche Details öffentlich verbreitet werden. Das Wissen der Führungskräfte über den gnadenlosen Umgang der Öffentlichkeit mag den einen oder anderen auch in ein Doppelleben zwingen. Führungskräfte wissen, dass ihre Fehler anders bewertet werden, und dass an einem Tag alles zerbrechen könnte, was sie in vielen Jahren mühsamer Arbeit aufgebaut haben.

Wir kennen die Redewendung „eine Leiche im Keller haben“. Laut Volksmund soll jeder in der Vergangenheit Schuld auf sich geladen haben. Dies trifft sicherlich zu. In Anbetracht dieser Tatsache und in Anbetracht dessen, dass wir einen liebenden und vergebenden Gott haben, dürfen wir als Glaubende barmherziger mit Leitenden umgehen.

Daher trainiere ich Führungskräfte nach dem Crash, Gottes Vergebung anzunehmen. In Micha 7,18f legt der Prophet Gottes Vergebung dar und bedient sich der Metapher des tiefen Meeres für das Vergessen der eigenen Sünden. Dieses Bildes bediene ich mich gerne bei der Begleitung. Der Leitende muss eventuell neue Verhaltensregeln erlernen und sich an diese halten. Auch dies ist unangenehm und mühsam, aber unumgänglich.

Wenn es in einer Kirchengemeinde zu einem größeren Konflikt kommt, in dem sich mehrere Lager gebildet haben, dann ist es sinnvoll, nicht nur für die Führungsperson einen Begleiter zu finden, sondern auch für die Kirchengemeinde. Meiner Erfahrung nach ist es dabei nicht sinnvoll, dass dieser Begleiter lediglich eine Beratungsposition übernimmt. Auf diese Weise bleiben die streitenden Parteien in Verantwortung und können jeden guten Rat missachten. Daher empfehle ich, dass der oder die beiden Begleiter durch ein Votum der Kirchengemeinde oder eines Kirchenrats zu den Prozesseignern auf Zeit gewählt werden. So ist effektives Arbeiten eher möglich und der Frieden kann früher hergestellt werden.

Zwei Begleiter bringen entscheidende Vorteile mit sich. Ein Begleiter kann immer wieder auf die Seite dessen gezogen werden, den er vertritt. Dies kann zu Unverhältnismäßigkeiten in der Krise führen und weitere Konflikte schüren. Zwei Berater sind in der Lage, zwei Seiten zu vertreten und sich gegenseitig zu schützen. Dabei haben die zwei Seiten jeweils einen Fürsprecher und jemanden, der ihnen zuhört und sie im Blick hat. Die beiden Begleiter schaffen dadurch eine Allparteilichkeit und stabilisieren eine Krisensituation. Im Gespräch untereinander reflektieren sie gemeinsam die Krise und sich, was erfahrungsgemäß zu guten Ergebnissen führt.

Lasst Milde walten

Ein Bibelvers hat sich in den letzten Jahren zu meinem Leitspruch in der Begleitung von gestrauchelten Führungskräften herauskristallisiert.

„Liebe Freunde, wenn ein Mensch einer Sünde erlegen ist, dann solltet ihr, deren Leben vom Geist Gottes bestimmt ist, diesem Menschen liebevoll und in aller Demut helfen, wieder auf den rechten Weg zurückzufinden. Und pass auf, dass du nicht in dieselbe Gefahr gerätst“ (Gal 6,1; NLB).

Der Apostel Paulus mahnt uns darin, Milde gegenüber denen walten zu lassen, die es augenscheinlich am wenigsten verdient haben: Gefallenen oder Sündern. Unser Ziel sollte stets bleiben, dass sie wieder auf den rechten Weg zurückfinden. In Bezug auf Führungspersonen ist mir dabei die Wiederherstellung wichtig geworden. Gleichzeitig sollte man auf sich selbst achthaben, dass man nicht selbst fällt. In meinen jungen Glaubensjahren habe ich schnell den Zeigefinger bei den Übertretungen anderer gehoben, doch musste ich mit den Jahren feststellen, dass die Warnung des Apostels Paulus nicht von ungefähr kommt. Jeder Glaubende steht in der Gefahr, biblische oder ethische Maßstäbe zu überschreiten. Angesichts dessen und in Anbetracht unserer Aufgabe, Liebe und Annahme zu leben, sollten wir uns die Frage stellen, ob es nicht besser ist, auf gescheiterte Führungskräfte zuzugehen und ihnen die Hand zu reichen, statt über sie zu reden.

Fragen zum Nach-Weiter-Selber-Denken

 Haben Sie einen „inneren Kreis“? Personen, denen man erlaubt, einen wirklich zu kennen, und denen man die Geheimnisse des eigenen Herzens anvertraut? Menschen, vor denen man laut denken darf? Ein Kreis, in dem man auch seine Schwächen, Ängste und Zweifel loswerden kann?

 Was sind Ihre persönlichen Werte, Ihr Kompass bei der Führung von Menschen? Für Johannes Justus sind das „Gottesfurcht“, „Umgang mit Stolz“ und „Wahrhaftigkeit“. Für Sie?

 „Liebe Freunde, wenn ein Mensch einer Sünde erlegen ist, dann solltet ihr, deren Leben vom Geist Gottes bestimmt ist, diesem Menschen liebevoll und in aller Demut helfen, wieder auf den rechten Weg zurückzufinden. Und pass auf, dass du nicht in dieselbe Gefahr gerätst.“ (Gal 6,1 NLB). Wie können Sie eine Kultur der Milde in ihrer Gemeinde/Organisation etablieren?

Literatur zur Vertiefung

Bonhoeffer, Dietrich, Gemeinsames Leben, Gütersloh 2018.

Haller, Reinhard, Das Wunder der Wertschätzung: Wie wir andere stark machen und dabei selbst stärker werden, München 2019.

Merath, Stefan, Der Weg zum erfolgreichen Unternehmer. Wie Sie und Ihr Unternehmen neue Dynamik gewinnen, Offenbach 2008.

Sande, Ken, Sei ein Friedensstifter: Das Handbuch zur biblischen Konfliktlösung, Oerlinghausen 2015.

Van Yperen, Jim, Making Peace: A Guide to Overcoming Church Conflict, Chicago 2002.

Johannes Justus (1957) ist Präses des Bundes Freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP), Mitglied des Hauptvorstands der Evangelischen Allianz und war bis zum Jahr 2021 leitender Pastor der Christengemeinde Elim in Hannover. Er ist als Coach, Supervisor, Gemeindeberater und Konferenzsprecher national und international tätig.

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