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VORWORT

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November 1939: »Ich weiß schon, warum dieser Hitler uns in der Nacht fahren lässt: damit wir den Weg zurück nicht finden können«, sagt er zu seiner Mutter.

Intuitiv spürt Klaus als kleiner Junge von fast fünf Jahren die Wahrheit. Gerade kommen sie, die Mutter und ihre sechs Kinder mit der Tante, in Gdingen im Hafen an. Mit dem Schiff sind sie bei Tag von Riga weggefahren. Die Baltenfamilie soll in den Warthegau umgesiedelt werden. Jetzt steigen sie in den Zug nach Posen ein. Es ist Nacht. Der Zug ist unbeleuchtet. Licht gibt es nicht.

Valja erzählte uns in der ersten Ausgabe von Wer Beine hat, der laufe ihre Fluchtgeschichte. Klaus ist ihr jüngerer Bruder.

Januar 1945: Fünf Jahre später muss die Familie vor den Russen aus Posen fliehen, aus dem Warthegau. Mitten in der Nacht, bei klirrender Kälte, mit zwei Schlitten. Alle fliehen. Valjas Familie, das sind sechs Kinder und zwei Erwachsene, auch Eberhards Mutter mit ihren sechs Kindern und Hella mit ihrer Schwester, ganz alleine, ohne Erwachsene. Sie alle ziehen am 20. Januar 1945 aus Posen und Kolmar, aus dem Warthegau, dem deutschen Mustergau, los.

Die sowjetische Winteroffensive beginnt mit einer 1200 Kilometer breiten Front von der Ostsee bis zu den Karpaten am 12. Januar 1945. Die deutschen Verteidigungslinien »fallen wie ein Kartenhaus zusammen«. Am 16. Januar 1945 überschreitet die Rote Armee die Ostgrenze des Reichs. Die deutsche Bevölkerung flieht millionenfach. Für ein organisiertes Fortkommen ist keineswegs gesorgt. Es gilt der Befehl, dass die militärischen Transporte absoluten Vorrang haben, überall. »Die Wehrmacht sieht die Flüchtlinge als Störfaktoren an«, schreibt der Historiker Dr. Heinrich Schwendemann in seinem Artikel »Flucht und Vertreibung der ostdeutschen Bevölkerung 1944–47/48: Ursachen und Ereignis«, in dem von Christoph Koch herausgegebenen Buch War die Vertreibung Unrecht?.

Fast im Wochentakt machen sich Hunderttausende Mütter mit ihren Kindern und den Älteren auf die Flucht in den Westen. Das belegen in unserem Buch die Fluchtdaten der Zeitzeugen auf der Fluchtkarte im Rückendeckel des Buchs. Ende Januar stehen die Russen schon 60 Kilometer vor Berlin.

Die Interviews mit den Zeitzeugen, die ich ausgesucht habe, erzählen uns von ihrer meist überstürzten Flucht im Winter 1945. Ich habe die Sprache der Erzählenden bei der Verschriftlichung unverändert gelassen und alle Angaben sorgfältig recherchiert. Die Interviewten bestimmten selbst den Verlauf der Gespräche, die in der wissenschaftlichen Methode der »oral history« geführt sind. Diese Darstellung fußt auf dem großen Forschungsprojekt, das vom Vertriebenenministerium der neuen Bundesrepublik Anfang der Fünfzigerjahre in Auftrag gegeben wurde. Interessierte Bürger hatten die Gelegenheit, die Erlebnisse auf ihrer Flucht und ihrer Vertreibung in den Jahren 1944 bis 1947/48 aufzuschreiben. Diese »mündlich erzählte Geschichte« wurde bekannt als »oral history«. Hunderttausende Berichte über diese Zeit liegen der »Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa«, Bonn, vor. Sie sind wertvolles Quellenmaterial für die Zeithistoriker.

In dieser aktualisierten Neuauflage der Fluchtberichte der letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen lesen wir, wie deutsche Familien im Winter 1945 in den Westen kommen. Mit ihren Trecks oder zu Fuß fliehen sie aus ihrer Heimat in Ostpreußen und in Westpreußen, im Warthegau oder in Ostbrandenburg. Berichte aus den Gebieten Hinterpommern, Sudetenland und Schlesien sind neu hinzugekommen. Alle Familien flüchten in der Zeit Ende Januar bis Anfang März 1945. Die Familien aus Hinterpommern, aus Niederschlesien und aus dem Sudetenland werden zusätzlich noch vertrieben. Die Sudetendeutschen kommen 1946 zu der großen Flucht- und Vertreibungsgruppe dazu. Der Bogen der Fluchtgeschichten geht von der Vorkriegszeit über den Kriegsanfang mit dem Erleben des Einmarsches der deutschen Wehrmacht in Polen bis zur oft überstürzten Flucht und Vertreibung.

Jede Fluchtgeschichte ist ein besonderer Ausschnitt aus dem Leben der geflüchteten Menschen. Manchmal lange gehütet oder auch verschlossen. Es kostet die älteren Menschen Kraft, das Wiedererwachen der Erinnerungen an die Erlebnisse zuzulassen. Jedoch vertrauensvoll erzählen und zuhören zu können, gibt einen besonderen, geschützten Raum frei. Im Grunde ist es ein Geschenk für beide – Interviewte und Interviewer –, Einblicke in diesen oft beschwerten Teil ihrer Biografie zu geben und zu bekommen. Für ihre vertrauensvolle Offenheit danke ich meinen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern. Sie haben sich bereit erklärt, sich noch einmal auf diese Zeit einzulassen und ihre Erfahrungen veröffentlichen zu lassen. Sie wollen die Geschichten an ihre Altersgenossen und an die junge Generation weitergeben. Dafür danken wir von Herzen.

Heide Scherer

im Mai 2021

Wer Beine hat, der laufe

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