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HELLA

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Für die tapferen deutschen Mädchen, die sich als Erste bis Berlin durchgeschlagen haben!

Es ist der 2. Juni 2007, ein freundlicher, sonniger Vormittag. Ich bin in München nahe der Isar, in einer Straße mit Häusern aus der Gründerzeit.

Meine erste Interviewpartnerin wohnt hier. Sie ist bereit, mir ihre Fluchtgeschichte zu erzählen. Damals, im Januar 1945. Völlig überraschend und überstürzt musste sie mit ihrer Schwester von der Schulbank weg fliehen.

Das Treppenhaus mit der geschwungenen Eichentreppe und dem gedrechselten Geländer aus der Gründerzeit erinnert mich an mein Elternhaus. Ich bin erwartungsvoll gestimmt. Wen werde ich antreffen? Werden wir zwei Frauen in einer Atmosphäre der behutsamen Offenheit von den Erlebnissen hören? Wie werden ihre Erzählungen auf uns beide wirken?

An der Wohnungstür erwartet mich eine freundliche ältere Dame. In ihrem Wohnzimmer liegen schon die Unterlagen zu ihrer Flucht auf dem großen Eichentisch. Auch Fotos hat Hella bereitgelegt. Dann beginnt sie zu erzählen.

Mein Vater war vor dem Krieg Auslandskorrespondent bei verschiedenen großen Zeitungen in Italien und Frankreich. Ja, die Drohung eines Krieges war 1938 zum ersten Mal akut. Wir lebten damals in Paris und sind sofort vor dieser Drohung geflohen. Die Franzosen wollten die Deutschen ja bei Kriegsausbruch internieren, wenn es dazu gekommen wäre. Mein Vater wusste das. Er hat uns in zwei verschiedenen Autos zum Bahnhof bringen lassen und uns in den Zug gesetzt. Wir sind zu meiner Tante nach Lüdenscheid gefahren, ganz normal im Zug, fast ohne Gepäck.

Der Krieg brach dann doch nicht aus. So sind wir im Herbst wieder zurückgefahren. Dort haben wir weiter in unserer kleinen Villa am Rand von Paris gewohnt.

1939 war wieder diese Kriegsdrohung. Aber diesmal hatten meine Eltern nicht daran geglaubt. Im August 1939 sind wir mit unseren Sommerkleidchen zu einer anderen Tante gefahren. Es ging nach Pommern in die Sommerferien. Diese Tante hatte einen sehr großen Bauernhof. Meine Mutter musste damals nach Marienbad zur Kur. Und so waren wir drei Kinder alleine bei meiner Tante geblieben und dort versorgt worden. Das war alles wunderschön. Wir haben das sehr genossen.

Und plötzlich, am 1. September 1939, brach der Krieg wirklich aus. Und wir waren noch in Deutschland. Meine Mutter kam Gott sei Dank an dem Tag aus Marienbad zurück, sodass wir wieder zusammen waren. Aber nun war natürlich keine Möglichkeit mehr, nach Paris zurückzukehren. Und wir saßen da mit unseren Sommerkleidchen. So sind wir wieder nach Lüdenscheid zurück zu meiner anderen Tante gefahren. Die war sehr großzügig. Außerdem war sie die Lieblingsschwester meiner Mutter. Bis Weihnachten 1939 haben wir dort gewohnt.

Von Paris sind wir dann nach Berlin umgezogen. Mein Vater wurde vom Oberkommando der Wehrmacht, dem OKW, als Sonderführer im Hauptmannsrang eingezogen. Er sprach fantastisch Französisch und als Balte auch Russisch. Man brauchte ihn als Fachwissenschaftler sozusagen. Nach der Eroberung von Paris wurde er als Verbindungsoffizier nach Frankreich entsandt. Dort hat er zwei oder drei Jahre lang Dienst getan.

Er hat auch unser Haus in Paris wieder gefunden. Das war völlig unzerstört. Unsere Sachen waren alle noch vorhanden. Franzosen hatten in diesem Haus gewohnt. Das Essen stand noch auf dem Tisch. Die Anzüge meines Vaters waren verschwunden und auch alle Papiere. Aber sonst, die ganzen Möbel und das Silberzeug waren noch da. Das wurde alles nach Berlin geholt und dort eingelagert, weil wir ja kein eigenes Haus mehr hatten. Dort wurden die Sachen zerbombt und sind verbrannt.

Die Familie war jetzt in Deutschland und mein Vater alleine in Paris. Aber er kam immer wieder zu Besuch zu uns. Wir hatten in Berlin-Schlachtensee eine möblierte Wohnung gemietet, direkt am See, wahnsinnig romantisch und groß.

Mein Vater wurde vom OKW in die Wlassow-Geschichte einbezogen. Weil er so gut Russisch konnte, hat er die Flugblätter entworfen. Das war eine ganze Gruppe von Offizieren, die General Wlassow überreden wollten und es auch geschafft haben, auf der Seite Deutschlands gegen die Kommunisten zu kämpfen. Wlassow war Weißrusse und kein Kommunist. Aber das ist eine ganz eigene Geschichte. Deswegen war mein Vater in Berlin am OKW und nicht an der Front.

Nun muss ich etwas ausholen: Die Balten wurden von Hitler 1939 aus dem Baltikum umgesiedelt. Das war der Vertrag mit Stalin: Alle Deutschen raus, damit Stalin das Gebiet mit Kosaken besetzen konnte. Die baltischen Adelsleute, in der großen Zahl Gutsbesitzer, wurden in Polen, in den Warthegau und in das Gouvernement Warschau, umgesiedelt. Polen war indessen aufgeteilt. Dort wurden sie mit den polnischen Gütern entschädigt. Anstelle des Gutes im Baltikum bekamen sie ein Gut in Polen.

Die elfjährige Hella (vorne) mit ihrer Familie in Gembitz im Sommer 1944

Die Umsiedlung hat während des Krieges oder kurz vorher stattgefunden. Denn Stalin ist 1941 in den Krieg eingetreten. Am Anfang waren wir ja mit Russland verbündet. Das war der Hitler-Stalin-Pakt. Der hat gehalten, bis Hitler 1941 Stalin den Krieg erklärt hat. 1943 kamen die ersten schweren Bombenangriffe. Kurz danach wurden die Mütter und Kinder aus Berlin evakuiert.

Eine meiner baltischen Tanten hatte im Warthegau ein Gut von den Nazis bekommen, ein polnisches Gut. Als dann die Evakuierung der Familien aus Berlin stattfand, sind wir auf dieses Gut gefahren und lebten bei meiner Tante.

Im Sommer 1943 sind wir auf dieses Gut gekommen. Ich war zehn, nein elf Jahre vielleicht schon. Bis zur Flucht, also bis zum Januar 1945, sind wir auf diesem Gut gewesen und lebten dort. Auf Deutsch hieß der Ort Gembitz und auf Polnisch Gembice. Das liegt etwas nördlich von Posen und südlich von Schneidemühl.


Mit der Kutsche werden die Kinder zur Bahnstation gebracht.

Wir lebten zusammen auf dem Gut. Nach den Sommerferien 1943 stellte sich heraus, dass wir nicht nach Berlin zurückkehren konnten. Denn die Evakuierung sollte dauerhaft sein. So sind meine Schwester und ich zur Schule in eine Nachbarstadt gefahren. Die war etwa 40 Kilometer entfernt und hieß Kolmar. Dort war ein Gymnasium. In Kolmar wurden wir eingeschult und lebten in einem möblierten Zimmer. Zu zweit und ohne unsere Familie. Mein jüngerer Bruder kam in die Volksschule im Dorf in Gembitz.

Der Krieg kam im Dezember 1944 immer näher. Meine Eltern wussten sicher, dass die Russen durchbrechen werden. Aber sie durften uns das überhaupt nicht sagen. Wir Kinder haben nichts davon gewusst. Aber mein Vater war im OKW und hat das sicher gewusst.

Nun kommen die verworrenen Geschichten: Im Januar 1945 sind wir nach den Weihnachtsferien wieder in die Schule gebracht worden. Nun konnte man entweder die zehn Kilometer mit der Kutsche zur Bahnstation Sarben gebracht werden und dann mit dem Zug über Schneidemühl nach Kolmar fahren. Oder man konnte mit der Kutsche diese 40 Kilometer durch den Wald fahren. Das war nicht unmöglich für die Pferde. Also sind wir manchmal direkt nach Kolmar gebracht worden und manchmal eben nur bis zur Bahnstation. Eineinhalb Jahre sind wir dort zur Schule gegangen.



Die beiden Schwestern Hella (oben 1943) und Else (rechts 1944) mussten alleine die Flucht nach Berlin antreten.

Nach diesen Weihnachtsferien 1944/45 sind wir im Januar ab Sarben mit dem Zug gefahren. Der Wald war schon so von Partisanen durchsetzt, dass die Kutscher sich weigerten, uns Kinder durch den Wald zu fahren. Ich war damals zwölf und meine Schwester vierzehn Jahre alt.

Die Schule ging noch ziemlich regelmäßig. Das heißt: Meine Schwester wurde bereits abgestellt, um große Mengen Butterbrote für die ersten Flüchtlingstrecks zu schmieren. Die zogen schon von Ostpreußen aus bei uns durch. Aber das wurde sehr geheim gehalten. Das sollte man nicht erzählen.

Im Warthegau war es verboten zu flüchten. Aber weiter östlich, wo die Russen schon vorgedrungen waren, wurde die Flucht freigegeben. Sukzessive konnten dort die Trecks in Marsch gesetzt werden.

Ich weiß aus Erzählungen, dass meine Tante, die ja aus dem Baltikum kam und die Russen kannte, längst große Erntewagen vorbereitet hatte. Sie hatte die mit Planen ausfüttern und vom Stellmacher große gebogene Stangen über die Wagen zimmern lassen. Alles war schon mit Stroh gefüllt. Die Wagen standen bereits in der Remise und waren zur Flucht fertig. Das war auch nachher die Rettung für meine Mutter und meinen Bruder. Und für die Frauen, die dort von dem Gut flohen.

Mein Vater ist in den Tagen um den 15. oder 17. Januar vom OKW nach Posen geschickt worden, um dort noch einen Lehrgang zu gestalten. In dem Moment, als dann am 20. Januar die Nachrichten kamen, dass die Russen durch die Linie durchgebrochen wären, die die deutschen Soldaten gezogen hatten, war er in Posen. Meine Mutter hatte ihn dort besucht. Mein Vater sollte dort sogar noch zum Volkssturm eingezogen werden. Man kam mit bis zu sechzig, siebzig Jahren in den Volkssturm. Alles, was laufen konnte, von vierzehn Jahren an. Der Volkssturm nahm alles, was überhaupt ein Gewehr halten konnte. Mein Vater war damals 48 Jahre alt. Meine Mutter war sieben Jahre jünger, also 41 Jahre alt.

Das OKW hatte vom Einzug zum Volkssturm erfahren und meinen Vater sofort zurückbeordert. Den Einheiten wurde gesagt, sie dürften ihn nicht einziehen. Er müsse zurück nach Berlin. So fuhr er mit dem Militärkonvoi zurück. Und meine Mutter, Gott sei Dank, fuhr im Zug aus Posen wieder aufs Gut.

Wir waren in Kolmar in der Schule. Am Samstag, dem 20. Januar morgens, kam unser Schuldirektor aufgeregt in die Klassen und sagte: »Kinder, die Russen sind durch. Sie können binnen 24 Stunden hier in Kolmar sein. Lauft nach Hause und sagt euren Familien, ihr müsst fliehen, so schnell ihr könnt!«

Nun waren wir zwei Mädchen ja alleine. Wir hatten in Kolmar keine Familie, wir wohnten in Untermiete. Wir wussten aber, dass der Zug, der uns sonst über Schneidemühl nach Gembitz gebracht hatte, gerade noch gehen sollte. Mit unseren zwei kleinen Handtaschen und unseren Schultornistern sind wir auf den Bahnhof marschiert. Wir hatten gehofft, wir würden mit dem Zug mitkommen.

Auf dem Bahnsteig war eine wilde Menge von verzweifelten Menschen. Die Stadtbevölkerung hatte ja keine Treckwagen. Die war darauf angewiesen zu fliehen. Zu Fuß, mit Fahrrädern oder was auch immer. Insofern versuchten die alle natürlich, in einen Zug zu kommen.

Wir beiden Mädchen sahen, dass das gar nicht möglich war. Der Zug war so überfüllt, dass man überhaupt gar nicht mehr reinkam. Vermutlich ist sogar meine Mutter auf der Rückfahrt in diesem Zug gewesen. Sie sagte später: »Wenn ich das gewusst hätte, ich hätte euch hereingeprügelt – irgendwie!« Aber gut, wir wussten das ja alles nicht.

Als der Zug den Bahnsteig verließ, ging ein Winseln durch die Menge. Vor Angst, vor Verzweiflung, vor Empörung, dass man eben nicht mitgekommen war. Und wir zwei Schwestern sind zurückgeblieben.

Und ja, wir beide sind wieder zurück zu der Wirtsfrau, bei der wir wohnten. Und das war ein Glück. Sie war die Witwe eines deutschen Ritterkreuzträgers, also eines Offiziers. Deswegen wurde ihr gesagt, sie würde mit einem Auto abgeholt und nach Westen gebracht werden. Sie und ihre beiden Kinder. Und sie versprach, uns mitzunehmen.

Wir haben den ganzen Tag versucht, eine Telefonverbindung zu dem Gut meiner Tante nach Hause zu kriegen. Wir wussten ja nicht, was wir jetzt tun sollten. Wir hatten gehofft, dass wir noch mit der Kutsche abgeholt werden könnten. Ganz zum Schluss, gegen Abend, haben wir eine Verbindung bekommen. Unsere Tante hat uns gesagt: »Kinder, versucht alleine nach Berlin zu kommen. Da ist ja euer Vater und die Wohnung in Berlin. Da habt ihr einen Treffpunkt. Wir können euch nicht mehr holen. Eure Mutter ist gerade aus Posen zurückgekehrt. Wir werden trecken.«

Daher weiß ich eben, dass mein Vater in Posen gewesen war und dass meine Mutter vermutlich in diesem Zug nach Schneidemühl gefahren und von dort abgeholt worden ist.

Wie war das für uns Kinder? Wir waren ja noch nicht erwachsen. Als wir mit dem Zug nicht mitgekommen sind, waren wir schon sehr verschreckt. Aber da hatte eben Frau Schmitt zu uns gesagt: »Habt keine Angst, ich nehme euch mit. Es kommt ja ein Auto, das uns holt.«

Frau Schmitt hat uns dann sehr klug den Ratschlag gegeben, doppelte Kleidung anzuziehen. Denn es waren damals minus zwanzig Grad. Das war dieser eiskalte Winter. Es war der 20. Januar 1945. Und Frau Schmitt gab meiner älteren Schwester, die ziemlich groß und kräftig war, einen wunderschönen Offiziersmantel. Den hatte sie noch von ihrem Mann. »Bring mir den in den Westen. Das ist ein Erinnerungsstück an ihn. Ich will den unbedingt behalten.« Sie hat meiner Schwester diesen Mantel angezogen. So hatte die einen dicken, warmen Mantel. Und ich hatte eben lange Strümpfe, wie die Kinder sie damals hatten, mit ripsenden Strapsen, und dann die Trainingshosen darüber. Meinen dicken Faltenrock hatte ich auch darüber. Den liebte ich über alles. Den wollte ich unbedingt mitnehmen. Dann noch einen Mantel und einen Pullover und weiß der Kuckuck was noch. Und Schuhe? Ja, wir hatten warme Stiefel.

Also dann kam das Schlimme. Wir waren morgens auf dem Bahnhof gewesen und waren nicht mitgekommen. Abends endlich, gegen elf Uhr, kam ein uraltes Feuerwehrauto, schon fast halb voll. Da wurden wir hineingequetscht, meine Schwester und ich. Und ich, weil ich klein war, wuselte mich gleich nach vorne auf eine Bank oder auch ins Gepäcknetz. Das weiß ich nicht mehr genau. In dem Moment, wo es abfahren sollte, kam ein Parteifunktionär und schmiss meine Schwester aus dem Auto raus, damit er einen Platz kriegte. Es war unglaublich. Aber ich wusste das damals gar nicht. Ich hatte es nicht mitgekriegt.

Ja, so war das. Wir fuhren nach Westen. Stundenlang wurden wir durch die Nacht gekarrt. In Filehne, das ist eine Grenzstadt an der Netze, wurden wir wieder ausgeladen. Dort war eine Schule mit Strohlagern für die Flüchtlinge hergerichtet. Ich fiel auf eines dieser Strohlager. Ich war ganz allein.

Fast ganz allein. Ich war ja auch noch mit Familie Schmitt, mit der Frau und den zwei Jungen zusammen. Meine Schwester war nicht da. Das begriff ich aber erst in dem Moment, als wir alle aus dem Auto ausgekippt wurden und aufs Stroh fielen.

Da hab ich den ganzen nächsten Tag, das war der 21. Januar, völlig verängstigt in dieser Schule auf dem Strohlager gelegen oder gehaust. In dem Lager wurde Kommissbrot mit einer komischen Marmelade verteilt, damit man überhaupt irgendetwas zu essen kriegte.

Am Abend bin ich wohl wieder eingeschlafen. Und mitten in der Nacht stolpert jemand über mich. Es war meine Schwester. Also, wir haben uns da umarmt und waren wieder zusammen.

Meine Schwester war alleine in Kolmar zurückgeblieben. Sie hatte schlimme Dinge an diesem Tag erlebt. Sie ist durch die Straßen geirrt, vorbei an den Büros von den BDM-Führerinnen. Oder auch an so einer Nazi-Dienststelle. Da waren lauter Besoffene drin. Und sie war erst vierzehn Jahre alt.

Eine BDM-Führerin hat sie ins Büro geholt, hat ihr eine Uniformhose, eine Soldatenhose gegeben und gesagt: »Zieh die an!« Sie hat ihr eine Rot-Kreuz-Binde um den Arm gelegt: »Nur so hast du eine Chance, mitgenommen zu werden. Gib vor, du seiest Krankenschwester. Dann werden sie dich irgendwie mitnehmen.«

Sie ist an brennenden Häusern, an Plünderern und herrenlosen Hunden vorbeigeirrt. Er muss ganz furchtbar gewesen sein, dieser Tag. Gegen Abend wurde sie dann tatsächlich in ein Soldatenauto geladen und mitgenommen. Und genau dort, wo die Flüchtlinge aus Kolmar hingeschleppt worden waren, in Filehne, wurde sie auch ausgeladen. Und da waren wir in der Schule. Und meine Schwester stolpert über mich. Die Schutzengel, die haben sich die Hände gegeben. Ohne diese Schutzengel, wirklich, wären wir nie durchgekommen.

Jetzt schweigt Hella lange. Ich spüre, wie die Erinnerung nach ihr greift. Wir beiden Frauen sitzen still zusammen, ruhig und sicher an ihrem großen Esstisch. Doch die ausgestandene Angst, die Bedrohung ist immer noch präsent, in gewissem Sinn immer noch gegenwärtig in diesem Raum.

Weil meine Schwester ja angeblich Krankenschwester war, hat sie einem Arzt geholfen, Notfälle zu versorgen. Ich meine, was da alles vorbeikam. Da kamen ja die Trecks. Die Leute sind immer wieder oben auf den Kutschböcken erfroren.

Wir zwei Mädchen haben auch Wache gehalten bei diesen Toten, die ebenso steif, wie sie gesessen waren, ausgeladen wurden. Dann mussten wir Kinder versuchen, die Angehörigen zu benachrichtigen. Ja, es war hauptsächlich meine Schwester.

In dieser Schule in Filehne war natürlich Chaos. Ich war immer noch mit den zwei Schmitt-Jungs zusammen. Wir waren etwa gleichaltrig. Wir sind durch die Schule getobt, manchmal auch am Tag rausgegangen und ein bisschen herumgestromert. An einer Gulaschkanone haben wir von den Soldaten auch mal eine Suppe gekriegt oder Muckefuck oder so etwas.

Die Toiletten waren derartig verdreckt und eingefroren, dass man da überhaupt nicht drauf konnte. Das war ein großes Problem. Wir haben es auf dem Schulhof zwischen Holzscheiten immer versucht. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich wirklich schwer gelitten hätte. Wahrscheinlich hat sich der ganze Darm sowieso stillgelegt vor Schreck. Aber pinkeln, das weiß ich noch, dass das so schwierig war.

Den 22. Januar habe ich, sozusagen wie eine Schnecke eingerollt, vergehen lassen, ohne was zu tun. Auch den 23. und 24. sind wir in dieser Schule gewesen und auch dort geblieben. Denn es kamen die Nachrichten, die Deutschen hätten die Russen wieder zurückgeschlagen. Die Flucht würde verzögert. Man könnte auch sogar wieder nach Hause zurückkehren.

Also, die ganze Volksmasse blieb dann dort in diesem kleinen Ort Filehne. Das war ja direkt an der Grenze, an der Netze. Eigentlich wurden wir an der Nase herumgeführt. Wahrscheinlich wussten die es selber nicht. Hier war ja die Grenze zwischen Deutschland und Polen.

Die Trecker waren schon weitergezogen. Die wurden durchgelassen. Die sind gar nicht durch diesen Ort gezogen. Das ist ja eine riesenbreite Phalanx an Treckern gewesen, nicht? Die sind auf allen Straßen gezogen. Nur wir, die wir keine Bauernwagen hatten, mussten mit Autos oder Zügen transportiert werden. Deswegen war die Stadtbevölkerung dort in diesem Ort gesammelt worden. Von da aus gingen ja Züge. Oder es hieß, es würden Züge gehen.

Wir hatten an diesem 20. Januar in Kolmar unser ganzes Gepäck gepackt und gedacht, wir könnten das mitnehmen. Aber das Feuerwehrauto nahm nur uns mit. Die ganzen Koffer blieben auf der Straße stehen. Nur ich hatte zufällig meinen Schulranzen auf dem Rücken und hab den die ganze Flucht auch gehabt. Meine Schwester nahm im letzten Moment noch eine zusammengerollte Wolldecke mit, in die sie ihre Lieblingssachen gestopft hatte. Und die hatten wir in der Schule noch. Morgens am 25. Januar brach in Filehne die Panik aus: Die Russen sind schon durchgebrochen. In wenigen Stunden werden sie auch diesen Ort überrollen. Jetzt hat es geheißen: Vom Bahnhof Kreuz, jenseits des Flusses, fahren Lazarettzüge. Meine Schwester und ich beschlossen: Wir versuchen, in einen dieser Züge reinzukommen.

Nun war es schon relativ gefährlich, über diese Brücke über den Fluss zu gehen. Die war schon längst unterminiert. Und die Polen drohten immer: »Sobald ein größerer Treck kommt, sprengen wir die in die Luft. Dann sind die alle hin, nicht?« So stoppten viele Treckwagen vor dieser Brücke. Aber wir sind alleine zu Fuß rübermarschiert. Da ist nix passiert.

Wir kamen auf dem Bahnhof Kreuz an. Der war weit außerhalb von dem Ort. Tatsächlich stand da ein Lazarettzug. Wir sind eilig, eilig hinaufgeklettert, haben eine Tür aufgekriegt und sind reingekommen. Aber da kam eine resolute Krankenschwester und schmiss uns wieder raus: »Es ist bei Todesstrafe verboten, Privatpersonen mitzunehmen.« Nur die verwundeten Soldaten durften in diesem Zug transportiert werden. Und wir mussten wieder raus.

Ja, dann kam der Stationsvorsteher auf uns zu und fragte: »Kinder, was macht ihr hier? Es ist der allerletzte Zug! Hier kommt kein Zug mehr. Ich gehe jetzt auch weg. Also flieht, so schnell ihr könnt, damit ihr wieder mit anderen Menschen Kontakt kriegt. Denn hier ist nun keine Maus mehr!«

Meine Schwester hat ihre Wolldecke fallen lassen. Ich hatte meinen Ranzen immer noch auf. Wir sind auf dieser Landstraße getrabt. Die führte wieder zurück. Irgendwo ins Ungewisse. Wir wussten überhaupt nicht, wohin diese Straße führte. Wir trabten immer weiter. Und dann kam ein Soldatenauto.

Hella ist in ihrer Erinnerung. Sie ist aufgewühlt, muss erst wieder zur Ruhe kommen. Sie spricht jetzt mit leiser, belegter Stimme weiter.

Plötzlich griff ein grauer Uniformärmel nach mir. Der Uniformärmel hob mich hoch und schmiss mich in das Auto. Meine Schwester hinterher. Dann wurde die Plane wieder über das Auto gezurrt. Es sind noch andere Menschen mitgenommen worden. Es war so eng, dass wir uns überhaupt nicht rühren konnten, eingekeilt waren. Und das war auch gut so. Denn der Wagen fing an zu schlingern. Er fuhr nach rechts und fuhr zickzack. Und dann hörten wir plötzlich, obwohl die Plane immer knatterte, ein anderes, ganz bösartiges Knattern. Das waren die Tiefflieger, die uns beschossen. Die Soldaten sind schnell in den Wald reingefahren. Da ist ja überall Wald. Über Waldwege, holterdiepolter, sind sie weitergefahren. Wir sind den ganzen Tag mit den Soldaten herumgekurvt. Wir hatten nichts zu essen. Aber an essen oder trinken haben wir gar nicht gedacht. Nein. Es war so kalt.

Am Abend sind wir mit diesen Soldaten auf einem großen Gut gelandet. Die Gutsherrschaften haben zu uns gesagt: »Ihr könnt im Pferdestall schlafen. Da ist Stroh, und da sind auch noch ein paar alte Pferdedecken. Hier das Haus ist mit Frauen und kleinen Kindern so überfüllt. Wir können keinen mehr aufnehmen.« Sie haben uns aber wenigstens eine heiße Suppe gegeben. Wir beide sind zu diesem Pferdestall gegangen. Das war am 25. Januar abends. Wir wollten uns da ins Stroh rollen. Aber das war so kalt von unten, von dem Steinfußboden, dass wir doch wieder aufgestanden sind.

Als wir aus der Stalltür gucken, sitzt auf den Stufen vor der Stalltür ein Volkssturmoffizier. Und das ist unser alter Schuldirektor! Der war zusammengesunken, total erschöpft. Meine Schwester, sie war ein bisschen klüger als ich, sagte: »Wenn wir den jetzt sitzen lassen, erfriert er.« Wir hatten es ja schon gewusst, dass man erfrieren kann beim Schlafen.

Und dann haben wir zwei Mädchen ihm mit unseren Händen auf den Rücken und auf die Schulter geklopft. Wir haben ihm die Arme und die Beine massiert. Bis er wieder zu sich kam, wieder aufstand und wieder lebendig war und ein großer Mann. Wir haben ihn schon vorher erkannt, sonst hätten wir das vielleicht nicht getan. Wir haben wirklich eine Stunde lang an ihm herumgearbeitet, um ihn wieder warm zu kriegen.

Am nächsten Morgen hat er uns mit seinem Trupp mitgenommen. Er hat uns gegen Abend in einem Städtchen an der Bahnlinie über Landsberg an der Oder in einen Güterzug manövrieren können. Einen Güterzug voll mit Flüchtlingen. Aber es waren keine Sitzplätze da, gar nichts. Es waren Viehwaggons. Ein bisschen Stroh lag irgendwo in einem oder zwei von diesen Wagen. In einen dieser Güterwagen stiegen wir ein. Wir waren unterdessen so erschöpft, dass wir nur noch schlafen wollten.

Meine Eltern waren gegen die Nazis. Aber sie durften es nie sagen. Sie haben uns Mädchen in die »Spielschar« gesteckt. So machten wir nur Musik und waren nicht unbedingt den schweren nationalsozialistischen Indoktrinationen ausgesetzt. In diesem Güterwagen war glücklicherweise diese BDM-Führerin, die unsere Musikschar in Kolmar geleitet hatte. Und die sagte: »Es hilft uns nix. Wir müssen uns jetzt alle an den Händen fassen, einen großen Kreis bilden und im Waggon herummarschieren. Nur wenn wir marschieren, bleiben wir wach und sterben nicht.« Wir haben alle Lieder, die wir kannten, gesungen. Von »Heilig Vaterland« angefangen.

Ja, »Heilig Vaterland, wir dienen dir«. Also, ich kann den Text jetzt nicht mehr auswendig. Das war eine nationalsozialistische Hymne aus der Zeit. Lieder bis hin zu Weihnachtsliedern und Kinderversen. Alles gesungen. Wir sind die ganze Nacht marschiert. Und der Zug fuhr an. Die ganze Nacht gesungen und marschiert. Sonst wären wir erfroren.

Es war ein Waggon mit einem Dach und es gab auch Schiebetüren. Aber es waren minus zwanzig Grad. Der Zug hielt an, rangierte, fuhr in den Wald, fuhr wieder raus. Diese Strecke, die man sonst wahrscheinlich in fünf Stunden erledigt hätte, dauerte mehr als zwölf Stunden lang. Also bis zum nächsten Mittag. Wir waren unter Tieffliegerbeschuss. Wir sind über Landsberg/Oder bis nach Küstrin gekommen. Küstrin ist die Grenzstation zwischen Polen und Deutschland, also ein großer Eisenbahnknotenpunkt.

Da gab es die große Eisenbahnbrücke über die Oder. Denn bei Küstrin mündet die Warthe in die Oder. Der Zug hielt an. Wir wurden alle rausgeschmissen, weil die Oderbrücke wieder unterminiert war. Man konnte keinen Zug mehr über diese Brücke fahren lassen. Sie war auch schon so wacklig, dass sie unter Umständen zusammengestürzt wäre.

Zu Fuß sind wir mit den Soldaten zusammen über diese Eisenbahnbrücke marschiert. Für mich waren diese großen Bögen, die sich über diese Brücke spannten, wie riesige Drachenflügel. Die waren so unheimlich schwarz und so grausig. Das war mittags. An einer Station waren eben aus diesem Zug bestimmt dreißig erfrorene Leichen auf den Bahnsteig gelegt worden. Aber wir lebten.

Die Eindrücke überwältigen Hella. Wir schweigen. Alles muss wieder lebendig in ihr sein, wenn an diese Erlebnisse gerührt wird. Es entsteht eine lange Pause. Endlich beginnt Hella weiterzuerzählen.

Wir sind dann über diese Brücke marschiert. Auf der anderen Seite war auch ein Bahnhof. Und da war wieder ein Zug. Der hat uns weitertransportiert. Insofern war da immer der Versuch, die Flüchtlinge wirklich nach Westen zu bringen. Wir haben auch wieder etwas zu essen gekriegt.

Wir kamen dann nach Eberswalde. Das liegt ja schon in der Umgebung von Berlin. Wieder kamen wir in eine Schule mit Strohlagern. Da waren auch schon Frauen, die aufnahmen, wer überhaupt kam. Und die sagten uns: »Man kann von Eberswalde mit normalen Personenzügen nach Berlin fahren. Das ist ja nicht so weit. Man kriegt einen Gratisfahrschein, wenn man Flüchtling ist.«

»Wir wollen zu unserem Vater! Der ist im OKW, und wir haben eine Wohnung in Schlachtensee. Wir haben eine Heimat«, sagten wir zu den Frauen. Die Frauen haben uns die Fahrkarten besorgt und wohl auch meinen Vater angerufen. Unterdessen hatte ich schon hohes Fieber. Wir wurden in diesen Zug gesetzt, das heißt, meine Schwester hat gesucht, wo der abfuhr. Jetzt sind wir wieder in einem normalen Personenzug gesessen.

Hella erzählt mit befreiter Stimme weiter.

Wir konnten die Welt überhaupt nicht mehr verstehen. Ich hatte immer noch meinen kleinen Schulranzen auf. Wir sind wirklich bis nach Berlin gekommen und mit der S-Bahn nach Schlachtensee gefahren, ausgestiegen und nach Hause getrabt. Das war ja nur anderthalb Jahre her, dass wir da gewesen waren. Wir wussten den Weg.

Zu Hause hat mein Vater uns schluchzend empfangen. Der musste informiert gewesen sein. Und dann hat er uns eine große Tüte mit Bonbons von seinem obersten Vorgesetzten überreicht: »Für die tapferen deutschen Mädchen, die sich als Erste bis Berlin durchgeschlagen haben!«

Das war am 28. Januar. Wir waren zu Hause. Nach acht Tagen. Am 20. Januar waren wir losgezogen.

Meine Mutter ist ein paar Tage später mit meinem kleinen Bruder in Berlin angekommen. Die hatten das große Glück, dass meine Tante eine leidenschaftliche Gutsherrin war. Denn sie hat die Polen sehr gut behandelt. Ihre erste Tat, als sie in dieses voll eingerichtete Gutshaus kam, war, dass sie gefragt hatte: »Wo sind denn die Eigentümer?« Die waren untergetaucht und verschwunden. Aber ein Bruder von den Eigentümern lebte irgendwo auf einem Nachbargut. Meine Tante hat die ganzen Möbel auf einen Wagen laden und zu dem Bruder bringen lassen. Sie sagte: »Ich möchte diese Sachen ja nicht haben.« Und sie hat auch ihre polnischen Knechte sehr gut, also menschlich behandelt. Die waren für sie keine Feinde, sondern zuerst Menschen.

So haben sich zwei von den Kutschern bereit erklärt, die Treckwagen zu kutschieren. Sie sind dann vierspännig von Polen nach Deutschland mit polnischen Kutschern getreckt. Es waren zwei große Erntewagen gewesen, mit denen die Frauen flüchteten. Das Gut war ja unterdessen auch mit Bombenflüchtlingen aus Hamburg belegt worden. Also gab es einen Wagen, in dem meine Mutter, mein Bruder, meine Tante und noch zwei Verwandte saßen. Und es gab einen anderen Wagen, in dem die ausgebombten Frauen aus Hamburg waren.

In dem Moment, als die Erlaubnis kam, loszufahren, ist meine Tante alleine mit diesen beiden Wagen über andere Wege gefahren. Nicht zu dem Trecksammelplatz, sondern, da sie ja ortskundige Kutscher hatte, direkt in Richtung Westen. So sind sie nicht in dieses Treckgewühl gekommen. Sie waren immer zehn oder zwanzig Kilometer vor der Treckspitze. Sie hatten so freie Fahrt.

Ein paarmal mussten sie ausweichen, weil plötzlich ganze Panzerkolonnen auf die Straße kamen. Deutsches Militär. Die hätten sie natürlich von der Straße geschmissen. Aber da waren sie vorher, Gott sei Dank, auf einen Feldweg ausgewichen. So sind sie relativ ungeschoren und ohne größere Schäden mit den Trecks bis nach Eberswalde gekommen. Sie hatten eben auch ihre eigenen Pferde dabei und hatten auch Futter genug mitgenommen. Also, die sind erfahren gewesen. Ja. Die hatten ja Russen schon erlebt. Und die wussten auch, dass man für Pferde Futter braucht.

Und so ist meine Mutter auch in Eberswalde gelandet und hat dort meinen Vater angerufen. Sie ist fast zusammengebrochen, als sie gehört hat, dass ihre beiden Töchter tatsächlich schon zu Hause sind. Denn sie hatte uns ja auch schon verloren gegeben. Ja, so war das.

Nun waren wir in Berlin vereint. Etwa zehn Tage lang sind wir dort geblieben. An diese Tage habe ich kaum Erinnerung, weil ich ganz hohes Fieber hatte. Es waren dann zwar wieder Bombenangriffe. Aber die haben dieses Haus nicht noch mal getroffen. Das war schon mal kaputt. Aber, na ja, das sind alles Kriegsgeschichten. Das hat nichts mit der Flucht zu tun.

Wir sind mithilfe meines Vaters in einen der letzten Züge gestiegen, die von Berlin nach dem Westen abgingen. Mit Brachialgewalt stiegen wir ein, das heißt, mein Vater hat einfach seine Pistole gezogen und zu den Leuten gesagt: »Jetzt steigt mit Vernunft ein, dann geht es. Wenn ihr euch übereinander quetscht, dann fallt ihr alle zwischen die Schienen.« Und so sind wir mit einem großen Pulk von Menschen in den Zug gekommen.

Der fuhr nach Lüdenscheid. Wieder zu meiner Tante. Die nahm uns wieder auf, weil wir alle wussten: Die Russen, wenn die uns in die Hände kriegen, bringen wir uns um. Also sind wir von Berlin aus sofort weitergeflüchtet bis in den Westen. Ja. Das war dann schon am 8. Februar, glaube ich, als wir in Lüdenscheid ankamen. Wir sind wieder in Tieffliegerbeschuss gekommen. Unser Zug wurde auch beschossen, aber wir sind rechtzeitig unter eine Unterführung gelaufen.

Am 25. Januar früh sind wir von Frau Schmitt mit den zwei Buben getrennt gewesen. Ich weiß nicht, wie die weitergekommen ist. Aber wir sagten: »Es hilft nichts. Wir müssen alleine durchkommen.« Denn es war ja schon passiert, dass sie uns, meine Schwester und mich, aus dem Auto getrennt haben, als Frau Schmitt uns mitnehmen wollte. Sie konnte nicht mehr weiter für uns sorgen. Vielleicht hat sie auch gesagt: »Kinder, ich kann die Verantwortung nicht übernehmen.« Und so sind wir alleine marschiert.

Und die Schutzengel haben immer wieder eingegriffen, nicht? Es war schon unfasslich. Dass wir auch wieder in dieser Schule zusammengefunden haben, das ist ja schon das erste Riesenwunder, nicht? Auch, dass wir nachher den Direktor fanden. Ja, dass der uns dann mitgenommen hat. Obwohl natürlich Soldaten keine Kinder mitnehmen durften. Aber da wir ihm ja quasi ein bisschen das Leben gerettet hatten, so hat er uns auch mitgenommen.

Wir waren dann in Lüdenscheid. Bis Mai sind wir dort gewesen. Lüdenscheid wurde eben auch Ende April erobert. Das haben wir alles auch noch miterlebt. Die Stadt wurde von den Amis erobert. Das war die britische Zone nachher. Aber auf jeden Fall waren wir im Westen. Die Rettung! Und bis Lüdenscheid hatten wir immer noch unsere doppelten Kleider an. Wir haben uns nie umgezogen in dieser ganzen Zeit. Man wäscht sich überhaupt nicht. Wo sollten wir denn Wasser herbekommen? Geschweige denn Seife? Das war auch viel zu kalt.

Plötzlich spricht Hella sehr lebhaft.

Wie lebt man in solchen Zeiten? Man lebt wie ein Tier im Grunde. Ja. Nein. Man ist ja schon mit Gefühl. Aber ich hatte wohl das Gefühl, ich saß wie in einem Glaskäfig. Ich konnte da zwar beobachten, was um mich geschah. Ich konnte beobachten, dass die Angst nicht an mich herankonnte. Die kam nicht durch dieses Glasgefäß. Ich saß unter diesem Glassturz und erlebte.

Und manches war ja auch erstaunlich oder lustig oder auch tragisch natürlich. Alles gemischt. Aber irgendwie blieb man Beobachter. Man war nicht ganz in sich selbst verankert. Und erst als ich im Zug nach Berlin saß, brach dann alles über mir zusammen. Die ganze Spannung brach zusammen. Ja, auch die Angst. Und dann natürlich jahrelang Träume. Jahrelang. Als ich meine eigenen Kinder schon hatte, kam es wieder, nicht? Ja, die Angst um die Kinder.

Und dann war ja auch 1963 diese Zeit, wo man »Eichhörnchenvorräte« machen sollte, musste, weil man Angst hatte, dass die Russen jetzt Westdeutschland überrollen. Da war es ja wieder so.

Nachdenklich schweigend, überlässt sich Hella jetzt länger ihren Erinnerungen an diese Zeit. Plötzlich taucht sie wieder auf.

Damals, wie die Mauer gebaut wurde. Danach hatte man Angst. Und wir, die wir flüchtlingsgeschädigt waren, wir haben schon Angst gehabt wieder, nicht. Denn das kam alles wieder hoch. Da hab ich eingekauft. Kondensmilch, weil ich zwei winzige Babys hatte. Meine beiden Söhne sind mit einem Jahr Abstand ’62 und ’63 zur Welt gekommen. Also mitten in dieser Krisenzeit. Ich meine, es ist uns ja nichts passiert. Aber es war uns mulmig. Und wir lebten in Köln. Das war nicht so weit von der Grenze entfernt wie der Süden bei Ihnen. Über Berlin hätten die ja schnell kommen können.

Wie lange wurden Sie von Ihren Träumen verfolgt?

Ja. Immer wieder. Man träumt ja nicht jede Nacht. Doch das kommt immer wieder.

Haben Sie heute auch noch diese Träume?

Jetzt nicht mehr. Nein.

Vielleicht träumen Sie heute Nacht wieder?

Das kann sein. Ja, ja. Also, ich bin jetzt so alt, dass ich keine Angst mehr habe vor dem Tod. Also, insofern ist man gemütsmäßig nicht mehr so belastet. Aber als Mutter von kleinen Kindern natürlich sehr.

Hella schweigt lange Zeit. Wir schweigen beide und lassen die Bilder der Erzählungen auf uns wirken. Ich bin sehr berührt von dem, was sie erzählt. Es ist eine persönliche, intime Atmosphäre entstanden. Ein gefülltes Schweigen zwischen uns beiden Frauen. Hella taucht immer wieder ganz in dieses frühere Geschehen ein. Ihre Bilder als ihre gelebte Vergangenheit ziehen uns mit, weg vom Esstisch in ihrem Wohnzimmer.

Ihre Lebensjahre mit den Anforderungen in ihrer Familie und im Beruf haben ein festes Band um diese Erlebnisse gebunden. Noch immer ist Hella von den Bildern erschüttert, die beim Erzählen in ihr aufsteigen. Sie hat schon öfter über ihre Fluchtgeschichte gesprochen. Sie schrieb sie auch für ihre Kinder auf. In ihrer Familie konnte offen darüber geredet werden. Wir sitzen an dem großen Eichentisch. Mit einem wunderbaren alten Kognak stoßen wir an. Unser gemeinsames Kaffeetrinken mit herrlichem Erdbeerkuchen holt uns zurück in den nachmittäglichen Alltag Münchens.

Hella hat mir mit ihrem Erzählen großes Vertrauen geschenkt. Ich empfinde diesen Bericht als ein Geschenk an die nachfolgenden Generationen. Und ich spüre keine Bitterkeit bei ihr. Mit den Bildern ihrer damaligen Bedrohung in Eiseskälte im Januar 1945 spüre ich auch ihre große Dankbarkeit über die Bewahrung ihres Lebens. Immer wieder betont sie, dass sie dies alles, dieses Überleben, ihrer älteren Schwester verdankt. Das Geschwisterband zwischen beiden ist besonders stark geworden.

Was hat mich am meisten an dieser Geschichte erschüttert? Es ist das Bild des Rektors. Aufgeregt kommt er zu seinen Schulkindern in das Klassenzimmer, um sie über ihre unmittelbar bevorstehende Flucht zu informieren. Es ist diese Pflichtauffassung der Menschen damals, die tatsächliche Lage und Bedrohung täglich totzuschweigen, obwohl sie offensichtlich, jedoch nicht vorstellbar war. Das ist das eine. Das andere: In mir sträubt sich alles, dass es die Kinder waren, die den Ernstfall »Aufbruch zur Flucht« ihren Erwachsenen berichten mussten. Wie wenig wurden sie in dieser Situation als zu Beschützende wahrgenommen.

Meine Fragen an mein Projekt waren immer wieder: War es mir erlaubt, an diese schweren, oft lange Jahre zurückgehaltenen Erlebnisse zu rühren? Vielleicht sind diese Erlebnisse heute immer noch versteckt, geheim gehalten wie in einem Container? Vielleicht aber können die Menschen jetzt über das Abgekapselte reden? Vielleicht können sie ihre Erfahrungen ans Licht kommen lassen?

Manche hatten sich schon heimlich auf die Flucht vorbereitet. Doch rechtzeitig seine Haut zu retten war mit Todesstrafe belegt. Der Zeitpunkt der Fluchtfreigabe musste abgewartet werden. Andere glaubten noch immer an eine kurze Evakuierungszeit im Westen, um später, wenn alles vorbei sein würde, wieder in ihre Heimat zurückzukehren.

Wer Beine hat, der laufe

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