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ELSA

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Melde gehorsamst, Gefreiter Paschke – wenn ich nicht heirate, werde ich erschossen!

Im Herbst 2007 erzählte mir ein Bekannter von seiner Nachbarin, einer hochbetagten Frau. Sie lebt in Schopfheim im Südschwarzwald. Innerhalb weniger Stunden musste sie im Winter 1945 mit ihrer Tochter und ihrem Baby fliehen. Ich bitte sie um ein Interview über ihre Flucht.

Elsa wird mir von ihrer Flucht aus der kleinen Stadt Reppen im Großraum Frankfurt an der Oder berichten. Dort lebte sie seit ihrer Kindheit. Mit 32 Jahren musste sie am 8. Februar 1945 mit ihren beiden Kindern fliehen.

Die russische Front stand seit dem 16. Januar 1945 an den östlichen Grenzen des Warthegaus. Drei Wochen später wurde die Stadt Reppen erobert. Ihre Tochter war drei Jahre, ihr kleiner Sohn neun Monate alt. Drei Wochen nach der Geburt ihres Sohnes im Juni 1944 erfuhr Elsa, dass ihr Mann am 22. April 1944 im Süden der Ostfront, in Sewastopol auf der Krim, gefallen war. Mit 32 Jahren war die junge Frau Mutter und Kriegerwitwe.

Trotz ihres hohen Alters, Elsa ist zum Zeitpunkt unseres Gesprächs 95 Jahre alt, will sie mir gerne, gemeinsam mit ihrer Tochter, ein Interview geben. Sie ist immer noch gesund und geistig rege. Sie hat ein phänomenales Gedächtnis und erinnert sich sehr genau an ihre Flucht. Heute, am Tag ihres Interviews, sind es zufällig 63 Jahre nach dem Fluchttag aus dem Warthegau 1945.

Wieder bin ich gespannt: Was wird uns drei Frauen erwarten, was wird Elsa erzählen? Wird sie sich in ihrem hohen Alter überhaupt noch an die Einzelheiten erinnern können? Wird es für sie sehr schmerzlich sein, von ihrer Flucht Anfang Februar 1945 zu sprechen?

Ihre Tochter begrüßt mich freundlich. Wir kommen in das Wohnzimmer im ersten Stock. Es ist gemütlich warm hier. Elsa, eine groß gewachsene Frau, sitzt am Tisch und wartet. Aufmerksam, mit offenem Blick begrüßt sie mich. Schon beginnt sie zu erzählen.

Ich muss mich jetzt vorstellen, nicht? Wir hatten eine kleine Landwirtschaft mit zwanzig Morgen Land. Vier Kühe, zwei Pferde, dann noch drei Jungviehkälber. So wie es die kleinen Landwirtschaften eben hatten. Aber wir hatten nicht viel Geld.

Ich wohnte bei meinen Schwiegereltern im Haus. Es wurde gesagt: Der Russe siegt jetzt. Der kommt jetzt! Er geht hier vorbei und geht nach Berlin weiter. Und uns lässt er hier wohnen. So haben wir gedacht. Wir haben in Reppen (heute Rzepin) gewohnt. Das ist zwanzig Kilometer östlich von Frankfurt/Oder.

Es kamen schon Flieger und es gab allerhand Gerüchte. Und eines Tages hieß es: Was, nach Schwiebus kommt der Russe schon? Schwiebus war ungefähr achtzig Kilometer von uns weg. Bald sind die Russen in Reppen. Da müssen wir aber packen! Am Abend haben wir das Nötigste eingepackt. Die Schwiegereltern packten ihr Zeug für den Handwagen, und ich packte mein Gepäck mit den zwei Kindern. Der Junge war neun Monate und das Mädchen drei Jahre alt.

Mein Vater kam an diesem Abend noch zu mir und fragte mich: »Elsa, kannst du mir alles vergeben, was ich dir an Unrecht tat?« – Denn es war so gewesen: Ich wollte schon früher mit den Kindern nach Potsdam flüchten. Mein Vater war aber dagegen gewesen. »Nun komm«, sagte er, »nun wollen wir noch ein Vaterunser beten und Nun danket alle Gott sagen.«

Früh am nächsten Morgen haben wir noch Milch warm gemacht und meinem Jungen gegeben. Da ging die Tür auf: »In zehn Minuten raus! Hier ein Gewehr! Hier Front!«

Ein Mann mit so Blech, mit vielen Orden, hat das gesagt! »In zehn Minuten raus! Hier Front!« Er war ein russischer Offizier. Der legte uns noch ’ne große Wurst auf den Tisch. Dann ging er raus. Das war ein feiner Russe. Uns Frauen tat er nichts. Und wir dachten: Jetzt ist das Gröbste überstanden.

Junge Russen kamen jetzt, um Hausdurchsuchung bei uns zu machen. Alle Türen in unserer Wohnung mussten wir aufmachen. Die Russen hatten einen Kopfkissenbezug über die Schulter geworfen. Eine Tür nach der anderen haben sie aufgemacht – geguckt, aufgemacht – geguckt. War was Gutes da, kam alles in den Bezug rein! Uhren und Betten haben sie gesucht und auch gefunden. Im Keller gingen sie nach Schnaps und Wodka suchen. Ja, das war so die Hauptsache.

Die Betten schmissen die Russen dann zum Fenster raus. Die Möbel hinterher. Und sie gingen wieder. Ich wohnte oben im Haus. Schnell haben wir unser Zeug wieder gerafft und eingesackt. Und dann gingen die Russen auf den Hof runter. Auch dort machten sie alle Türen auf. Die Waschküche und den Hühnerstall, den Ziegenstall, den Kuhstall, den Pferdestall. Alles kam da raus. Alles wurde eingesackt. In die Lastwagen geladen und weggebracht. Und wir bibberten immer: Was wird denn jetzt?

Dann haben die Russen in unserm Haus gewirtschaftet und geraubt und gesucht. Beuteware, Beuteware! Meinen Ehering hatte ich gerade in meiner Manteltasche versteckt. Da ging die Tür auf, und schon wieder kamen ein paar Russen. Und der eine griff stracks in meine Manteltasche rein und hat ihn rausgenommen. Meinen Ehering, ja.

Die Russen haben die Häuser angesteckt. Die brannten von innen. Ein Junge hat später erzählt: »Die Soldaten haben den Kleiderschrank in der Wohnung umgestoßen, einen Haufen Papier gesammelt und dann alles mit Benzin übergossen.« Dabei musste er helfen. Ein deutscher Junge! Elf Jahre war er alt. Alles hat gebrannt. Aus den Dächern gegenüber kamen schon die Feuerflammen raus. Aber unser Haus wurde geschont.

»Ach, ich muss noch schnell meine Gardinen abmachen, dass die nicht verbrennen!«, sagte ich. Es brannte lustig weiter in Reppen. Wir waren ja hilflos. Die Leute sammelten sich zusammen. Ein Soldat nahm noch mein Fahrrad mit. Er hat es über einen zwei Meter hohen Zaun gehoben. Da hab ich gejammert: »Kamerad, mein Fahrrad!« Weg ging der mit dem Rad und hat mir noch mit der Faust gedroht. Rad fahren musste der erst noch üben.

Vor der alten Schule in der Richterstraße standen Klaviere. Die wurden an den Straßen abgestellt und waren dem Wetter ausgesetzt. Ach, alles ging kaputt. Ja, alles, was ihnen gefiel, haben sie weggenommen. Alles kam auf den Laster rauf.

Wenn er jetzt sein Auto voll hat, dann wird er Ruhe geben. Und er wird wieder nach Hause gehen, der Russe. So dachten wir. So aber war es nicht. Ja, und dann kam er den Berg rauf, der Russe. »Oh, jetzt kommt ein Russe mit so viel Blech«, sagte ich noch. Da war er schon da. Nun war er in der Wohnung drin.

»Frauen, Frauen wollen wir sehen!«

Ich war im Keller und hab Holz aufgereiht. »Zeigen!«, sagte er. »Zeigen!« Dann hab ich ihm die Kinder gezeigt. Aber meine Schwester und noch andere Frauen mussten mit in den Keller mit dem Russen. Der haben wir noch einen Mantel nachgeworfen. Damit haben sich dann zwei Frauen zugedeckt. Und sie haben dann – vergewaltigt, wen sie konnten. Sie schleppten gleich ein großes Deckbett hinter sich her, schmissen es in die Waschküche oder in den Stall. Und dann rauf, nicht. Und die anderen Russen auch alle, rauf, wie sie konnten. Ach.

Manche Frauen landeten an unserer Straße. Sie gingen dann auf den Friedhof, um vor den Russen Ruhe zu haben. Alle waren in der Leichenhalle drin mit ihren vielen kleinen Kindern. Meine Schwägerin hatte am 7. Januar ein Kind geboren. Da war nichts da für den kleinen Bub, keine Windeln. Da haben die Frauen die Leichentücher zerrissen, die für die Leichen hergerichtet waren. Daraus haben sie die weißen Windeln gerissen. Das neugeborene Kind sollte doch auch nicht schreien. Es wurde dauernd beruhigt. Aber die Russen kamen auch dorthin. Sie haben alles durchstöbert und die Frauen beunruhigt. Die sprangen zum Fenster raus. Jedenfalls, der Russe hat alle getroffen.

Ich war nicht dabei. Ich hatte etwas Schutz durch den Säugling. Ich bin Gott sei Dank vom Russen losgekommen. Der hat mich nicht angefasst. Aber er saß bei mir in der Stube. Und er hat meinen Sohn so ein bisschen gestreichelt. Der Helmut lag ja im Kinderwagen. Den schob ich immer hin und her. Der war auch nicht gerade hungergeschädigt. Aber für mich gab es doch bloß Wassersuppe. Wassersuppe von geschlachteten Pferden.

Mein Vater hat mir schon früher gesagt: »Du musst immer husten, Elsa. Dann denkt der Russe, du bist lungenkrank.« Ja. Gehustet, gehustet. Das hab ich. Ich war schon ganz heiser. Plötzlich fing der Junge zu brechen an. Ich hab zum Russen gesagt: »Machen Sie Licht! Bitte, machen Sie Licht! Er hat alles gebrochen!« Wenn man höflich mit ihnen sprach, kam man noch am weitesten. Und dann hat der Russe mir Licht angemacht, Talglicht. Strom hatte man ja nicht. Dann ging er raus. Es waren noch ein paar Russen in die Stube gekommen. Die gingen auch alle raus. Da haben sie nichts angefasst. Die Russen zogen wieder ab.

Mein Vater sagte noch: »Komm, wir haben noch Kühe zum Melken. Dann haben die kleinen Kinder doch noch mal ordentlich Milch.« Da kam der Russe grade aus dem Kuhstall. Er ging an mir vorbei. Plötzlich haute er mit dem Stiefel an den Eimer ran, dass die ganze Milch rumspritzte. Und wir hatten nun doch keine Milch für die Kinder.

Jetzt muss ich noch von meinem Vater erzählen. Ein Kamerad, der Gärtner von Reppen, hat zu ihm gesagt: »Franz, komm! Dort unten stehen ja die Kühe. Da holen wir uns deine wieder zurück. Dann haben wir Milch für unsre Kinder.« Vater ist mitgegangen. Weg war er. Raus in die Nacht. Die Kühe standen schon gesammelt zum Abtransport. »Dokument, Dokument?«, hat ihn der Russe gefragt. Ja, der Kamerad hatte seine Ausweispapiere bei sich, aber Vater nicht. »Du heimgehen«, sagte der Russe zum Kamerad. Und zum Vater: »Komm, komm!«

Am nächsten Morgen kam der Gärtner zu uns ins Haus. Zu meiner Mutter sagte er: »Du, Minchen, ich bin entlassen worden, und Vater ist festgehalten worden. Ich weiß nicht, was sie mit ihm gemacht haben.«

Es waren ein paar Tage vergangen. Vater war immer noch nicht da. »Mutter, wenn Vater jetzt nicht irgendwie reagiert, der hat jetzt dann Geburtstag, dann sehen wir ihn nicht mehr.« So sagte ich zu meiner Mutter. Man war schon so abgehärtet, dass man wusste, wenn jemand nicht mehr kommt, dann sieht man ihn nicht mehr. Es ging alles so schnell aufeinander. Da haben sie bloß an die Kinder gedacht und ans Leben.

In den nächsten Tagen haben wir von Reppener Leuten erfahren, wo Vater war. Die mussten die toten Leute in Reppen begraben. Sie haben gesagt: »Euren Vater haben wir in Sachatz’ Garten begraben.« – Ja. Vater war dann tot. Der ist von den Russen erschossen worden. Den haben die anderen eingebuddelt. Und wir hatten doch immer noch auf ihn gewartet.

Dann ist eine Bombe gefallen in Reppen, in die Wiesen. Eine einzige Bombe. Nein, die Hauptsache war durch Feuer entstanden. Die Zeitung schrieb: 85 Prozent der Häuser waren verbrannt. Alles war verbrannt und kaputt gemacht und gestohlen. Wir hatten ja bloß Angst und Angst. Was wird da nun bloß? Auf Räubern und Brennen waren wir gar nicht eingestellt. Wir dachten immer, dass nur geplündert wird.

Ich wohnte mit meinen Schwiegereltern im selben Haus. Die wohnten unten, und ich wohnte oben. Mein Schwiegervater ist 1877 geboren. Er war 67 Jahre alt und musste nicht in den Krieg. Er war zu Hause. Er war wohl auch nicht beim Volkssturm. Bald sind beide Schwiegereltern mit mir auf die Flucht gegangen. Ihre Söhne waren im Krieg, drei Söhne. Ach, es war alles so schwer. Ich hab alles vergessen.

Es hieß dann: Wir müssen los. Wir müssen hinten rum, Reppen – Sternberg (heute Torzym). So waren wir eingewiesen worden. Wir wurden in Richtung Osten vertrieben.

Zu Fuß sind wir losgezogen. Zwei Tage lang. Wir haben unsre Handwagen mit Esswaren voll beladen. Alle Leute von der Straße taten das. Wir waren ohne Pferde. Manche hatten ihre Pferde dabei. Die wurden ihnen aber alle von den Russen weggenommen und zum Einsatz im Krieg verladen. Oder zum Arbeiten nach Russland. Die brauchten sie doch für ihren Nachschub. Unterwegs sind viele Pferde gestorben. Der Russe hat die Pferde geschleift, wenn sie so gingen. Und so hatten sie Verluste. Verluste gab es überall.

Auf der Straße kamen immer Handwagen an Handwagen. Arme Mütterchen saßen in den Chausseegräben und schaukelten immer so. Ach, das werde ich nie vergessen. Wenn die mitfahrenden Begleiter genug Kraft hatten, konnten sie die Frauen auf den Wagen heben, wenn da noch Platz war. Wenn das nicht war, mussten sie sie sitzen lassen. So leid es ihnen tat. Sie konnten ja nicht mehr wie laden. Und die großen Weckgläser lagen im Chausseegraben, voll mit Gemüse. Die hätte nachher jeder gern mitgenommen. Aber die Ladung war schon voll.

Es war sehr kalt. Aber wir hatten doppelte Kleidung an und für so eine Wanderschaft hatten wir auch gute Schuhe. Aber dass es so lange dauerte, dass man dabei das Leben noch einsetzen musste, das haben wir nicht geglaubt. Wir haben gedacht, der Russe wird mal vernünftig.

Wir sind in Richtung Sternberg – Schwiebus nach Osten getreckt. So wurden wir eingewiesen. Auf der Seite nach Westen lag Frankfurt/Oder. Diese Stadt wurde sechs Wochen lang als Festung verteidigt. Da lag viel Menschenblut drin.

In großen Bauernhäusern haben wir mit unseren Kindern und den Handwagen übernachtet. Und gegessen haben wir, was wir dabeihatten. Im Kinderwagen und im Handwagen war alles Essbare daheim noch eingepackt und versteckt worden. Aber etwas Warmes gab es nicht.

Wir sind in die leeren Bauernhäuser gegangen und haben uns Strohlager gemacht. Der Bauer, bei dem wir übernachtet hatten, war nicht mehr auf seinem Hof. Entweder war er auch schon unterwegs oder er war tot. Dann sind wir dort auf den Speicher gegangen und haben geguckt, welches Korn noch auf dem Speicher lag. Die Kornspeicher hatten immer so Dielenböden. Da konnte man gut zusammenfegen und dann das Korn herunterholen. Wir haben eine Kaffeemühle mitgenommen, das Korn gemahlen und daraus Suppe gekocht. Und Kartoffeln sind wir stoppeln gegangen. Draußen in den Mieten waren ja noch Kartoffeln.

In der Nacht hat dann eine Frau zu uns gesagt: »Wenn der Russe kommt, dann schreien wir alle ›Rabuh, rabuh‹. Dann kommen die anderen zu Hilfe.« Wir haben auch alle in der Nacht »Rabuh« geschrien. Aus Leibeskräften! Aber keiner kam zum Helfen. Sondern ein Russe ging ins Haus rein und holte sich, was er wollte. Also, Menschen. Wenn der draußen war, dann wusste man …

Die Soldaten waren zum Teil schon betrunken. In der Nähe waren so viele Güter, große Landwirtschaften. Alle Soldaten haben dort das Silber und den Schnaps gesucht. Den Schnaps haben sie getrunken, bis sie alle besoffen waren. Dann ging es leichter mit ihrer Betätigung.

1945 war ich 32 Jahre alt, eine junge Frau. Ja, wir waren in den besten Jahren, wenn ich heute so denke. Also mir und den Kindern haben die Russen nichts getan.

Einmal bin ich mit dem Kind an der Hand auf der Straße gegangen. Da kam ein großer Ackerwagen voller Mohrrüben vorbei. Als der an der Straße gehalten hat, hab ich gefragt: »Proschel pany, kleine Minka, bisschen Mohrrüben?« – »Minsky – Polsky?« Deutsch oder Polnisch? »Minsky«, hab ich gesagt. Dann hat der Russe mir eine Tasche voll Mohrrüben gegeben. Und wir hatten wieder etwas zum Essen. Von Russen hab ich keine Hässlichkeiten erfahren außer Brand. Aber sonst waren da ja noch andere Russen. Die haben gegriffen, was sie konnten. Hauptsache, sie hatten dann jemand. Aber mir ist nichts passiert. Ja, nein. Aber doch die Angst! Die Angst war da und das Hungern.

Meine Mutter ist mit meiner Schwester im Treck nach Westen bis Frankfurt/Oder gekommen. Nach dem Tod vom Vater wussten wir nichts mehr voneinander. Ich musste in die andere Richtung nach Osten gehen.

Nach zwei Tagen waren wir dann auf dem polnischen Gut Malsow. Das war die letzte Station von unserem Treck. Malsow war ein Mustergut von Deutschland gewesen. Alles war prima dort. Eine Mühle war auch da. Auf dem Gut mussten wir Frauen dann alle antreten. »Wer will in die Küche?«, hat der dicke Chef gefragt. Da haben sich ein paar gemeldet. Ich auch, denn ich wollte lieber in die Küche. Der Koch war mir gut gesonnen. Der hat mir immer ein Stück Brot mehr gegeben für die Kinder.

Da waren auch hundert Heimkehrersoldaten. »Nix weitermarschieren«, hieß es. »Hierbleiben!« Sie mussten das Mustergut ordnen. Den Dung verarbeiten. Der war so blank wie Lack. Man musste ihn mit dem Spaten erst stechen. Dann musste er in den gerodeten Wald gefahren werden und dort breit gestreut werden. Das mussten wir Frauen machen. Auch die Kartoffeln sollten wir in die Erde legen. Kartoffeln legt man im Mai. Aber es war schon Juni. Juni ’45.

Auf dem Gut gab es eine Arbeitersiedlung. In jedem Arbeiterhaus war eine große Stube und vorne die Küche. Dann gab es noch eine kleine Stube, die in normalen Zeiten für die Kinder war. Die Kinder durften dort wohnen, mithelfen und arbeiten. Dafür kriegten sie dann Esswaren. Wir mussten ja jeden Tag auf dem Acker arbeiten. Und, ach, wir haben geklaut. Wir haben uns Tomaten aus dem Großgarten abgemacht. Und Kartoffeln haben wir uns mitgenommen.

Jedenfalls haben sie auf dem Gut alle Leute zur Arbeit eingesetzt. Der Russe hat doch Geld für die Arbeiter gegeben. Der polnische Chef sollte die Arbeiter auszahlen. Aber das Geld hat er lieber für sich genommen. Wir haben von dem Geld nichts gesehen. Wochenlang haben wir Erbsensuppe, Kartoffelsuppe und Grützensuppe gegessen.

Fast ein Jahr bis zum Frost waren wir auf dem Gut Malsow. Eines Tages sind wir mit dem Lastwagen zum Bahnhof geschafft worden. Von dort aus fuhren wir mit dem Güterwagen über Landsberg, Magdeburg nach Rossau. Jeder kriegte einen Laib Brot und Kaffee im Zug. Einmal standen wir vierzig Stunden auf einem toten Gleis. Der Junge lag im Kinderwagen, die Tochter saß auf den Bettensäcken. Deutsche Heimkehrer waren auch im Zug. Die gingen freiwillig Kohlen stehlen, damit sie ihre Öfchen füttern konnten.

Wir kamen dann nach Kleinrossau und Großrossau (heute Sachsen-Anhalt). Dort war das Aufnahmelager mit der Quarantänestation. Drei Wochen lang waren wir dort. Es war dann Winter und es gab Schnee.

In dem Barackenlager hatten wir einen Kanonenofen und Doppelstockbetten. Wir haben uns Schnee von draußen geholt, dass wir Wasser hatten, drinnen auf dem Ofen. Ich war so schwach geworden. Ich hatte nicht genug zu essen. Ich konnte sogar mein zweistöckiges Bett oben nicht mehr machen. Ich konnte auch nicht mehr oben schlafen und mich hinlegen. So schwach war ich.

Aber meine Schwiegereltern waren wieder bei uns. Opa und Oma Paschke. Opa hat meine Tochter an die Hand genommen und ist im Dorf betteln gegangen. Schöne Butterschnitten haben sie von den umliegenden Höfen bekommen. Da kam ich sofort wieder zu Kräften.

Die Quarantäne war dann um. Wir wurden zwanzig Kilometer weiter nach Neulingen verfrachtet. Neulingen ist beim Arendsee-Osterburg, Stendal, alles im Großraum Magdeburg. Stendal in der DDR.

Da hatten wir dann eine schöne Einzimmerwohnung in einem Bauernhaus. Für die Miete musste ich mithelfen. Ich kriegte jeden Tag, so wie ich gearbeitet hatte, zwei Liter Milch. Ja, beim Bauer haben wir es gut gehabt. Er war ein sehr netter Bauer. Der hat uns nicht hungern lassen.

Die Flüchtlingskinder wurden in dem Dorf rumgereicht und durften mal hier und mal da am Sonntag essen. So war es eingeteilt. Da haben sie eben auch bei unserem Bauer essen dürfen. Und sie kriegten auch ein gutes Essen.

Vater hat im Garten gearbeitet. Abends sind wir in den Wald gegangen, um Holz zu lesen. Vater hat das Holz gehackt. So konnten wir es uns zu Hause warm machen. Den Handwagen und unsere Betten hatten wir ja dabei. Unsere Betten hatten wir immer in Bettensäcken dabei. Das waren so alte Leinensäcke. Töpfe zum Kochen und anderen Hausrat haben wir bekommen.

Elsa verlor mit 32 Jahren ihren Mann und ihre Heimat. Sie flüchtete mit ihren zwei Kindern.

Elsa ist vom Erzählen etwas müde. Ihre Tochter berichtet jetzt für sie weiter:

In dieser Küche war schon einiges da, in den Schränken und in der Speisekammer. Auch ein kleiner Keller gehörte dazu. Die Küche war Terrazzo-gefliest, schwarz-weiß gesprenkelt. Da war schnell aufgewischt, und schnell war die Stube sauber. Das war ganz gut. Opa hat ja die Hühner geschlachtet.

Ich bin 1941 geboren. Mit sechs Jahren bin ich dort in Neulingen eingeschult worden. Das war 1947. Bis 1952 haben wir in dieser kleinen Wohnung gewohnt. Fünfeinhalb Jahre waren wir dort. Von da aus sind wir dann nach Zweibrücken übergesiedelt.

Es war noch nicht der 17. Juni 1953. Deshalb kamen wir noch mit unserem Pass über die deutsche Grenze. So konnten wir nach Zweibrücken in Rheinland-Pfalz übersiedeln. Ich war damals elf Jahre alt. Mit dem Zug sind wir mit unseren Bettensäcken gefahren. Die Pakete mit unseren Sachen haben wir vorgeschickt. Ende Mai ’52 sind wir dort angekommen.

Mutti hat ja dann Rente gekriegt. Kriegerwitwenrente in der DDR. Na ja, nicht viel. Aber so konnten wir die Fahrkarten kaufen. Den Garten hatten wir dort gemacht. So hatten wir dann Bohnen, Kartoffeln, Kürbis und Kraut.

Elsa: Das Fahrgeld war umsonst.

Elsas Tochter: Aber die Fahrkarten nach Zweibrücken haben wir bezahlen müssen.

Elsa: Das war egal. Die Fahrkarten konnten wir bezahlen.

Die Tochter erzählt weiter: Warum kamen wir ausgerechnet nach Zweibrücken? Dem Koch, bei dem meine Mutter auf dem Gut von Malsow gearbeitet hat, war seine Frau gestorben. Er wurde in Malsow entlassen und kam nach Zweibrücken in seine Heimatstadt. Später waren wir in Neulingen. Da kam er dort vorbei und hat uns besucht. Er hat uns draußen vor der Haustür für die Terrasse einen Tisch und eine Holzbank gebaut. Das war schön gewesen.

Danach hat er uns geschrieben, ob wir nicht alle nach Zweibrücken kommen wollten. Deswegen sind wir im Zuge der Übersiedlung nach Zweibrücken gefahren. Auch wegen dem Aufgebot. Der Koch hatte ja vier Kinder. Aber als wir dort ankamen, hatte sich seine jüngste Tochter gleich gewehrt. Sie war so alt wie ich. Die wollte keine neue Mutter. Nein, nein, nein. Ja, aber Onkel Hugo wollte das. Das Aufgebot mit meiner Mutter ist dann eben ausgelaufen. Doch wir konnten dortbleiben. Wir konnten in Zweibrücken Fuß fassen.

Was haben Sie gedacht, als Sie hörten, dass die Russen kommen?, frage ich Elsa zum Abschluss ihrer Erzählung.

Nach Hause! Nach Hause, haben wir gedacht. Wir hatten ja alle einen Hausbesitz. Es gab viele kleine Leute in Reppen. Und wer tot war, das wusste man noch nicht.

Die Tochter erzählt weiter: Opa Paschke hat alle seine drei Söhne im Krieg verloren. Und seine Tochter, 1916 geboren, lebt heute noch. Die wird 92 Jahre alt am 18. Februar. Vater Paschke hat sehr gelitten, dass seine drei Söhne alle umkamen.

Elsa meint ernst: Da haben selbst raue Väter geweint. Und das waren handfeste Männer, stelle ich mir vor. Die hatten noch mehr Mut und Kraft. Die anderen Männer, die Soldaten, kamen jetzt ja auch nach Hause.

Ich frage Elsa nochmals nach ihrer Angst auf ihrer Flucht. Ihre Tochter antwortet für sie: Das war bei Mutti nicht so. Das kann man nicht so sagen. Mutti hat immer gesagt: »Es geht ja allen so.« Mutti, wie heißen deine Freundinnen? Purmanns Grete und die anderen? Alle haben ihre Männer verloren. Alle jungen Mädchen, die geheiratet haben, alle haben ihre Männer verloren.

Und ich auch, bestärkt Elsa.

Die Tochter erzählt noch von ihrer Mutter:

Mutti war zweimal verheiratet. Erich Paschke, mein Vater, war der erste Mann. Mit Vati war die Hochzeit am 26. Oktober ’39. Sie wollten schon am 2. September ’39 heiraten. Aber da war dann der Polenkrieg. Und da musste Vati vorher schon weg in den Krieg. Das Aufgebot musste dann hängen bleiben. Die Hochzeit am 2. September hat also nicht geklappt. Und dann hat Schwiegermutter Paschke zu ihrem Sohn Erich, meinem Vater, gesagt: »Reiche du Heiratsurlaub ein. Wenn dir was passiert, hat Elsa nichts.« Und so kam er am 26. Oktober 1939 für eine Woche oder für zehn Tage?

Elsa und ihr erster Mann Erich Paschke bei ihrer Hochzeit im Oktober 1939. Kurzfristig bekam Erich Paschke sechs Tage Heiratsurlaub.

Elsa wieder: Für sechs Tage. Für sechs Tage Heiratsurlaub. Er kam und hat gesagt: »Melde gehorsamst, Gefreiter Paschke, sechs Tage Heiratsurlaub. Wenn ich nicht heirate, werde ich erschossen.« Sein Regiment wusste von dem Urlaub damals. Nicht, dass die Soldaten Heiratsurlaub nehmen und nachher zu Hause bleiben. Das war ja Krieg.

Ach, wir hatten Wäsche an dem Tag. Als er kam, stand ich da, mit meiner nassen Schürze. Wir mussten erst waschen und noch ein paar Leute einladen und dann Kuchen backen und Hühner schlachten.

Ich war vier Jahre verheiratet. Bis zum 22. April 1944. In Odessa oder Sewastopol auf der Krim ist mein Mann gefallen. In vier Jahren hatte er hundert Tage Urlaub. In den vier Jahren war ich hundert Tage mit meinem Mann als Soldat zusammen. Die Männer hatten nichts von den Kindern, nichts von der Familie. Ich war erst 32 Jahre alt, als er gefallen ist.

Wir drei Frauen sitzen um den Tisch und schweigen. Ich frage die 95-jährige Frau: Hatten Sie Wut und Zorn, dass das alles so war?

Das hab ich eigentlich nicht gehabt. Es war ja Krieg, meint Elsa leise.

Ich staune, was die betagte Frau nach so langen Jahren von dieser Zeit in ihrem Gedächtnis behalten hat. Aber Elsa meint: »Das war so viel. Da kommt man gar nicht mehr richtig mit.« Zum Schluss unseres Interviews frage ich sie, ob sie noch manchmal von dieser Zeit träumt. Müde und etwas erschöpft antwortet sie mir:

Nein, nicht mehr. Es war so viel. Man konnte es nicht mehr aufnehmen in sich. Es war immer wieder etwas Neues. Es war bloß noch der Kampf ums Überleben.

23. Juni 2008: Elsa feiert ihren 96. Geburtstag. Ich besuche sie. In einer schönen Mappe bringe ich Elsa ihre erzählte Geschichte vom Aufbruch aus ihrer Heimat. Vom 28. Februar 1945 bis Mai 1952 war sie unterwegs. 1952 ist sie mit ihren zwei Kindern im Westen in Zweibrücken angekommen. Als Elsa von ihrer Heimatstadt Reppen hört, freut sie sich sehr. Immer wieder sagt sie den Namen ihres Heimatorts. Sie singt ihn fast. Ihr Gesicht strahlt.

Ihr Sohn ruft mich später an. Er war zum Geburtstagsfest seiner Mutter von Zweibrücken angereist. Er bedankt sich für meine Arbeit und freut sich über das Dokument. Ob ich ihm das Interview zuschicken kann? Er will es gerne für seine Kinder zum Lesen besitzen. Die sollen von dieser Zeit Genaueres erfahren. Es ist der einzige Bericht, den seine Familie über die Flucht und den Umzug vom Osten Deutschlands in den Westen hat.

Neun Monate nach dem Erzählen ihrer Geschichte starb Elsa am 29. November 2008.

Die Kinder von Elsa wünschen sich als Motto für die Fluchtgeschichte ihrer Familie: »In all den schweren Tagen durfte ich die Treue und Güte Gottes erfahren. Gott allein die Ehre.«

Ich bewundere die Zielstrebigkeit von Elsas Erzählung angesichts ihres hohen Alters. Einzelheiten sind ihr immer noch präsent. Manchmal flackert eine erstaunliche Lebendigkeit in ihr auf. Aber das Erzählen wühlt sie auf.

Über die Gelassenheit und das Annehmen ihres Schicksals, wie Elsa es zeigt, bin ich doch erstaunt. Die Menschen damals hatten den Tod, den »Heldentod«, offenbar immer vor ihrem inneren Auge präsent. Die Folge, Kriegerwitwe mit zwei Kindern zu sein, alleinerziehend, wie es heute heißt, wurde hingenommen. Es war wohl unausweichlich. Fast fatalistisch. »Alle jungen Mädchen, die geheiratet haben, haben ihre Männer verloren.« Und die Kinder erzählen in höherem Alter nach Jahrzehnten, sie hätten eben keinen Vater gehabt. Sie seien ohne Vater aufgewachsen.

Dennoch verlor Elsa offenbar nicht ihren Lebensmut. Sie erkannte Chancen für sich und ergriff sie auch, als sie sich, um Onkel Hugo zu heiraten, nach Zweibrücken aufmachte. Sie lebte auf realistischem Boden für sich und ihre Kinder. Sie baute ein Haus in ihrer neuen Heimat. Sie ließ sich nicht knicken. Heute würden wir sagen: Sie war »geerdet«. So scheint es mir. Durch ihre freundliche Art gelang ihr der Schritt in den Westen. Sicher hat ihr die religiöse Basis geholfen, ihre Lebensgeschichte in einem Sinnzusammenhang zu sehen.

Wer Beine hat, der laufe

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