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30 Jahre Mauerfall – die Veranstaltung in Naumburg

Christopher Bodirsky

Gibt es Zufälle? Ich weiß es nicht. Aber manchmal fällt es mir schwer, noch an Zufälle zu glauben. Ich wurde gebeten, zu der Veranstaltung in Naumburg als Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen (DGfS) eine kurze Eröffnungsrede zu halten. Zunächst sah das für mich nicht besonders problematisch aus. Allerdings überfielen mich dann doch Zweifel, ob ich, als Westdeutscher, den richtigen Ton treffen kann. In der fast zweijährigen Vorbereitungsphase gab es immer wieder Situationen, in denen sich für mich zeigte, dass Begriffe eine »etwas andere« Bedeutung haben können – und ich wollte auf gar keinen Fall versehentlich jemandem auf die Füße treten. Eindrucksvoll wurde meine Vorsicht bestätigt, als ich in meinem Workshop auch das Element »Gemeinschaft« in einer prototypischen Aufstellung einsetzen wollte. Das führte zu einer längeren Diskussion darüber, wie hier »Gemeinschaft« gemeint sei – und ich lernte, dass im ostdeutschen Sprachgebrauch dieses Wort nicht so eindeutig ist, wie ich als Westdeutscher es verstehe.

Denn es gab – so habe ich das verstanden – eine »innere Gemeinschaft«, oft die Familie, in der man auch offen reden konnte, und eine als »Zwangsgemeinschaft« verstandene, von außen aufgesetzte »Gemeinschaft«. So erhöhte sich meine Unsicherheit, je näher der Termin rückte.

Zufällig stieß ich drei Wochen vor dem Termin auf eine Webseite, die sich unter anderem mit politischer Manipulation durch die Medien beschäftigte – Neudeutsch »fake-news« – mit einem Hinweis auf das Buch von Albrecht Müller: Glaube wenig. Hinterfrage alles. Denke selbst. Wie man Manipulationen durchschaut (Müller 2019). Und die dort enthaltenen Informationen haben mich zutiefst erschüttert.

Was wusste ich denn wirklich von der Wiedervereinigung? Es gab eine große Volksbewegung in der DDR, es gab »runde Tische«, es gab den zentralen Satz »Wir sind das Volk!«, aber in meiner Wahrnehmung war das zwar eine große Gruppe von Menschen, aber eben nur eine Gruppe und nicht das ganze Volk. So wurde uns das zumindest in den Medien präsentiert.

Es gab dann die Maueröffnung mit diesen beeindruckenden Bildern, es gab längere Verhandlungen, und es sah so aus, als würde die breite Masse der Bevölkerung der DDR für einen raschen Anschluss plädieren. Es hieß auf einmal »Wir sind EIN Volk!« und »Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr!«. Von westlicher Seite wurde dann statt einer Wiedervereinigung nach den Regeln des Grundgesetzes ein Anschluss nach Artikel 23 und 146 ins Gespräch gebracht mit der Begründung, dass es nur ein kleines Zeitfenster gebe und man die Gunst der Stunde nutzen müsse. Der Rest ist Geschichte.

Und was musste ich diesem Buch von Albrecht Müller entnehmen, das sich mit Medienmanipulationen beschäftigt? Für die CDU unter Helmut Kohl war die Idee, es könnte sich da ein zweiter deutscher Staat mit einer freiheitlichen, demokratischen Ordnung entwickeln, nicht akzeptabel. Es waren die Bild-Zeitung und die CDU-Geschäftsstelle, die zwei Tage nach dem Mauerfall daher den Satz »Wir sind DAS Volk« in »Wir sind EIN Volk« umdichtete. Es wurden 400 000 Aufkleber mit diesem Satz gedruckt und in das Gebiet der DDR gebracht, CDU-Mitglieder reihten sich in die noch stattfindenden Demonstrationen ein und trugen Schilder mit dem Satz »Wir sind ein Volk« – was wiederum von der Bild-Zeitung veröffentlicht wurde.

Der Satz »Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr!« stammt von Kohls Vizekanzleramtschef Horst Teltschik und wurde ebenfalls in den Osten gebracht, weil man dort den Eindruck erzeugen wollte, dass es die Bürger der DDR waren, die einen schnellen Anschluss wollten. Dem Publizisten Otto Köhler fiel zusätzlich auf, dass die Plakate mit diesen Texten nicht an den in der DDR üblichen Holzlatten befestigt waren, sondern an Bambusstangen, wie sie später auch in Kohls Wahlkämpfen in Dresden verwendet wurden.

Da bekam ich einen ersten Eindruck, wie wir alle betrogen wurden: Die Menschen im Osten wurden manipuliert und wir im Westen mit diesen Lügen sozusagen ruhiggestellt. Das ganze Ausmaß wurde mir aber erst vor Augen geführt in einem Workshop von Mechthild Reinhard, die mit ihrer Familie angereist kam.

Die Familie hatte während dieser Umbruchszeit in Dessau gelebt und war sehr stark beim »runden Tisch« engagiert gewesen. Sie brachte Material, Fotos, Dokumente, Flugblätter aus jener Zeit mit – und der Bruder von Mechthild Reinhard berichtete, dass in Dessau, einer Stadt mit 103 000 Einwohnern und Einwohnerinnen, 70 000 Menschen auf die Straße gegangen waren, um für eine neue, andere DDR zu demonstrieren – nicht für eine Wiedervereinigung! Also das war das Volk und nicht eine elitäre Minderheit, die eine eigene, bessere DDR wollte. Ihm kamen die Tränen dafür, dass der Westen diese einmalige Gelegenheit, in einer Bewegung von unten einen neuen, demokratischen Staat aufzubauen, mutwillig zerstört habe.

Ich wusste nicht, was mich mehr betroffen macht: Die Tatsache, wie den Menschen im Osten mitgespielt wurde; wie wir im Westen manipuliert wurden; oder die verpassten Chancen, die sich hier eröffnet haben. Und irgendwie fühlte ich mich als Westdeutscher mitschuldig.

Das Thema hat mich weiter beschäftigt. Ich habe noch ein wenig recherchiert darüber, wie vielen Menschen ihr Beruf weggenommen wurde, indem Berufsabschlüsse nicht nur nicht anerkannt, sondern schlicht gestrichen wurden – und die damit vor dem Nichts standen.

Die Veranstaltung hat mich tief bewegt, in den »Kamingesprächen« am Freitagabend wurden Einzelschicksale lebendig, und da gab es viel Neues, Trauriges, aber auch Mutmachendes zu hören, zu dem ich sonst keinen Zugang gehabt hätte. Eigentlich kommt vieles 30 Jahre zu spät – aber vielleicht brauchte es 30 Jahre, damit alles endlich auf den Tisch kommt. Und erst nach dieser Veranstaltung ist mir der Schwindel aufgefallen, dass immer die »Jahrestage der Wiedervereinigung« gefeiert werden, obwohl es ein Anschluss, eine Einverleibung war. Vielleicht sollte man da beginnen …

Literatur

Müller, A. (2019): Glaube wenig. Hinterfrage alles. Denke selbst. Wie man Manipulation durchschaut. Frankfurt a. M. (Westend).

Vom Träumen und Aufwachen

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